Darf die Gerichtspräsidentin einen Richter zu schnellerem Arbeiten anhalten? Am Donnerstag verhandelt der BGH über den Fall des OLG-Richters Schulte-Kellinghaus. In der Justiz sorgt er seit Jahren für Diskussionen.
Am Donnerstag ist es so weit. Der Bundesgerichtshof (BGH) verhandelt über den Fall des Richters am Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe Thomas Schulte-Kellinghaus. Er wehrt sich gegen eine Rüge der ehemaligen Präsidentin, die ihm vorgehalten hatte, zu wenige Fälle pro Jahr zu bearbeiten. Schulte-Kellinghaus sieht darin einen Eingriff in seine richterliche Unabhängigkeit.
In der Justiz sorgt das Thema seit Jahren für Aufsehen – der hohe Erledigungsdruck ist ein Problem, das jeder Richter kennt. "Es ist wichtig, dass der Bundesgerichtshof jetzt Rechtssicherheit schafft", sagt der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, gegenüber LTO. In der Praxis zeige sich immer wieder, dass hinreichend klare Vorgaben für die Dienstaufsicht fehlten. "Das belastet auch die Zusammenarbeit der Kollegen in den Gerichten."
Schulte-Kellinghaus ist seit 2002 Richter am OLG Karlsruhe. Anfang des Jahres 2012 hatte die damalige Gerichtspräsidentin ihm vorgehalten, er unterschreite "seit Jahren ganz erheblich und jenseits aller großzügig zu bemessenden Toleranzbereiche" das durchschnittliche Erledigungspensum. In den Jahren 2008 bis 2010 habe seine Erledigungsleistung nur etwa 68 Prozent der von anderen OLG-Richtern in diesem Zeitraum durchschnittlich erledigten Verfahren entsprochen. 2011 habe er weniger Verfahren als ein durchschnittlicher Halbtagsrichter erledigt.
Richter unterliegen einer Dienstaufsicht nur, soweit nicht ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt wird. Dazu gehört auch, dass die Präsidentin nicht bestimmen darf, wieviel Zeit für welche Fälle angemessen ist. "Der Richter muss grundsätzlich selbst bestimmen können, wie viel Zeit er für einen konkreten Fall einsetzt", erklärt Rebehn. "Sofern er aber ein im Durchschnitt übliches Arbeitspensum auf Dauer massiv unterschreitet, muss die Dienstaufsicht dagegen einschreiten können. Das verletzt nicht die Unabhängigkeit des Richters, im Einzelfall selbst seinen Zeitrahmen festzulegen."
Verlangt die Präsidentin "Rechtsprechung light"?
Die Dienstaufsicht umfasst nach dem Deutschen Richtergesetz die Befugnis, "zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte zu ermahnen" – das hatte Prof. Dr. Christine Hügel als Präsidentin getan. Die Frage ist deshalb: Hat Schulte-Kellinghaus nicht "ordnungsgemäß" gearbeitet und seine Akten unnötig lange liegen lassen? Oder ist er im Gegenteil besonders gründlich und kann deshalb nur dann mehr Fälle bearbeiten, wenn er seine Rechtsanwendung grundsätzlich ändert?
Für Rechtsanwältin Christina Gröbmayr, die Schulte-Kellinghaus vor dem BGH vertritt, ist das die entscheidende Frage. Schulte-Kellinghaus hatte sich gegen die Ermahnung vor dem Richterdienstgericht gewehrt und argumentiert, der Präsidentin gehe es um eine "Rechtsprechung light", bei der rechtliches Gehör, Sachverhaltsaufklärung, Beweisaufnahmen etc. unter dem Vorbehalt der personellen Ressourcen am Gericht stehen sollten. "Jeder Jurist hat eine andere Herangehensweise, jeder Richter geht unterschiedlich an unterschiedliche Rechtsfragen heran", erklärt Gröbmayr. "Das gilt auch im prozessualen Bereich, etwa auch bei der Frage, ob ich in einem bestimmten Fall den Parteien noch mehr Gehör gewähre oder nicht. Und das wirkt sich natürlich auf das Erledigungspensum aus."
2/2 "Jeder Richter passt sich dem Erledigungsdruck an"
Eine Reihe von Strafanzeigen wegen versuchter Nötigung, die Schulte-Kellinghaus und weitere Juristen, darunter der bekannte Strafverteidiger Gerhard Strate, gegen die Ex-Präsidentin und andere Akteure innerhalb der Justizverwaltung gestellt haben, führten nicht zur Aufnahme von Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft. Auch vor dem Richterdienstgericht unterlag der Freiburger Richter, der Dienstgerichtshof bei dem Oberlandesgericht Stuttgart bestätigte das in seinem Urteil vom 17.04.2015 (DGH 2/13). Das "bloße allgemeine Anhalten zu vermehrten Erledigungen" sei mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar. Auch der Vergleich der Erledigungszahlen des Richters mit denjenigen anderer Richter stelle für sich genommen keinen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit dar.
Anwältin Gröbmayr hingegen hält den Vergleich durchschnittlicher Erledigungszahlen für falsch: "Jeder Richter passt sich im Laufe seines Berufslebens dem Erledigungsdruck an, der ja unzweifelhaft in der Justiz besteht – auch mein Mandant, nur eben vielleicht nicht in dem Maße wie viele andere Kollegen."
Auch bei der Neuen Richtervereinigung sieht man den Vergleich von Durchschnittszahlen kritisch. Bundessprecher Carsten Löbbert sagt: "Aus unserer Sicht sollte ganz klar anerkannt werden, dass der Durchschnitt nicht das Maß dafür sein darf, was ein Richter zu schaffen hat. Es darf hier nicht nur um Zahlen gehen. Es geht um einen breiten Korridor, welches Pensum möglich oder angemessen sein kann. Sicherlich gibt es hier eine Grenze, aber es muss sehr genau diskutiert werden, wann diese Grenze erreicht ist."
Keiner, der eine ruhige Kugel schiebt
Tatsächlich ist unumstritten, dass Schulte-Kellinghaus gründlich arbeitet, sorgfältige Urteile schreibt und keinesfalls früher nach Hause geht als seine Kollegen. "Wir reden hier nicht über einen Richter, der eine ruhige Kugel schiebt", sagt Löbbert. "Wenn jemand sagt, ich habe keine Lust zu arbeiten und mache nur einen Fall pro Monat, wäre das natürlich nicht in Ordnung. Aber hier geht es unstreitig um einen Richter, der sehr intensiv arbeitet und sagt, ich arbeite so intensiv, dass ich nur eine bestimmte Menge schaffe." Es sei allerdings selten, dass ein Fall "so eskaliert wie hier", so Löbbert. "Mit Respekt und Vertrauen zwischen Justizverwaltung und Richtern lassen sich sicherlich die meisten Fälle lösen."
DRB-Geschäftsführer Rebehn sieht nun die Politik in der Verantwortung: "Die Justiz ist durch die Personalpolitik der Länder stark unter Druck geraten. In der Justiz fehlen mindestens 2.000 Richter und Staatsanwälte, was von den Kollegen nicht mehr zu kompensieren ist und negative Folgen für die Arbeitsweise haben muss." Hier müsse die Politik die Justiz dringend aus der personellen Klemme befreien, damit der Rechtsstaat nicht erodiere. Seitens des Justizministeriums Baden-Württemberg will man sich angesichts des laufenden Verfahrens nicht äußern.
Während die Richterverbände auf eine klarstellende Entscheidung des BGH hoffen, ist Gröbmayr eher skeptisch, zumal es im Vorfeld bereits einiges Gerangel um eine mögliche Befangenheit der Richter und die ungewöhnlich knappe Pressemitteilung des BGH gab.
Sollte der BGH die Klage abweisen, will Gröbmayr eine Verfassungsbeschwerde prüfen: "Ich halte das für sehr aussichtsreich." Allerdings sei das ganze Verfahren auch psychisch sehr belastend für ihren Mandanten: "Es wird letztlich von ihm abhängen, ob wir noch einen weiteren Schritt gehen."
Annelie Kaufmann, BGH verhandelt über Entscheidungstempo von Richtern: Zu langsam oder besonders gründlich? . In: Legal Tribune Online, 05.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24333/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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