Auch eine – nicht rechtskräftige – strafrechtliche Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Arbeitskollegen genügt nicht zwangsläufig, um einen Angestellten von seinem Arbeitsplatz zu entfernen. Dem ArbG Solingen reichten am Dienstag die Verdachtsmomente nicht aus. Muss der Arbeitgeber wirklich mehr ermitteln als staatliche Strafverfolger, fragt sich Julian Köster-Eiserfunke.
Vorgeschichte des Rechtsstreits war ein Strafverfahren gegen einen Manager, den früheren Vorgesetzten des klagenden Facharbeiters. Dieser hatte den Manager des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, der in erster Instanz dafür zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt wurde. Der Manager legte dagegen Rechtsmittel ein, so dass das Urteil nicht rechtskräftig ist.
Der Arbeitgeber hatte ihm einen Aufhebungsvertrag angeboten, den der Manager allerdings ablehnte. In der Folge kehrte er an seine alte Stelle zurück, während der Facharbeiter versetzt wurde.
Dieser verlangte gerichtlich von seinem Arbeitgeber, seinem ehemaligen Vorgesetzten zu kündigen. Erfolglos, wie das Arbeitsgericht Solingen am Dienstag entschied: Auch wenn es "überwiegend wahrscheinlich" sei, dass der Manager den Facharbeiter während einer Dienstreise im Schlaf überrascht und sich an ihm vergangen habe, reiche dies wegen verbleibender Zweifel für einen Rauswurf nicht aus, sagte eine Gerichtssprecherin (ArbG Solingen, Urt. v. 24.02.2015, Az. 3 Ca 1356/13).
Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegen AGG-Verstöße
In dieser sensiblen Konstellation stellen sich zwei zentrale Rechtsfragen: Zum einen mutet es auf den ersten Blick – jedenfalls aus rechtlicher Sicht – absonderlich an, dass ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber mit dem Ziel verklagen können soll, dieser solle einem anderen Arbeitnehmer kündigen. Zum anderen erscheint es schwer erträglich, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht ausreichen soll, um ein Arbeitsverhältnis zu beenden.
Die Antwort auf die erste Frage gibt § 12 Abs. 3 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Danach hat der Arbeitgeber bei Verstößen gegen die einschlägigen Benachteiligungsverbote geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Verstöße zu unterbinden. Die Vorschrift greift also, wenn eine Benachteiligung bereits eingetreten ist und erfasst auch Fälle von sexueller Belästigung oder gar Missbrauch.
Zwar ergibt sich nicht unmittelbar aus ihrem Wortlaut, dass die Regelung betroffenen Arbeitnehmern eine eigenständige Anspruchsgrundlage zur Verfügung stellt, um ihren Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen. Das Bundesarbeitsgericht nimmt dies jedoch – wohl unter Schutzgesichtspunkten – an (BAG, Urt. v. 25.10.2007, Az. 8 AZR 593/06).
Wenn es nur einen Weg gibt: die Kündigung des Chefs
Die Entscheidung, welche Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind, trifft allerdings der Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer kann sich also die gewünschten Schritte grundsätzlich nicht aussuchen.
Aber es gibt eine Ausnahme: Das Ermessen des Arbeitgebers bei dieser Entscheidung kann auf null reduziert sein, wenn nur eine einzige bestimmte Maßnahme geeignet erscheint, um künftige Benachteiligungen zu unterbinden oder manche Maßnahmen rein faktisch gar nicht in Betracht kommen. So bringt beispielsweise eine Versetzung in einem Kleinbetrieb wenig, wenn die Betroffenen sich dennoch stündlich begegnen.
In diesen Fällen hat der betroffene Arbeitnehmer einen individuellen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber darauf, dass dieser die von ihm gewünschte Maßnahme auch vornimmt. Der sexuelle Missbrauch unter Kollegen ist ein solcher Fall: Mildere Maßnahmen als die Kündigung sind evident ungeeignet, um zu verhindern, dass sich ein solcher Vorgang wiederholt. Auch Maßnahmen, die das Opfer selbst betreffen, wie insbesondere dessen Versetzung, können nicht ohne weiteres die Kündigung des Störers ersetzen. Dann würde schließlich erneut derjenige benachteiligt, den die Vorschrift des § 12 Abs. 3 AGG eigentlich schützen soll.
2/2: Die strengen Anforderungen der Verdachtskündigung
Allerdings muss auch die vom Arbeitgeber vorzunehmende Maßnahme ihrerseits rechtmäßig sein. In dem Solinger Fall, und das beantwortet die zweite Frage, die er aufwirft, bedeutete das, dass das Arbeitsgericht (ArbG) prüfen musste, ob die Voraussetzungen einer Verdachtskündigung vorlagen. Schließlich stand nicht zweifelsfrei fest, dass es tatsächlich zu einem sexuellen Missbrauch gekommen war.
Während bei einer Tatkündigung, also einer aufgrund eines feststehenden Sachverhalts, schon schwerere sexuelle Belästigungen und damit erst recht sexueller Missbrauch regelmäßig eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, gelten im Fall widerstreitender Behauptungen strengere Anforderungen.
So muss der Verdacht gegen den Mitarbeiter dringend und durch objektive Umstände belegt sein, der Arbeitgeber muss eine Anhörung durchführen und selbst den Sachverhalt aufklären. Und schließlich muss der bestehende Verdacht das Vertrauen zwischen den Arbeitsvertragsparteien zerstören.
Vom Strafrecht unabhängig: "überwiegend wahrscheinlich" reicht nicht.
Nun könnte man annehmen, der Verdacht gegen den Manager des Solinger Unternehmens müsse schon deswegen dringend sein, weil der ehemalige Vorgesetzte bereits erstinstanzlich strafrechtlich verurteilt wurde. Dem ist allerdings nicht so: Das arbeitsgerichtliche Verfahren ist ein völlig eigenständiges, Urteile von Strafgerichten binden die Arbeitsgerichte in keiner Weise (BAG, Urt. v. 20.08.1997, Az. 2 AZR 620/96).
Freilich betraf diese Feststellung zumeist den umgekehrten Fall, in dem die Arbeitsgerichte eine Verdachtskündigung für zulässig hielten, obwohl das Strafverfahren eingestellt worden war. Allerdings verneint das BAG eine Bindung der Arbeitsgerichte an Strafurteile selbst dann, wenn die Verurteilungen rechtskräftig waren (BAG, v. 26.03.1992, Az. 2 AZR 519/91). Der Verdacht, der für die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Verdachtskündigung maßgeblich ist, darf sich daher ausschließlich aus den Beweismitteln ergeben, die vor dem Arbeitsgericht präsentiert werden.
Weder die Zeugenvernehmung noch die Anhörung des klagenden Werkzeugmachers konnten aber die zuständige Kammer des ArbG Solingen vollständig davon überzeugen, dass der Vorgesetzte diesen sexuell missbraucht hat. Obwohl die Kammer die Darstellung des Facharbeiters für "überwiegend wahrscheinlich" hielt, blieben ihr Zweifel. Dieses verbleibende Beweislastrisiko habe er als Kläger zu tragen.
Soll der Arbeitgeber mehr ermitteln als die Strafverfolger?
Gleichwohl verursacht das Urteil des ArbG Solingen Bauchschmerzen. Das liegt zum einen daran, dass der die Verdachtskündigung rechtfertigende Verdacht nach ständiger Rechtsprechung dann als ausreichend angesehen wird, wenn die Tatsachen, auf die er sich stützt, so beschaffen sind, dass sie einen verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zum Ausspruch der Kündigung veranlassen können (BAG, Urt. v. 06.09.2007, Az. 2 AZR 722/06).
In einem bemerkenswerten Urteil hatte das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet sein könne, in seinen Bewertungen kritischer und zurückhaltender zu sein als die Strafermittlungsbehörden (LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 21.04.2004, Az. 3 Sa 548/03). Demnach rechtfertigten in aller Regel schon die Erhebung der Anklage bzw. die Eröffnung des Hauptverfahrens - als ein Minus zur strafrechtlichen Verurteilung - eine außerordentliche Verdachtskündigung.
Zum anderen können im Strafverfahren gewonnene Erkenntnisse die Annahme verstärken, dass der Arbeitnehmer die Pflichtverletzung begangen hat (BAG, Urt. v. 25.10.2012, Az. 8 AZR 593/06). Sie können per Urkundsbeweis in den Prozess vor dem Arbeitsgericht eingeführt werden.
Zu erklären ist die Solinger Entscheidung nur auf zweierlei Weise: Entweder die Beweisaufnahme vor dem ArbG Solingen hat grundlegende neue Erkenntnisse erbracht oder das Urteil des Strafgerichts steht auf sehr wackligen Füßen. Aufschluss darüber können nur die bisher nicht veröffentlichten Urteilsgründe geben.
Der Autor Julian Köster-Eiserfunke, LL.M. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln. Er promoviert bei Prof. Dr. Martin Henssler zu einem kündigungsrechtlichen Thema.
Julian Köster-Eiserfunke, Obwohl er Kollegen sexuell missbraucht haben soll: Solinger Unternehmen muss Manager nicht kündigen . In: Legal Tribune Online, 25.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14792/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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