Rigide Ausgangsbeschränkungen in Bayern oder die Impfpflicht für Soldaten: Das Thema Corona hielt das BVerwG auch 2022 auf Trab. Für das meiste Aufsehen sorgte jedoch eine Entscheidung zum Tindern einer Transgender-Offizierin.
Corona-Ausgangssperre in Bayern unverhältnismäßig
2022 befasste sich das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erstmals mit der Rechtmäßigkeit von Corona-Regeln aus der Anfangszeit der Pandemie. Dabei erwiesen sich die Regelungen der Bayerischen Corona-Schutzverordnung vom 27. März 2020 über das Verlassen der eigenen Wohnung als unverhältnismäßig. (Urt. v. 22.11.2022, Az. 3 CN 2.21).
Nach der Verordnung war das Verlassen der eigenen Wohnung in dieser frühen Phase der Pandemie nur noch aus triftigen Gründen erlaubt. Triftige Gründe waren z.B. Sport und Bewegung an der frischen Luft – allerdings ausschließlich allein oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes.
Einfach nur so nach draußen gehen, das war also nicht mehr erlaubt – auch nicht allein. Dem BVerwG ging das zu weit. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern derartige Maßnahmen für die Hemmung der Virusübertragung erforderlich und damit im Sinne von § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes in der damaligen Fassung notwendig gewesen seien, befanden die Richter:innen.
Als mildere Maßnahmen seien zudem anderweitige Beschränkungen des Kontakts in Betracht gekommen, mit denen das Verweilen im Freien allein oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes nicht untersagt worden wäre. Sie hätten die Bürger:innen im Freistaat weniger belastet als die angegriffene Ausgangsbeschränkung. Schließlich habe die bayerische Landesregierung nicht plausibel begründet, warum ein Verhalten, das für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, der Ausgangssperre unterworfen werden müsste.
Corona-Impfpflicht für Soldaten rechtens
Für Soldat:innen ist eine Corona-Impfung seit November 2021 verpflichtend. Zwei Offiziere weigern sich jedoch und gingen gegen die sogenannte Duldungspflicht vor. Im Juli 2022 scheiterten sie vor dem BVerwG. Dieses entschied: Die Impfpflicht für Soldat:innen gegen das Coronavirus ist rechtens (Beschl. v. 07.07.2022, Az. 1WB 2.22, 1 WB 5.22).
Nach einer Allgemeinen Regelung des Bundesverteidigungsministeriums vom 24. November 2021 war die Schutzimpfung gegen das Coronavirus in die Liste der für alle aktiven Soldat:innen verbindlichen Basisimpfungen aufgenommen worden. Zwei Luftwaffenoffiziere wollten das nicht akzeptieren. Die Impfung mit der von der Bundeswehr verwendeten mRNA-Impfstoffe sei rechtswidrig, meinten sie. Die Risiken stünden außer Verhältnis zum Nutzen.
Das BVerwG sah das jedoch anders: Der Gesetzgeber habe die Reichweite des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit der Soldat:innen hinreichend klar bestimmt und auf das Zumutbare beschränkt. Insbesondere durfte er laut Gericht auch die Wahl des Impfstoffs dem Dienstherrn überlassen, um eine flexible und schnelle Entscheidungsfindung beim Auftreten neuer Krankheitserreger oder beim Bekanntwerden neuer Nebenwirkungen zu ermöglichen.
Außerdem habe zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Duldungspflicht die damals vorherrschende Delta-Variante eine erhebliche Gefährlichkeit aufgewiesen, so das BVerwG. Das Leipziger Gericht bezog sich dabei auch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das in seiner Entscheidung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht von einer erheblichen Reduzierung der Infektionsgefahr durch die Impfung ausgegangen war.
Zu einer gänzlich anderen Auffassung als das BVerwG kam Ende September der Vorsitzende Richter der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd (Erfurt) Pfeiffer (AZ S 5 BLc 11/22). Als Einzelrichter des unter anderem für Beschwerden gegen Disziplinarmaßnahmen zuständigen Wehrdienstgerichts erster Instanz (Art. 96 Abs. 4 GG) setzte er die Vollstreckung einer gegen einen Mannschaftssoldaten verhängten Disziplinarbuße vorläufig aus, die dieser wegen Verweigerung des Befehls seiner Kompaniechefin, die COVID-19-Impfung zu dulden, verhängt bekommen hatte.
Auch Pause kann Arbeit sein
Ein Polizist, der in seiner Pause ständig damit rechnen muss, zum nächsten Einsatz gerufen zu werden, kann sich nicht richtig entspannen. Dafür muss er dann auch einen Freizeitausgleich bekommen, entschied das BVerwG im Oktober (Urt. v. 13.10.2022, Az. 2 C 24.21).
Ein Bundespolizist hatte die Anrechnung von Pausenzeiten in "Bereithaltung“ auf die Arbeitszeit im Umfang von 1.020 Minuten beansprucht. Eine einzelne Pause war jeweils zwischen 30 und 45 Minuten lang.
Die Vorinstanzen hatten dem Polizisten nur die Hälfte der geforderten Zeit zugesprochen, weil in diesen Zeitenabschnitten der Charakter von Arbeitszeit überwogen habe. Das BVerwG gestand ihm indes noch mehr zu. Sein Anspruch entstehe aus dem beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruch wegen Zuvielarbeit, so das BVerwG. Klar sei für das Gericht, dass es sich bei den meisten Pausen des Polizisten nicht um Ruhezeiten, sondern um Arbeitszeit handelte.
Für die Abgrenzung sei maßgeblich, ob man in der Pausenzeit vollumfänglich entspannen könne und sich Tätigkeiten nach eigener Wahl widmen könne. Das könne der Polizeibeamte jedenfalls nicht, wenn er während seiner Pausenzeit ständig bereit sein müsse, den Dienst sofort wieder aufzunehmen, erklärte das BVerwG. In diesem Fall seien die Pausenzeiten als Arbeitszeit zu qualifizieren.
Auf den Umfang der tatsächlichen dienstlichen Inanspruchnahme komme es nicht an. Allerdings genüge die Verpflichtung zum Tragen von Einsatzkleidung sowie zum Mitführen von Dienstwaffe und Dienstfahrzeug allein jedoch nicht, um eine Arbeitszeit anzunehmen.
Transgender-Soldatin soll zurückhaltender tindern
Für Aufsehen sorgte ein Beschluss des BVerwG im Mai. Nach Vorstellung des 2. Wehrdienstsenates muss sich Anastasia Biefang, eine Transgender-Kommandeurin der Bundeswehr, auf einem Dating-Portal im Internet zurückhaltender äußern (Beschl v. 25.05.2022, Az. 2 WRB 2.21).
Gegenstand des Verfahrens war der Auftritt der Bataillonskommandeurin auf dem semiöffentlichen, nur registrierten Nutzern zugänglichen Dating-Portal Tinder. Die weit über die Truppe hinaus bekannte Biefang, mit deren Diversitätsengagement sich auch die Bundeswehr ansonsten gerne schmückt, präsentierte sich dort privat laut BVerwG "in sitzender Pose mit erkennbaren Gesichtszügen und unter Verwendung ihres tatsächlichen Vornamens". Unter ihrem Profilbild hieß es: "Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome."
Nachdem dieser Sachverhalt aus dem dienstlichen Umfeld von Anastasia Biefang ihrem Disziplinarvorgesetzten angezeigt wurde, verhängte dieser gegen sie die mildeste Disziplinarmaßnahme, einen einfachen Verweis.
Im Ergebnis sei diese Entscheidung richtig, entschied das BVerwG: Denn die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verlange, dass eine Soldatin in der besonders hervorgehobenen dienstlichen Stellung bei der Wahl der verwendeten Worte und Bilder im Internet Rücksicht auf ihre berufliche Stellung nehme. Sie müsse daher Formulierungen vermeiden, die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens hervorriefen. Die Worte "offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome" erweckten, so das Gericht, Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität. Ein Verweis als mildeste Disziplinarmaßahme sei nicht zu beanstanden.
Die Entscheidung des BVerwG sorgte für viel Kritik und Empörung. Oberstleutnant i. G. Anastasia Biefang legte gegen den Beschluss inzwischen Verfassungsbeschwerde ein.
Protestcamps von Versammlungsfreiheit geschützt
Sogenannte Protestcamps können der Versammlungsfreiheit unterfallen, urteilte das BVerwG im Mai (Urt. v. 24.05.2022, Az. 6 C 9.20). Voraussetzung ist allerdings ein Bezug der Camps zur Meinungskundgabe der Versammlung oder ihre logistische Notwendigkeit.
Anlass der Entscheidung war das "Klimacamp 2017" im Rheinland. Die Veranstalterin hatte das Camp für die Dauer von elf Tagen als öffentliche Versammlung unter freiem Himmel angemeldet. Das Polizeipräsidium hatte der Veranstalterin daraufhin Versammlungsflächen zugewiesen. Die Veranstalterin hatte nach Beginn weitere Flächen als Versammlungsfläche haben wollen, um Platz für Zelte und Unterbringungsmöglichkeiten für die Teilnehmer:innen zu bekommen. Das aber hatte das Präsidium mit der Begründung abgelehnt, dass ein als Übernachtungsfläche mit Zelten und Sanitäreinrichtungen genutztes Feld vom Anwendungsbereich des Art. 8 Grundgesetz (GG) und des Bundesversammlungsgesetzes ausgenommen sei. Das Verwaltungsgericht Aachen hatte – nach Klage der Veranstalterin –dieser Ansicht in erster Instanz noch zugestimmt. Auf die Berufung der Veranstalterin hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster allerdings der Veranstalterin recht gegeben.
So sah es auch das BVerwG: "Das "Klimacamp 2017" im Rheinland war eine durch Art. 8 GG geschützte Versammlung", entschied das Gericht. Wie auch schon das OVG zuvor festgestellt hatte, hätte das Klimacamp ohne die entsprechenden Infrastruktureinrichtungen nicht stattfinden können. Die Veranstaltungsfläche sowie die 800 Meter entfernte Übernachtungsflächen seien eine räumliche Einheit.
Keine Alleingänge der Länder bei Aufnahme von Flüchtlingen
Dürfen die Länder eigenmächtig aus humanitären Gründen Flüchtlinge aufnehmen? 2020 stritt der Berliner Senat mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) über 300 Menschen aus dem griechischen Lager Moria – das BVerwG traf im März eine Grundsatzentscheidung (Urt.v. 15.03.2022, az. 1 A 1.21) und beantwortete die Frage mit "Nein".
Die Bilder aus Moria gingen damals um die Welt, das Lager auf der griechischen Insel Lesbos, ursprünglich für 3.000 Menschen gedacht, war völlig überfüllt. Im Frühjahr 2020 lebten dort schätzungsweise 20.000 Menschen, die Bedingungen waren katastrophal. Im September 2020 brannte das Lager, die Situation spitzte sich noch mehr zu. Das Land Berlin wollte die Menschen aufnehmen, das BMI zeigte jedoch die "Rote Karte".
Grundsätzlich können die Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen einer bestimmten Gruppe von Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Allerdings muss das BMI "zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit" dazu sein Einvernehmen erteilen.
Im konkreten Fall war die Versagung des Einvernehmens durch das BMI laut BVerwG rechtmäßig. Das AufenthG eröffne der obersten Landesbehörde mit der Befugnis zur gruppenbezogenen Aufnahme von Ausländer:innen aus humanitären Gründen ein weites politisches Ermessen.
Dass es allerdings durchaus möglich ist, Flüchtlinge aus humanitären Gründen aufzunehmen und die Kapazitäten größer sind als gedacht, zeigte sich im März 2022 in der Hilfsbereitschaft von Bund, Ländern und EU bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine.
Staat nicht Gehilfe des Insolvenzverwalters
Ein Insolvenzverwalter hat gegen das Finanzamt keinen Informationsanspruch, um die steuerlichen Verhältnisse eines Schuldners in Erfahrung bringen zu können, entschied das BVerwG im Februar 2022 (Urt. v. 25.02.2022, Az. 10 C 4.20 und 10 C 7.21).
Auf Grundlage des nordrhein-westfälischen Informationsfreiheitsgesetzes hatte ein Insolvenzverwalter vom Finanzamt steuerliche Auskünfte begehrt. Konkret ging es um die Prüfung von Insolvenzanfechtungsansprüchen bei zwei insolventen Gesellschaften. Das Finanzamt hatte einen entsprechenden Anspruch aufgrund des Steuergeheimnisses abgelehnt. Vor dem VG Köln sowie vor dem OVG Münster war der Insolvenzverwalter dagegen erfolgreich vorgegangen, beide Gerichte sahen keine Verletzung des Steuergeheimnisses.
Allerdings: Während des (Revisions-)Verfahrens war mit dem Inkrafttreten der unionsrechtlichen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) auch die Abgabenordnung (AO) geändert worden. Aus den Änderungen ergeben sich auch entsprechende Ausschlussgründe für dem Grunde nach bestehende Informationsansprüche.
Die Finanzbehörden seien, so das BVerwG in seinem Urteil, nunmehr neben zivilrechtlichen Auskunftsansprüchen nicht mehr solchen Informationsansprüchen ausgesetzt, die sich aus dem Recht der Informationsfreiheit oder dem europäischen Datenschutz ergeben. Letzteres gilt insbesondere für natürliche Personen, also auch im Fall des Insolvenzverwalters.
Aufgrund der unionsrechtlichen Implikationen hatte das BVerwG die Sache zunächst dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt. Dieser hatte sich allerdings für nicht zuständig erklärt, da es nicht um Auskünfte zu juristischen Personen gehe.
Sollte man kennen: Sieben wichtige BVerwG-Entscheidungen aus 2022 . In: Legal Tribune Online, 29.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50593/ (abgerufen am: 11.12.2023 )
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