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Legalität von Autobahnblockaden: Die wilde Seite der Demo­k­ratie

Gastbeitrag von Prof. Dr. Tim Wihl

14.02.2022

Aktivisten bei einer Sitzblockade am Horner Kreisel, A24 in Hamburg, 31.1.2022.

Auch in Hamburg wurde Ende Januar mit Sitzblockaden auf der Autobahn demonstriert, auch dort ging es um Gesetzesänderungen zum Thema Containern. Foto: picture alliance / | -

Protestierende, die sich auf Autobahnen festkleben, können zwar politisch und moralisch durchaus kritisiert werden – aber verfassungsrechtlich? Tim Wihl über die Legalität von Sitzblockaden.

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In den letzten Wochen fanden in Berlin im Bereich der Stadtautobahn BAB 100 wiederkehrende Blockaden des Autoverkehrs, insbesondere von Autobahnzufahrten, statt. Zum Teil mussten Fahrer:innen stundenlang warten, da sich Protestierende auf dem Boden festgeklebt hatten. Der dahinterstehende Akteur ist die Protestgruppe "Aufstand der letzten Generation", die damit von der Bundesregierung ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung erzwingen will, wie es etwa in Frankreich schon in Kraft ist.

Schon seit Langem beklagen sich immer wieder Teile der Zivilgesellschaft darüber, dass das sogenannte "Containern", also das Wegnehmen weggeworfener, aber noch essbarer Lebensmittel aus Abfallcontainern der Supermärkte, sogar als strafbarer Diebstahl gewertet wird. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Containerns zuletzt zurückgewiesen.

Möglich wäre zwar eine gesetzgeberische Abschaffung dieser Strafbarkeit. Solange das jedoch nicht geschieht, droht den Täter:innen die – in Bezug auf den Sanktionsrahmen - nicht gerade harmlose  Bestrafung wegen Diebstahls. Das hinzunehmen, um öffentlich auf eine nach Auffassung der Protestgruppen notwendige Lebensmittelwende hinzuweisen, ist vergleichsweise "unattraktiv".  Stattdessen bieten sich andere Protestformen an, wie eben symbolische Blockaden.

Ein Juwel der Protestgeschichte

Deren Legalität wird allerdings immer wieder in Zweifel gezogen – zuletzt von Bundesjustizminister Marco Buschmann. Er ging soweit, Vertreter:innen des grünen Koalitionspartners – insbesondere seine Kabinettskollegin, die Umweltministerin Lemke – scharf zurechtzuweisen, weil diese die Blockaden verteidigt hatten oder zumindest eine gewisse Sympathie zeigten. Das stellt einen höchst ungewöhnlichen politischen Vorgang dar, selbst wenn Buschmann sich als "Verfassungsminister" wohl zu Recht dazu berufen fühlt, die universelle Geltung der Gesetze zu verteidigen – wenn es denn die Gesetze wären. Die Rechts- und Verfassungslage ist weit weniger eindeutig, als der Minister suggeriert.

Die Sitzblockade ist nämlich eine Protestform von höchsten demokratischen Weihen, eine Art Juwel der bundesdeutschen Protestgeschichte. Jeder Staat – ob Diktatur oder repräsentative Demokratie – bedarf eines Korrektivs in Gestalt einer aktiven Bürger:innenschaft, die das "Ungezähmte" und Unmittelbare des demokratischen Prinzips permanent zum Ausdruck bringen darf.

Die Judikatur zu Sitzblockaden – eine Saga

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in diesem Sinne in seinem berühmten Brokdorf-Beschluss eine Magna Carta der aktiven, starken und partizipatorischen Demokratie verfasst, deren Radikalität immer noch erstaunt, indem Karlsruhe das Wilde, Ungezähmte, Herrschaftskritische an der Demokratie würdigte und so ganz anti-etatistisch als Bürger-Gericht urteilte. Diesen Geist hat es in seiner Rechtsprechung zum "Protestrecht" weitgehend, wenn auch nicht durchgängig, bis heute bewahrt. Die Judikatur zu den Sitzblockaden bildet dabei eine eigene "Saga". Am besten zeigt sich das in einem Kammerbeschluss von 2011 (1 BvR 388/05), der die geltende Verfassungslage bezogen auf die Sitzblockaden maßgeblich zusammenfasst.

Zwar ist es richtig, wie der Justizminister auf die grundsätzliche Strafbarkeit der Nötigung hinzuweisen. Und gelegentlich – aber keineswegs regelmäßig – kann es bei Autobahnblockaden als besonderer Form der Sitzblockade auch zu gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr, Versammlungsstraftaten oder zumindest -ordnungswidrigkeiten oder auch Widerstandstaten kommen.

Behinderung ja, Gewalttat nein

Entscheidend ist aber, dass die Nötigung als der zentrale Tatbestand bei einer Blockade in den meisten Fällen im Ergebnis nicht rechtswidrig ist und damit straflos bleibt – sofern man sich streng an den Vorgaben aus Karlsruhe orientiert. Der Beschluss von 2011 formuliert unter der Randnummer 32 zunächst, dass Blockaden unter den Versammlungsbegriff des Art. 8 Grundgesetz (GG) fallen. Denn rein geistig müssen Demos nicht sein – es geht gerade auch um physische Präsenz, das "Bezeugen" durch den Körpereinsatz.

Anschließend stellt das BVerfG fest, dass Blockaden auch in aller Regel friedlich sind – unbeschadet der Tatsache, auf Störung angelegt zu sein. Unfriedlich sind nämlich nur Versammlungen, die als Ganze auf physische, aggressive Gewalt abzielen, auf "Gewalttätigkeiten", nicht bloße "Behinderungen". Dass Rettungsfahrzeuge, wie berichtet, im Einzelfall nicht mehr durchkommen konnten, ist durchaus ein politisches und moralisches Problem einzelner Autobahnblockaden gewesen, ändert aber nichts an ihrer juridischen Friedlichkeit.

Ist die Nötigung verwerflich?

Bekanntlich ist die Versammlungsfreiheit aber einschränkbar (Art. 8 Abs. 2 GG) und das macht sich hier durch die Verfassungskonformität des Nötigungsparagraphen § 240 im Strafgesetzbuch (StGB) bemerkbar. Das BVerfG verwarf nämlich die viel – und zu Recht –  kritisierte Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH in seinem Beschluss nicht. Danach stellen die Autos in der ersten Reihe bei einer ansonsten rein psychisch wirkenden Blockade eine körperliche Barriere dar, die sich die Blockierenden als eigene "Gewalt" über die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft zurechnen lassen müssen – sie erfüllen also den Tatbestand der Nötigung. Die entscheidende Hürde stellt bei der Blockade allerdings der Absatz 2 des § 240 StGB dar. Demnach ist die Nötigung nicht "verwerflich", wenn die Versammlungsfreiheit durchgreift. Sie ist also nicht positiv rechtswidrig.

Der Bundesjustizminister hat daher zwar einerseits Recht, dass der zivile Ungehorsam – moralisch begründeter, öffentlicher Regelbruch – keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund nach dem Strafrecht liefert. Das wurde in den 1980er Jahren in der Rechtswissenschaft lebhaft diskutiert, konnte sich jedoch nie durchsetzen. Denkbar und etwa in der Schweiz zuletzt vereinzelt judiziert wäre immer noch die Annahme eines rechtfertigenden Notstands aufgrund der Gesundheitsgefahren durch die Klimaveränderung.

Kein grundrechtliches Sonderrecht für Autobahnen

Andererseits liegt der Minister aber auch falsch, weil die Blockaden eben doch als Versammlungen gerechtfertigt sein können und die Verwerflichkeit der Nötigung aufheben. Die Versammlungsfreiheit zeigt sich hier besonders klar von ihrer "aufhebungsrechtlichen" Seite.  Das BVerfG betont, dass Art. 8 GG – außer bei durchgehender aggressiver Unfriedlichkeit der Blockade – nur bei selbsthilfeähnlicher Nötigung, die konkret vor Ort durchsetzbar ist, von vornherein entfällt. Das gilt aber ganz sicher nicht für die Forderung der Berliner Protestierenden nach einem Gesetzgebungsverfahren.

In großer Klarheit fordert das Gericht schließlich mit Blick auf die Rechtfertigung des danach fast immer vorliegenden Eingriffs in Art. 8 GG eine Abwägung der betroffenen Grundrechtsinteressen. Karlsruhe wird sehr deutlich, was die Gerichte – und auch die Polizei vor Ort schon – zu berücksichtigen haben: "Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand." (Rn. 39) In diesem nüchternen Satz zum Irakkriegsprotest kristallisiert sich die Rechtslage, die auch für die heutigen Autobahnblockaden der Umweltbewegten Gültigkeit hat – denn ein grundrechtliches Sonderrecht für Autobahnen gibt es selbst in Deutschland nicht.

Wie die Abwägung je im Einzelfall ausgeht, ist zwar schwer zu prognostizieren. Der verbleibende Zweifel darf aber bei so großen Worten wie denen des Justizministers nicht zulasten der individuellen politischen Freiheit  als "demokratisches Heiligtum"  gehen. Selbst wenn die aktiven Bürger:innen politisch selbstverständlich scharf kritisiert werden dürfen, etwa dafür, dass sie am falschen Ort protestieren oder die Falschen treffen. Gerade in der Klimakrise besteht jedoch eine Art "Notstand in Permanenz"; die Menschheit hat nur noch wenig Zeit. Ungeduldige Protestformen, die auf maximale Aufmerksamkeit zielen, werden daher an Bedeutung noch gewinnen. Eine autoritäre Verhärtung ist der Republik als Reaktion nicht zu empfehlen, selbst wenn es um das Auto und die liebe Ordnung geht.

Prof. Dr. Tim Wihl ist Rechtswissenschaftler und Gastprofessor am Lehrstuhl für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Legalität von Autobahnblockaden: . In: Legal Tribune Online, 14.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47534 (abgerufen am: 12.05.2025 )

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