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EuGH verhandelt über Flüchtlingsverteilung in Europa: Kommen Polen, Tsche­chien und Ungarn damit durch?

von Dr. Constantin Hruschka

14.05.2019

Flüchtlinge in der EU (Symbol)

(c) Jonathan Stutz - stock.adobe.com

Können EU-Mitgliedstaaten Beschlüsse aussitzen, indem sie diese stumpf nicht umsetzen? Das klärt der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren gegen drei Oststaaten wegen der Flüchtlingsverteilung, erklärt Constantin Hruschka.

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Der Streit zwischen Polen, der Tschechischen Republik sowie Ungarn und der Europäischen Union (EU) und der EU-Kommission über die Flüchtlingspolitik wird am Mittwoch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt. Die Kommission hat diese EU-Mitgliedstaaten verklagt und macht geltend, sie hätten durch die Nichtumsetzung der so genannten Relocation-Beschlüsse ihre Verpflichtungen aus europäischen Verträgen verletzt. Nach diesen Vereinbarungen der EU-Mitgliedstaaten vom 14. und 22. September 2015 sollten insgesamt 160.000 Asylsuchende aus Griechenland und Italien in andere Länder umgesiedelt werden, um den beiden Ländern bei der Bewältigung der hohen Anzahl von schutzsuchenden Personen zu helfen.

Die Beschlüsse wurden gem. Art. 78 Abs. 3 AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vom Rat der Europäischen Union*, also den Regierungen der Mitgliedsländer, auf Vorschlag der EU- nach Anhörung des Parlaments außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens als Hilfe in einer Notlage gefasst. Die Beschlüsse waren auf zwei Jahre befristet und damit als vorläufige Maßnahmen geplant. Sie sahen zur Umsetzung der obligatorischen Umverteilung unter anderem vor, dass die Mitglieder alle drei Monate eine angemessene Zahl kurzfristig verfügbarer Plätze im jeweiligen Aufnahmeland bekanntgeben. Die Frist für den zweiten Beschluss endete am 26. September 2017.

EuGH Entscheidung änderte gar nichts

Rumänien, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn hatten im Rat gegen die Beschlüsse gestimmt. Eine Klage der Slowakei und Ungarns wies der EuGH ab (Urt. v. 06.09.2017, Az. C-643/15 u. C-647/15). Die Beschlüsse seien rechtmäßig zustande gekommen und seien aus Sicht des Jahres 2015 jedenfalls nicht gänzlich ungeeignet gewesen, bei der Bewältigung der Notlage zu helfen. Der Rat habe also keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler gemacht, als er zum Schluss kam, dass keine weniger restriktiven als die geplanten Maßnahmen zur Verfügung standen, argumentierte der EuGH. Vielmehr sei der geringe Wirkungs- und Umsetzungsgrad maßgeblich der mangelnden Kooperation bestimmter Mitgliedstaaten geschuldet. Mit dieser Entscheidung stellten die Luxemburger Richter klar, dass die EU-Kommission eine Beteiligung der Mitgliedstaaten einfordern und auf die Beschlüsse stützen kann.

Zu einer Kooperation und zur vorgesehenen Meldung einer angemessenen Zahl von verfügbaren Aufnahmeplätzen durch diese Länder führte die EuGH-Entscheidung allerdings nicht. Daher leitete die EU-Kommission im Juni 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und die Tschechische Republik ein. Diese hatten von Anfang an (Ungarn) beziehungsweise seit längerer Zeit (Polen seit Dezember 2015 und Tschechische Republik seit Juni 2016) keine verfügbaren Plätze mehr gemeldet.

Argumentation der Länder nicht tragfähig

Die Rückäußerungen der Staaten sowie deren Antworten auf die so genannte begründete Stellungnahme der EU-Kommission vom 26. Juli 2017 hielt diese für nicht ausreichend, um das Vertragsverletzungsverfahren zu beenden. Die Staaten hatten Entschuldigungsgründe wie Ungeeignetheit, administrativen Aufwand und Sicherheitsfragen der Beschlüsse vorgebracht. Die Kommission ging daher weiter davon aus, dass Beschlüsse rechtwidrig nicht umgesetzt wurden. Zudem habe es keine Hinweise darauf gegeben, dass die Staaten ihren Verpflichtungen nachkommen werden bzw. eine Umsetzung überhaupt in Betracht ziehen.

Die Kommission erhob daher im Dezember 2017 Klage und beantragte festzustellen, dass Polen, die Tschechische Republik und Ungarn ihre Verpflichtungen aus den beiden Beschlüssen verletzt haben und ihnen die Kosten aufzuerlegen. Mit einem entsprechenden Urteil des EuGH wäre das erste Vertragsverletzungsverfahren abgeschlossen. Spätestens in einem zweiten Vertragsverletzungsverfahren könnte dann ein zu zahlender Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld festgelegt werden.

Die Beschlüsse wurden nur vorläufig für zwei Jahre getroffen. Daher wird eine der wichtigsten Fragen des Verfahrens sein, ob die Mitgliedstaaten auch nach einem Urteil noch Personen aufnehmen müssen oder ob diese Verpflichtung mit dem Ablauf der befristeten Vereinbarung am 26. September 2017 oder zu einem späteren Zeitpunkt geendet hat.

Es geht dabei um mehr als nur um die Frage der Vertragsverletzung: Wenn es möglich ist, sich der Beteiligung an vorläufigen Solidaritätsmaßnahmen zur Bewältigung hoher Zugangszahlen durch Verweigerung der Kooperation und eine Klage gegen die Beschlüsse bis zum Ende der Maßnahmen zu entziehen, könnte die gegenseitige Unterstützung der Mitgliedstaaten durch Maßnahmen nach Art. 78 Abs. 3 AEUV zu einem (noch) stumpf(er)en Schwert werden, als dies ohnehin der Fall ist.

Gemeinsam oder gegeneinander?

Es stellt sich darüber hinaus die generelle Frage, ob und wenn ja wie die gem. Art. 80 AEUV geschuldete Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Migrationsbereich überhaupt durchgesetzt werden kann, solange grundlegende Verteilungsfragen nicht geklärt sind. Diese Grundfrage des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ist auch zwei Jahrzehnte nach den grundlegenden Beschlüssen von Tampere 1999 nicht geklärt und spiegelt sich auch in der Tatsache, dass eine Neuordnung des Europäischen Zuständigkeitssystems ('Dublin') bisher im Wesentlichen an der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten hinsichtlich eines Verteilungsmechanismus scheitert.

Auch die Beschlüsse vom September 2015 kamen nicht einstimmig zustande. Unter anderem deswegen war die Umsetzung von Anfang an durch die Nicht-Kooperation einiger Mitgliedstaaten wenig effizient. Diese mangelnde Effizienz wurde durch die komplizierten administrativen Vorgaben und Verfahren, die Überlastung der beiden begünstigten Mitgliedstaaten sowie ungeklärte Sicherheitsfragen noch weiter befördert. Das führte dazu, dass die Überstellungen auf Grundlage der Beschlüsse erst im Jahr 2017 überhaupt relevante Zahlen erreicht hatten.

In der Jafari-Entscheidung zum Durchwinken an der Grenze im Jahr 2015/16 hatte der EuGH bereits festgehalten, dass verschiedene Solidaritätsmöglichkeiten im EU-Recht bestehen, dass aber eine Durchsetzbarkeit von Maßnahmen seitens der EU-Kommission und des Europäischen Rates engen Beschränkungen unterliegt (Urt. v. 26.07.2017, Az. C-646/16, Jafari). Notwendig wäre also faktisch immer die Einigkeit der Mitgliedstaaten, um eine effiziente gemeinsame europäische Antwort auf hohe Zugangszahlen geben zu können. Wie diese europäische Antwort aussehen könnte, das kann der EuGH in diesem Vertragsverletzungsverfahren nicht festlegen. Er kann aber darüber entscheiden, ob es möglich ist, sich einer gemeinsamen Politik im Migrationsbereich durch Kooperationsverweigerung ohne Sanktionen zu entziehen. Insoweit sind die Verfahren auch ein Fingerzeig wie der zukünftige Weg der europäischen Migrationspolitik aussehen könnte.

Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, München und Fribourg (Schweiz) und war Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.

*Red.-LTO, 27.05.2019, 13.10h: hier stand zunächst: der Europäische Rat, wir haben diesen Fehler korrigiert

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EuGH verhandelt über Flüchtlingsverteilung in Europa: . In: Legal Tribune Online, 14.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35377 (abgerufen am: 14.06.2025 )

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