Für Räte und Kreistage darf es in NRW keine Sperrklausel geben. Die entsprechende Änderung der Landesverfassung war rechtswidrig, entschied der VerfGH NRW. Das Urteil ist in vielerlei Hinsicht spektakulär, erklärt Robert Hotstegs.
LTO: Herr Hotstegs, Sie waren in dem Verfahren vor dem nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof (VerfGH) Vertreter der "Freie Bürger–Initiative/Freie Wählergemeinschaft". Worum ging es in dem Fall?
Robert Hotstegs: Die rot-grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat 2016 mit den Stimmen der CDU-Opposition eine Sperrklausel bei Kommunalwahlen eingeführt. Damit sollten Parteien und Wählervereinigungen mindestens 2,5 Prozent der Stimmen holen müssen, um in die Räte und Kreistage einziehen zu können. Dafür wurde extra Art. 78 Abs. 1 der Landesverfassung (LVerf NRW) geändert.
LTO: Und die kleineren Parteien waren selbstredend nicht begeistert von der Änderung und haben Klage erhoben.
Hotstegs: Genau. Das ist auch der erste, fast absurd anmutende Aspekt in dem Verfahren: Geklagt haben insgesamt acht Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum, darunter die Linke und die NPD. Dass diese Gruppierungen plötzlich Seite an Seite streiten, ist paradox und war durchaus interessant zu beobachten.
Ursprünglich gab es übrigens noch zwei weitere Antragsteller, die Wählervereinigung "Sauerländer Bürgerliste" und die Partei Volksabstimmung. Deren Klagen wurden aber als unzulässig abgewiesen, einmal wegen Verfristung und im Fall der Sauerländer, weil sie eine Wählervereinigung und keine Partei iSd Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sind und damit kein Organstreitverfahren nach Art. 75 Nr. 2 LVerf NRW führen können (Anm. der Red.: VerfGH, Beschl. v. 27.06.2017, Az. 13/16 u. 14/16). Die sind aber nicht rechtsschutzlos, sondern wurden auf die nachträgliche Wahlanfechtung und den Instanzenzug verwiesen.
Die anderen Verfahren hat der VerfGH zur gemeinsamen Verhandlung verbunden, da sich die Anträge der Parteien lediglich in einem Punkt unterschieden.
LTO: In Hinblick auf welchen Aspekt gibt es Unterschiede?
Hotstegs: Alle haben beantragt, die Sperrklausel für Räte und Kreistage für verfassungswidrig zu erklären. Meine Mandantin und Die Linke wollten dies auch für die Bezirksvertretungen und den Regionalverband Ruhr (RVR), es sollte also die gesamte Verfassungsänderung gekippt werden.
Sperrklausel verfassungswidrig
LTO: Nun hat der VerfGH nun seine Entscheidung verkündet. Wie ist es ausgegangen?
Hotstegs: Ganz anders, als ich noch im vergangenen Jahr prognostiziert hatte. Der VerfGH hat die Sperrklausel für Räte und Kreistage tatsächlich für verfassungswidrig erklärt (Urt. v. 21.11.2017, Az. 9, 11, 15, 16, 17, 18, 21/16).
LTO: Warum überrascht Sie das so? Sperrklauseln sind doch immer wieder kassiert worden. Nur bei der Bundestagswahl ist die Sperrklausel von fünf Prozent gerade noch verfassungsgemäß.
Hotstegs: Ja, für das Europarecht wurde erst die Fünf-Prozent-Klausel und dann die Drei-Prozent-Klausel für verfassungswidrig erklärt.
Doch im Kommunalwahlrecht gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Städte und Kreise in den Flächenstaaten wie NRW – in den echten Stadtstaaten wie Hamburg und Berlin ist das anders, das lassen wir mal außen vor – müssen ja keine Regierung wählen und stellen auch kein echtes Parlament mit Regierungsfraktion und Opposition dar.
Der Stadtrat ist vielmehr Teil der kommunalen Selbstverwaltung und trifft oft Entscheidungen, die der Verwaltung zuzuordnen sind. Im juristischen Sinn ist ein Rat daher tatsächlich auch gar kein Parlament, sondern Teil der Verwaltung. Daher kommt es im Rat auch nicht so sehr darauf an, dass es eine Regierungsmehrheit gibt. Erst recht seitdem der Bürgermeister in NRW direkt gewählt wird, sind hier durchaus bunte Mischungen möglich.
Die Befürworter einer Sperrklausel argumentieren hingegen mit dem Schreckgespenst der Handlungsunfähigkeit des Gremiums: Einzelne Mandatsträger und kleinen Fraktionen und Gruppen könnten absurde und wenig zielführende Anträgen stellen, so dass die Arbeit des Rates faktisch lahmgelegt werden könne. Meiner Ansicht nach ist so etwas allerdings über die Geschäftsordnungen zu regeln. Beispielsweise können Anträge auf geheime und namentliche Abstimmung eine Sitzung nur dann unangemessen in die Länge ziehen, wenn keine Wahlkabine und keine Stimmzettel vorbereitet sind. So etwas lässt sich mit vorausschauender Planung recht einfach vermeiden. Jedenfalls sollte sich ein Ratsvorsitzender nicht mehrfach durch derartige Spielchen austricksen lassen.
2/2: "Guter Stoff für Klausuren und Hausarbeiten"
LTO: Gut, das sind also die Argumente. Aber dass der VerfGH die Einführung einer Sperrklausel für problematisch hält, dürfte doch von Ihnen erwartet worden sein.
Hotstegs: Nun, das Ergebnis war jedenfalls das Ziel meiner Mandantin. Dass der Weg aber so schnell zu bestreiten war und der VerfGH diese Entscheidung selbst getroffen hat, das ist juristisch schon etwas ganz Besonderes. Ich erkläre Ihnen auch warum:
Der Gerichtshof muss auf die Verfassung des Landes aufpassen. Das muss er, das nur am Rande, übrigens recht selten, er kommt mit Mühe auf zwanzig, manchmal dreißig Verfahren im Jahr. Seine Mitglieder sind daher auch nicht hauptberuflich nur diesem Gericht zugeordnet, sondern sie stammen aus dem Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster wie etwa die gemeinsame Präsidentin oder aus den Verwaltungsgerichten, dem Bundesgerichtshof oder aus Lehre und Praxis.
Juristisch wird es nun an zwei Aspekten hochspannend und gäbe guten Stoff für Klausuren und Hausarbeiten: Der Landtag hat zum einen die Verfassung geändert, also haben wir eine neue Verfassung. Stellt sich die Frage: Kann es überhaupt eine rechtswidrige Verfassung geben, die der VerfGH überprüfen kann? Man kann durchaus argumentierten, es gebe mit dem Beschluss im Landtag eine Verfassung, die sich der Überprüfung durch den VerfGH entzieht. Wäre das Gericht dieser Ansicht gefolgt, hätten wir den Weg über den Instanzenzug notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gehen müssen. Diesen langen Weg hat der VerfGH uns jetzt erspart.
Und dann gibt es schließlich die Ewigkeitsgarantie: Wie auf Bundesebene in Art. 79 GG gibt es diese gem. Art. 69 Abs. 1 S. 2 LVerf NRW auch auf Landesebene. Die Frage war also, ob das Kommunalwahlrecht eine Regelung ist, an der nicht gerüttelt werden darf. Der VerfGH hatte schon in der mündlichen Verhandlung dazu tendiert anzunehmen, dass das Wahlrecht und seine Garantien unter die Ewigkeitsgarantie fällt - und hat nun auch entsprechend entschieden. Die Landesregierung, vertreten von Prof. Dr. Lothar Michael von der Uni Düsseldorf hat das natürlich anders gesehen.
Umgehung des VerfGH gescheitert
LTO: Wie hat der Gerichtshof jetzt genau entschieden?
Hotstegs: Der VerfGH hat festgestellt, dass der Landtag seinerzeit verfassungswidriges Verfassungsrecht beschlossen und geschaffen hat und hierdurch die Antragsteller in ihren Rechten verletzt hat. Das ist ein Novum.
Der Landtag ist auch nicht mit seinem Taschenspielertrick durchgekommen, mit der Einführung der Regelung unmittelbar in die Landesverfassung das Landes- und das Bundesverfassungsgericht zu umgehen. Mit dieser Lösung womöglich gegen Art. 28 GG zu verstoßen, war dem Landtag bekannt und bewusst.
LTO: Dann haben Sie aber doch weitgehend das erreicht, was sie wollten?
Hotstegs: Absolut, und zwar viel schneller als erwartet. Das Thema Sperrklausel in Flächenstaaten dürfte damit nun vom Tisch sein. Denn über den Organstreit entscheidet der VerfGH abschließend, erst- und letztinstanzlich. Jetzt liegt der Ball wieder beim Landtag. Er kann entscheiden, ob er auf anderem Wege eine Sperrklausel begründen und schaffen will. Ich würde es ihm nicht raten. Insbesondere seitdem wir seit Sonntag beobachten, dass auch Fraktionen, die weit mehr als 2,5 Prozent der Stimmen erhalten haben, stabile Mehrheiten ins Wanken bringen können. Vor der Regierungskrise im Bund konnte uns auch die Sperrklausel nicht bewahren. Vor Ort in den Städten und Gemeinden gab es schon keine Krise. Warum dann also eine Sperrklausel?
Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf. Er ist parteilos und berät und vertritt vor allem Einzelpersonen und Bürgerinitiativen u.a. zu kommunalverfassungs- und verfassungsrechtlichen Fragen. Er ist Lehrbeauftragter der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW.
Prozessbevollmächtigte:
Landtag NRW: Prof. Dr. Lothar Michael, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Landesverband Nordrhein-Westfalen der NPD: Peter Richter
Landesverband Nordrhein-Westfalen der Piratenpartei: Prof. Dr. Bodo Pieroth, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Landesverband Nordrhein-Westfalen der Partei Die Linke: Prof. Andreas Fisahn, Universität Bielefeld
Landesverband Nordrhein-Westfalen der Partei: Dr. Alexandra Bäcker, Kanzlei Steffen & Dr. Bäcker
Landesverband Nordrhein-Westfalen der ÖDP: Dr. Marcus Schiller, HüttenbrinkPartner Rechtsanwälte
Landesverband Nordrhein-Westfalen der Tierschutzpartei: Dr. Marcus Schiller, HüttenbrinkPartner
Bürgerbewegung PRO NRW: Markus Beisicht, Beisicht & Dr. Schlaeper
Partei Freie Bürger-Initiative/Freie Wählergemeinschaft: Robert Hotstegs, Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft
Tanja Podolski, VerfGH NRW zur Sperrklausel: Die Rettung des Wahlrechts . In: Legal Tribune Online, 21.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25619/ (abgerufen am: 03.06.2023 )
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