Wer vorschlägt, das Alter der Strafmündigkeit abzusenken, oder höhere Strafen für Sexualdelikte fordert, ist oft dem Vorwurf des Populismus ausgesetzt. Elisa Hoven sieht dabei die Gefahr, dass wichtige Debatten ganz unterbleiben.
Vor einigen Monaten haben meine Kollegin Frauke Rostalski und ich in der FAZ einen Text veröffentlicht, in dem wir dafür plädierten, die Strafzumessung bei Vergewaltigungen zu überdenken. Wir sind der Ansicht, dass man darüber sprechen muss, ob die derzeit verhängten Strafen dem Unrecht einer erheblichen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung gerecht werden. Nach der Strafverfolgungsstatistik von 2021 werden in 90 Prozent der Fälle Freiheitsstrafen im unteren Strafrahmendrittel verhängt. Ziel unseres Beitrages war es, eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Praxis anzustoßen. Das ist teilweise gelungen.
Uns haben eine Vielzahl von E-Mails erreicht, von Staatsanwälten, Richterinnen und Betroffenen – weit überwiegend getragen von Zustimmung zu unserem Anliegen. Es gab aber auch enttäuschende Reaktionen, nicht zuletzt aus der Wissenschaft. Außer methodischer Kritik an einer empirischen Studie, die für den Befund nicht ausschlaggebend war, gab es keine ernsthaften Auseinandersetzungen mit unseren Argumenten, sondern nur laute Empörung und – bei LTO – den Vorwurf des "punitiven Populismus".
Der Populismus-Vorwurf birgt die Gefahr, sachliche Diskussionen über kontroverse Themen zu unterbinden. Eine Forderung, die mit dem Stigma des Populistischen versehen wird, muss man nicht mehr diskutieren: Sie gilt als unangenehm polemisch, gedanklich schlicht und gesellschaftlich gefährlich. Diese Populismus-Rhetorik suggeriert "einen Gegensatz zwischen dem vernünftigen und liberalen Teil der Gesellschaft und einem frustrierten und emotionalisierten Teil". Die Folge: Eine Verständigung auf Augenhöhe in einer rationalen Debatte erscheint kaum noch möglich. Wer aber in dieser Weise die Diskussion abschneidet, leistet der verbreiteten Behauptung Vorschub, dass man "ja nichts mehr sagen dürfe", – und spielt damit populistischer Politik erst recht in die Karten.
Ich möchte daher in diesem Beitrag die Frage stellen: Wann ist eine Forderung nach "mehr Strafe" oder "mehr Strafrecht" tatsächlich populistisch – und wann nicht?
Vom Schimpfwort zum Kompliment
Wer den Populismus-Vorwurf erhebt, sollte wissen, wovon er spricht. Der Begriff des Populismus ist allerdings selbst in der Politiktheorie heftig umstritten. Eine Studie aus Großbritannien kam 2011 zu dem Ergebnis, dass britische Zeitungen den Begriff des Populismus in politischen Debatten weitgehend willkürlich verwenden. Aufgrund seiner Unschärfe wird der Populismus-Vorwurf von einigen als überflüssig oder sogar schädlich bezeichnet. Horst Seehofer sagte auf einer Handwerksmesse in München 2009, Populismus sei "kein Schimpfwort, sondern ein Kompliment". Solch positive Begriffsaneignungen drohen, wenn das Verdikt des Populismus beliebig erscheint. Soll der Begriff sein kritisches Potential wahren, muss er deutlich enger gefasst werden.
Nicht ausreichend für den Populismus-Vorwurf kann es deshalb sein, dass Vorstellungen und Interessen aus der Bevölkerung gehört und berücksichtigt werden. Öffentliche Forderungen zum Anlass für Gesetzesänderungen zu nehmen, ist nicht per se populistisch, sondern in einer Demokratie erst einmal ein nachvollziehbarer Vorgang.
Populistische Denkweise beruht auf der Annahme, es gebe einen klaren Gegensatz zwischen dem einfachen, rechtschaffenden Volk und den korrupten politischen Eliten, so formuliert es der Politikwissenschaftler Cas Mudde. "Dem Volk" wird demnach ein einheitlicher Wille zugeschrieben, den die Machthabenden bewusst ignorieren. Populistische Rhetorik soll genau diesen Gegensatz konstruieren und damit das Vertrauen in die Regierenden und die Integrität staatlicher Institutionen schwächen. Sich selbst konstruieren Populisten als vermeintlich volksnah – im Gegensatz zur regierenden Elite: Sie werden damit zu den einzigen Akteuren, die den "wahren" Volkswillen erkennen und umsetzen wollen.
Wann ist Kriminalpolitik populistisch?
Das Strafrecht eignet sich in besonderer Weise für populistische Politik. Sie funktioniert auf zwei Ebenen. Zum einen werden die Risiken für die Sicherheit des Einzelnen durch Straftaten dramatisiert. Es wird das Bild einer von Verbrechen bedrohten Gemeinschaft gezeichnet: Straftaten nehmen kontinuierlich zu, und sie werden immer gefährlicher. Durch eine emotionalisierende Rhetorik wie die von "Messer-Migranten" sollen Verbrechensängste in der Bevölkerung geschürt werden. Zum anderen wird dem Staat vorgeworfen, nichts gegen Kriminalität zu unternehmen. Während die Bürger ein hartes Durchgreifen forderten, bleibe die Politik untätig, und die deutsche "Kuscheljustiz" verhänge generell zu milde Strafen. Das Volksempfinden wird in Stellung gebracht gegen einen scheinbar schwachen, hilflosen oder ignoranten Staat.
Diese punitiv-populistische Rhetorik birgt die Gefahr, dass Bürger das Vertrauen in die Justiz verlieren – und das Zutrauen, dass sie "im Namen des Volkes" entscheidet.
Zudem erzeugt sie einen Handlungsdruck für die Politik – die durch Verschärfungen des Strafrechts populistischer Kritik den Boden entziehen will. Strafgesetze, die nicht auf ein reales Problem reagieren, sondern in erster Linie symbolisch wirken sollen, sind jedoch fehleranfällig. Das gilt insbesondere dann, wenn sie eilig zusammengeschrieben werden, um eine aktuelle öffentliche Stimmung zu bedienen. Hier besteht das Risiko, dass bei der Formulierung von Gesetzen kriminologische Befunde ignoriert, Langzeitfolgen ausgeblendet und kurzfristige Lösungen komplexeren Konzepten vorgezogen werden. So lässt sich über Forderungen populistischer Parteien wie die Einschränkung des Jugendstrafrechts oder ein härteres Vorgehen gegen "Clan-Kriminalität" natürlich (wie über jedes Thema) diskutieren – jedoch nicht mit Hinweis auf eine generelle Forderung nach mehr Härte, sondern nur auf Basis empirischer, erziehungswissenschaftlicher und kriminologischer Erkenntnisse.
Oft ist der Vorwurf des Populismus in der Kriminalpolitik aber vorschnell und falsch. Er erstickt die Diskussion um angemessene regulatorische Lösungen auf soziale Probleme, bevor sie überhaupt begonnen hat. Ich möchte zwei Beispiele nennen.
Strafmündigkeitsgrenze als Tabu?
Wenn es zu schweren Straftaten durch Kinder kommt, wie etwa der Tötung einer Mitschülerin durch zwei 13-jährige Mädchen im Frühjahr 2023 in Freudenberg fordern Politiker und Bürger die Absenkung des Mindestalters für die Strafmündigkeit. Viele Kriminologen lehnen Diskussionen darüber als populistisch ab. Doch auch hier kommt der Populismus-Vorwurf zu voreilig und tabuisiert eine fachliche Diskussion, die selbstverständlich geführt werden darf. Auf schwere Gewaltdelikte durch Kinder muss eine Gesellschaft reagieren – auch im Interesse der Kinder selbst.
Die Frage, auf welche Weise sie dies tut, ob durch Strafrecht, durch sozial- oder familienrechtliche Interventionen, sollte nicht in der Empörung des Augenblicks entschieden werden, ist aber legitimer Gegenstand einer sachlichen Diskussion unter Juristen, Kriminologen und Kinderpsychologen. Nicht zuletzt, da die Strafmündigkeit in vielen Ländern mit zwölf Jahren beginnt und damit kaum als rechtsstaatliches Tabu gelten kann. Ich selbst halte eine Strafmündigkeit ab zwölf Jahren nicht für den richtigen Weg – aber eine kontroverse wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber sollte nicht aus Sorge vor dem Populismus-Vorwurf unterbleiben.
Und wie verhält es sich mit Forderungen nach härteren Strafen? Sind sie stets "punitiver Populismus", unbarmherzig, rachsüchtig und illiberal?
Höhere Strafen zu fordern, ist nicht per se populistisch
Nein: Ein gerechtes Strafurteil ist nicht notwendig milde, sondern maßvoll und der Schwere der Tat angemessen. Ob man etwa für eine Vergewaltigung zwei, fünf oder zehn Jahre Freiheitsstrafe als gerechte Strafe erachtet, ist eine Wertungsfrage; sie hängt davon ab, wie man das Unrecht der Tat auch im Vergleich zu anderen Straftaten gewichtet.
Die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen hat in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Aufwertung erfahren. Erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe als Sexualstraftat anerkannt, heute diskutieren wir über das "Nur Ja heißt Ja"-Modell. Das Recht ist immer das Recht der aktuellen Gesellschaft. Ändern sich Wertevorstellungen, gewinnen wir neue Einsichten in die Tragweite einer Rechtsgutsverletzung, dann ist es sinnvoll, auch über Strafhöhen zu diskutieren.
Unverständnis und Wut über als zu milde empfundene Strafurteile bilden den Nährboden für eine undifferenzierte "Law and Order"-Politik. Soll eine Entwicklung wie im US-amerikanischen Rechtssystem mit seinen drakonischen Strafen, seiner mitleidslosen Behandlung von Jugendlichen und seiner resozialisierungsfeindlichen Stigmatisierung insbesondere von Sexualstraftätern verhindert werden, muss die Wahrnehmung in der Gesellschaft erhalten bleiben, dass Strafgesetze und Strafurteile gerecht sind, also angemessen auf den Bruch der sittlichen Mindeststandards reagieren, die für ein gesellschaftlichen Zusammenleben erforderlich sind.
Dafür wäre es wichtig, in Ruhe darüber zu sprechen, wie bestimmte Strafen zustande kommen, ob sie der Schwere der Taten im Vergleich zu anderen Delikten angemessen sind, welche Faktoren im Sexualstrafrecht die Strafe schärfen oder mildern sollten und welche nicht. Es ist bedauerlich, dass stattdessen aufgeregte, emotionale Beiträge veröffentlicht wurden, die durch den gewählten Ton und einen pauschalen Populismusvorwurf eine sachliche Diskussion unterbinden.
Diskutieren – auch wenn es heikel ist
Der Begriff des Populismus ist als Maßstab für die Bewertung kriminalpolitischer Unternehmungen weitgehend ungeeignet. Populismus ist eine politische Methode, kein inhaltliches Konzept. Der Populismus-Vorwurf kann nicht gegen eine kriminalpolitische Forderung als solche erhoben werden, ein Vorschlag delegitimiert sich nicht dadurch, dass er von einer Mehrheit oder von Populisten mitgetragen wird. Vielmehr kann nur die dem Vorschlag zugrunde liegende Argumentation populistisch sein.
Doch auch nicht jedes schwache Argument ist populistisch – sondern eben unplausibel, unbelegt, zu kurz gedacht oder an der Sache vorbei. Ob derlei Kritik zutrifft, muss sich im Rahmen der sachlichen Auseinandersetzung klären. Ein vorschneller Populismus-Vorwurf jedoch schneidet diese Auseinandersetzung von vornherein ab. Dann droht das, was die Politikwissenschaftler Dirk Jörke und Veith Selk in ihrem Buch "Theorien des Populismus" beschreiben: Der Populismus-Vorwurf wird zum "polemischen Mittel", um "politische Prozesse oder Akteure […] abzuwerten".
Das Recht ist immer im Wandel, nur so kann es auf Veränderungen in der Gesellschaft reagieren. Wer für neue Herausforderungen Lösungen finden will, der muss geltende Regelungen und vermeintliche Gewissheiten hinterfragen. Alles, was sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt, darf und muss diskutiert werden. Der undifferenzierte Populismus-Vorwurf aber lähmt notwendige Debatten und hindert uns daran, kreative neue Wege zu gehen – oder die alten mit den besten Argumenten zu verteidigen.
Die Autorin ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für deutsches und ausländisches Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medienstrafrecht an der Universität Leipzig.
Alles populistisch?: . In: Legal Tribune Online, 05.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55153 (abgerufen am: 10.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag