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45455

EGMR zum Recht auf Vergessenwerden: Den Unfall­ver­ur­sa­cher nicht beim Namen nennen

Gastbeitrag von Holger Hembach

13.07.2021

Ein Tablet mit einer Onlinezeitung auf Printausgaben

(c) Kaspars Grinvalds/stock.adobe.com

Der Verursacher eines tödlichen Unfalls, der in Online-Artikeln namentlich genannt wird, kann nach gewisser Zeit Anonymisierung verlangen. Konkrete zeitliche Vorgaben ließ sich der EGMR nicht entlocken. Holger Hembach mit den Hintergründen.

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Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Dieser Erfahrungssatz stimmt in der digitalen Welt nur noch bedingt. Wer früher darauf hoffen durfte, dass über kurz oder lang die Fehler der Vergangenheit im Sand der Zeit versickern würden, der muss heute dank Suchmaschinen und Online-Archiven damit rechnen, dass Arbeitgeber, Kollegen oder interessierte Nachbarn sich umfassend über seine Jugendsünden informieren.

Diese bittere Erfahrung musste auch ein Betroffener im Fall Hurbain gegen Belgien machen. Die belgische Zeitung Le Soir hatte 1994 über einen tödlichen Autounfall berichtet. Der Name des Fahrers, der den Unfall verursacht hatte, wurde im Artikel genannt. Le Soir stellt seit 2008 sämtliche Artikel, die in den vergangenen Jahren erschienen waren, in seiner Online-Ausgabe zur Verfügung. Der Bericht über den Unfall einschließlich des vollen Namens des Fahrers war dort seither für jedermann frei zugänglich und über Suchmaschinen auffindbar.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat jetzt zugunsten des Betroffenen entschieden: Liegt das eigentliche Unglücksereignis schon Jahre zurück, müssen die Protagonisten im Internet und in Online-Archiven anonymisiert werden, urteilte er (Urt. v. 22.06.2021, Az.: 57292/16).

Stigmatisierung darf nicht ein ganzes Leben lang andauern

Der Autofahrer bat den Verlag, in dem Le Soir erscheint, den Artikel zu löschen oder zumindest seinen Namen daraus zu entfernen. Der Verlag lehnte das ab, bat aber Google, den fraglichen Artikel nicht mehr über die Suchmaschine zugänglich zu machen. Doch Google reagierte nicht.

Der Fahrer, der für den Unfall verantwortlich gewesen war, erwirkte vor belgischen Gerichten eine Löschung seines Namens. Er ist Arzt und musste befürchten, dass sich Patienten über ihn im Internet informieren und dann von einer Behandlung absehen würden. Der Autofahrer erhob Klage gegen den Chefredakteur von Le Soir, um eine Anonymisierung des Artikels zu erreichen. Die belgischen Gerichte gaben ihm durch alle Instanzen Recht.

Der Chefredakteur von Le Soir machte gegen die Löschungsanordnung beim EGMR geltend, dass dies gegen die Äußerungs- und Pressefreiheit aus Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße.

Pressefreiheit vs. Recht auf Privatleben

Der Gerichtshof nahm eine Interessenabwägung vor: Auf der einen Seite steht die Pressefreiheit und die Aufgabe der Presse, Archive zur Verfügung zu stellen - auf der anderen Seite das Recht auf Privatleben der betroffenen Person und ihr mögliches Recht, nicht ein ganzes Leben lang mit einem tödlichen Unfall in Verbindung gebracht zu werden.

Der EGMR wies darauf hin, dass sich die Konstellation von der Mehrzahl der Fälle unterscheide, in denen er zwischen der Äußerungsfreiheit und dem Recht auf Privatleben abgewogen habe. Hier gehe es nämlich nicht um eine erstmalige Berichterstattung, sondern um die Bereitstellung einer Information in dem Archiv und im Internet – mit der Folge, dass jeder, der den Namen des Arztes googelte, auf den Bericht stieß.

Dennoch, so die Straßburger Richterinnen und Richter, seien ähnliche Kriterien zugrunde zu legen - beispielsweise der Beitrag zu einer öffentlichen Debatte, die Bekanntheit des Betroffenen, die Wahrhaftigkeit der Information. Auf Grundlage dieser Kriterien war der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung der belgischen Gerichte, den Interessen des Betroffenen am Schutz seiner Privatsphäre den Vorrang zu geben, nicht im Widerspruch zur EMRK stehe. Ein wichtiger Faktor war dabei auch, dass der Betroffene vorher nicht bereits im Licht der Öffentlichkeit stand. Denn bekannte Personen müssen damit leben, dass die Allgemeinheit viel über sie weiß.

Der Fall Fuchsmann gegen Deutschland

Dieses Kriterium spielte beispielsweise im Fall Fuchsmann gegen Deutschland eine Rolle (EGMR, Urt. v. 19.10.2017, Az. 71233/13). Der Beschwerdeführer war ein international bekannter Unternehmer. Die New York Times hatte zunächst in der gedruckten Version einen Artikel über Korruptionsvorwürfe gegen einen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von New York veröffentlicht.

Der Beitrag erwähnte, dass Fuchsmann möglicherweise involviert sei. Dieser habe nach einem Bericht des FBI Verbindungen zur organisierten Kriminalität und dürfe nicht in die USA einreisen. Die New York Times stellte den Beitrag mit kleinen Änderungen ins Internet.

Der EGMR hielt das für zulässig. Dabei stellte er unter anderem darauf ab, dass der Beschwerdeführer ein international aktiver Geschäftsmann war, an dem die Öffentlichkeit Interesse zeigte. Darüber hinaus verwies der Gerichtshof darauf, der Artikel leiste einen Beitrag zu einer öffentlichen Debatte – nämlich der über eine mögliche Korruption bei der Wahl des Bürgermeisters von New York. Dies gilt laut EGMR auch für die angebliche Rolle eines Geschäftsmannes dabei – und zwar auch nach Jahren noch.

Sedlmayer-Mörder müssen nicht "vergessen werden"

Die Frage, ob eine Veröffentlichung einen Beitrag zu einem Thema von öffentlichem Interesse leistet, spielte auch im Fall M.W. gegen Deutschland eine wichtige Rolle (EGMR, Urt. v. 28.06.2018, Az. 60798/10 und 65599/10). Die Beschwerdeführer waren in den 90er Jahren wegen Mordes an dem populären Schauspieler Walter Sedlmayer verurteilt worden.

Die Medien hatten ausführlich über die Tat und die Verurteilung der Beschwerdeführer berichtet. Der Spiegel, das Deutschlandradio und der Mannheimer Morgen hatten Artikel, die den Namen der Beschwerdeführer enthielten, dauerhaft im Internet zugänglich gemacht.

Die verurteilten Mörder machten beim EGMR geltend, dies verletze ihr Recht auf Privatleben. Sie hätten ihre Strafe verbüßt und ein Recht darauf, nicht mehr mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Der Gerichtshof meinte, dass es trotz der langen Zeit, die vergangen sei, noch ein öffentliches Interesse an der Information gebe.

Der Gerichtshof verwies auch darauf, dass die Beschwerdeführer selbst in Kontakt zu den Medien getreten waren, als sie im Jahre 2004 ein Wiederaufnahmeverfahren angestrengt hatten. Dabei stellten sie Journalisten auch Dokumente zur Verfügung. Dadurch, so das Gericht, habe sich ihr Anspruch auf Schutz ihres Privatlebens reduziert.

Ursprünglich rechtmäßige Namensnennung kann mit der Zeit unzulässig werden

Die neue Grundsatzentscheidung des EGMR wird Medienschaffenden und Justiziaren auch deutscher Verlage noch einige Kopfschmerzen bereiten. Auch wenn es ursprünglich rechtmäßig war, einen Artikel unter voller Namensnennung zu veröffentlichen und ins Internet zu stellen, kann es doch unzulässig sein, den Beitrag dauerhaft dort zu belassen.

Es wäre sicher zu viel verlangt, dass Verlage jetzt die Online-Ausgaben ihrer Publikationen durchforsten und nach identifizierenden Informationen suchen, deren Veröffentlichung möglicherweise nicht länger gerechtfertigt ist. Verlage werden die Entscheidung aber berücksichtigen müssen, wenn sie mit Anfragen zur Löschung oder Anonymisierung konfrontiert werden.

Und es lohnt sich sicherlich, zu prüfen, ob eine Information von dauerhaftem Interesse ist, bevor man sie ins Internet stellt. Auch könnte man die Informationen direkt anonymisieren.

EGMR und Pressekodex legen keinen konkreten Zeitraum fest

Über welchen konkreten Zeitraum die volle Namensnennung erfolgen darf, hat der EGMR nicht verbindlich geklärt. Es ist aber im Zeitalter des Internets klar, dass bislang unbekannte Personen sich nicht Jahrzehnte lang stigmatisieren lassen müssen. Doch wann ist so viel Gras über eine Sache gewachsen, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gestillt ist? Bei der heutigen Schnelllebigkeit der digitalen Welt spricht viel dafür, die Anonymisierung im Regelfall nach einem halben, spätestens nach einem Jahr eintreten zu lassen.

In Ziffer 8 des Pressekodex des Deutschen Presserats heißt es: "… Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein…" Eine zeitliche Eingrenzung findet hier nicht statt.

Sollte eine Selbstregulierung der Medienwirtschaft nicht gelingen, dürfte sich der EGMR mit dieser Frage künftig noch einmal beschäftigen.

Rechtsanwalt Holger Hembach ist spezialisiert auf Menschenrechte. Er vertritt Mandanten beim EGMR und ist Autor eines Buches zur Beschwerde beim EGMR.

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EGMR zum Recht auf Vergessenwerden: Den Unfallverursacher nicht beim Namen nennen . In: Legal Tribune Online, 13.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45455/ (abgerufen am: 24.09.2023 )

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