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50113

Triage-Gesetz: Nie­mand wird geop­fert

Gastkommentar von Tjaberich F. Kramer (LL.B., M.A.)

09.11.2022

Das Bild zeigt eine Intensivstation mit Geräten zur Patient Überwachung und medizinischem Personal, das sich um Patienten kümmert.

Wie regelt man den Zugang zu Beatmungsplätzen, wenn sie nicht mehr für alle reichen? Diese Frage hat spätestens mit der Corona-Pandemie hohe Relevanz bekommen. Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow 

Der Bundestag wird die Änderung des Infektionsschutzgesetzes ohne die Ex-Post-Triage beschließen - nach heftiger Kritik. Gut so, meint Tjaberich F. Kramer. Ein Plädoyer für Gleichheit und Fairness in der Pandemie.

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Die Frage, wie knappe medizinische Ressourcen im Fall eines Massenanfalls von Patienten zu verteilen sind, hat in der Corona-Pandemie bedrückende Relevanz gewonnen. Überall auf der Welt stellte sich plötzlich die Frage: Wie regelt man den Zugang zu Beatmungsplätzen, wenn sie nicht mehr für alle lebensbedrohlich Erkrankten ausreichen, und wie soll man darüber entscheiden, welche Patienten sterben müssen, weil man aus Kapazitätsgründen nicht alle retten kann?

Das Bundeskabinett hat am 24. August dieses Jahres den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, mit dem die Triage nun endlich geregelt werden soll. Gibt es aufgrund einer übertragbaren Krankheit keine ausreichenden intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten, ist die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit demnach das maßgebliche Kriterium für die Zuteilungsentscheidung. Am Donnerstag wird im Bundestag die Änderung beraten und wohl auch gleich beschlossen. 

Die viel kritisierte Ex-Post-Triage wurde aus dem Gesetzesentwurf gestrichen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bezeichnete sie als "ethisch nicht vertretbar und weder Ärzten, Patienten noch Angehörigen zumutbar". Deshalb werde sie auch nicht erlaubt. 

Ex-Post-Triage: Ein Patient stirbt für den anderen

Eine sog. Ex-Post-Triage liegt vor, wenn eine bei Patient A begonnene medizinische Versorgung zugunsten eines neu eintreffenden Patienten B abgebrochen wird, um Patient B mithilfe der begrenzten Versorgungsressource zu retten, da er die besseren kurzfristigen Überlebenschancen aufweist. Drastisch ausgedrückt, verstirbt Patient A aufgrund des Behandlungsabbruchs zugunsten der Versorgung des Patienten B. 

Im Ausgangspunkt dürfte Einigkeit dahingehend bestehen, dass jeder behandlungsbedürftige Patient einen Anspruch auf Teilhabe an den vorhandenen medizinischen Ressourcen hat – ganz unabhängig davon, ob bereits eine Behandlung aufgenommen wurde oder nicht. Im Beispielsfall wurde einem an Covid-19 erkrankten Patienten eine Behandlung zuteil. Trifft nunmehr ein ebenso behandlungsbedürftiger Patient ein und bedarf er, um zu überleben, der Versorgungsressource des in Behandlung befindlichen Patienten, so entsteht ein Konkurrenzverhältnis zwischen beiden. Dass das medizinische Personal sich in derartigen Situationen in einem extremen Dilemma befindet, steht außer Frage. 

Warum aber stößt der Gedanke, einem bereits in Behandlung befindlichen Pateinten eine medizinische Ressource zur Rettung eines anderen Patienten zu entziehen, auf so intensive Bedenken? 

Vertrauen auf Rettung geht vor

Der bereits behandelte Patient vertraut auf den Bestand seiner erworbenen Rechtsposition, wenn seinem Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an der knappen medizinischen Versorgung nachgekommen wurde. Er hat ein schutzwürdiges Vertrauen am Erhalt seiner Versorgung. Anders gewendet müsste ein behandelter Patient bei Zulässigkeit der Ex-Post-Triage jederzeit um seine weitere Versorgung fürchten.  

Hinzu kommt, dass Patienten stets gezwungen wären, nach möglichweise in Zukunft freiwerdenden Versorgungskapazitäten Ausschau zu halten, um einem möglichen (tödlichen) Behandlungsabbruch zu entgehen. Die vielen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten liegen auf der Hand.  Selbst wenn die Klinik verpflichtet wäre Patienten frühzeitig zu verlegen, würde diese Pflicht angesichts der dynamischen Pandemieentwicklung und der schwer vorhersehbaren Anzahl an Patienten die Möglichkeit einer Ex-Post-Triage nicht beseitigen. 

Nun ließe sich anführen, dass der neu eintreffende behandlungsbedürftige Patient ebenso einen Anspruch auf Teilhabe an medizinischer Versorgung hat, wie der bereits versorgte. Daher sei es nicht einzusehen, warum im Rahmen einer Auswahlentscheidung über Behandlung und Nichtbehandlung der bereits versorgte Patient außer Acht zu lassen sei. Der wesentliche und entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass sich die Rechtsposition des bereits behandelten Patienten nicht mehr nur in der Teilhabe an den medizinischen Ressourcen erschöpft. Vielmehr hat sich die Teilhabe durch die aufgenommene Versorgung zu einer Rettung verdichtet. Eine Rettung und Zusage derart, dass durch die Zuteilung der Behandlungsressource der Versuch unternommen wird, den Patienten auch bei geringen Überlebenschancen vor dem Tod zu bewahren. Würden sich die Ansprüche des bereits behandelten und des eintreffenden Patienten gleichermaßen lediglich in der Teilhabe an medizinischer Versorgung erschöpfen, würde der mit der begonnenen Versorgung eröffnete Versuch, die gewährte Überlebenschance, negiert. Die durch Behandlung eröffnete Überlebenschance verkäme zu einer zeitlich befristeten leeren Hülle.  

Behandlung müsste im Zweifel zwangsweise abgebrochen werden 

Zudem muss die Ex-Post-Triage auch ganz grundsätzlich infrage gestellt werden, da es bei ihrer Anwendung um nicht weniger als die menschliche Existenz selbst geht. Unsere Verfassung verbürgt in Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die sogenannte Lebenswertindifferenz. Danach genießen menschliche Leben ohne Rücksicht auf ihre Dauer den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz und sind keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder zahlenmäßigen Abwägung unterworfen.  So entschied das Bundesverfassungsgericht 1975 in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch sowie im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz 2006. Übertragen auf den Beispielsfall drängt sich die Frage auf, warum der bereits behandelte Patient A einen Eingriff in sein verfassungsrechtlich geschütztes Lebensrecht zur Rettung des Patienten B dulden sollte. Es fällt schwer, eine in jeglicher Hinsicht überzeugende Begründung dafür zu finden, warum das Lebensrecht des Patienten B dem des Patienten A vorzuziehen sein sollte. Doch eben dies bringt die Ex-Post-Triage ganz deutlich zum Ausdruck, wenn auch mit dem anerkennenswerten Ziel, möglichst vielen Menschen oder auch nur einem Menschen mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit eine benötigte medizinische Versorgung zuteil werden zu lassen. 

Das Gesagte knüpft gleichzeitig an einer weiteren damit im Zusammenhang stehenden Frage existenzieller Natur an. Denn erkennt man die Zulässigkeit der Ex-Post-Triage im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes an, so wird erwartet, dass sich ein in Behandlung befindlicher Patient zugunsten eines neu hinzukommenden Patienten aufgrund dessen höherer Überlebenswahrscheinlichkeit solidarisch aufopfert. Hinzu kommt, dass eine Normativierung in Form einer gesetzlichen Grundlage der Ex-Post-Triage im Infektionsschutzgesetz im Zweifel auch zwangsweise durchgesetzt werden müsste. Denn es taucht unweigerlich die Frage auf, wie verfahren werden soll, wenn der bereits behandelte Patient in nachvollziehbarer Weise gerade nicht den Entzug seiner medizinischen Versorgung zugunsten eines anderen solidarisch duldet. Das Bild einer zwangsweisen Durchsetzung des Behandlungsabbruchs erscheint unvorstellbar.  

Behandlungschancen sind kaum vorherzusagen

Die vorgenannten Aspekte werden zusätzlich dadurch verschärft, dass es von zukunftsbasierten medizinischen Prognosen und damit vielen Zufällig- und Unwägbarkeiten abhängig ist, ob eine im Zuge der Ex-Post-Triage zugunsten des neu behandelten Patienten entzogene Behandlungsressource überhaupt zu dessen Überleben führt. Zudem ist es nicht möglich, überhaupt vorherzusagen, ob das medizinische Versorgungsgut tatsächlich zur Rettung mehrerer Menschen beiträgt, selbst wenn man unterstellt, dass es alsbald nach der Versorgung des durch die Anwendung der Ex-Post-Triage bevorzugten Patienten wieder frei zur Verfügung steht. 

Abschließend sollte von niemandem die solidarische Aufopferung bzw. Aufgabe seines Lebens zugunsten eines anderen Lebens verlangt oder gar gesetzlich erzwungen werden. Die staatlich legitimierte Aufgabe eines Menschenlebens zugunsten eines anderen Menschen vermittelt die irreführende Annahme entgegen der verfassungsrechtlichen Basisgleichheit aller Menschen, dass das Leben des Geretteten in irgendeiner Weise erhaltungswürdiger oder einfach mehr wert sei als das aufgegebene Leben. Das kann nicht mit unserer Verfassung in Einklang stehen. 

Tjaberich F. Kramer, LL.B., M.A. ist Rechtsreferendar im Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg und Doktorrand an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. In seiner Dissertation befasst er sich mit den straf- und verfassungsrechtlichen Herausforderungen der Triage anhand der Covid-19-Pandemie.

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Triage-Gesetz: . In: Legal Tribune Online, 09.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50113 (abgerufen am: 23.05.2025 )

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