Darf der Bundespräsident "verfassungsrechtliche Zweifel" angeben und sich dann ausschweigen? Außerdem in der Presseschau: Fahrerlaubnis auch ohne Pass, Berliner Kopftuchstreit und Sex in der "Erlebnisgrotte".
Thema des Tages
Mitteilungspflicht von verfassungsrechtlichen Bedenken: Bundespräsident Gauck hat mehrfach vor der Unterzeichnung von Gesetzen verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. Welche Bedenken das waren, hat er nicht ausgeführt, weder gegenüber der Öffentlichkeit noch dem Gesetzgeber. Er hat auch nicht angegeben, warum die Bedenken nicht durchgreifend waren und einer Unterzeichnung im Ergebnis nicht entgegen standen. Der Tagesspiegel lässt derzeit verwaltungsgerichtlich überprüfen, ob sich aus der amtlichen Äußerung verfassungsrechtlicher Bedenken nicht eine Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit ergibt, diese Bedenken näher auszuführen. Es berichtet der Tagesspiegel (Jost Müller-Neuhof).
Rechtspolitik
Geschäftsmäßige Suizidhilfe: Eine Gruppe von Abgeordneten aller Fraktionen hat einen Gesetzentwurf für ein Verbot organisierter Sterbehilfe vorgelegt. Als § 217 des Strafgesetzbuchs soll "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" unter Strafe gestellt werden, ohne die Straflosigkeit der Suizidhilfe im Übrigen in Frage zu stellen. Es berichten SZ (Kim Björn Becker), FAZ (Heike Schmoll) und zeit.de (Katharina Schuler). Die Welt (Matthias Kamann) gibt einen Überblick über die verschiedenen Vorschläge einer Regelung der (gewerblichen) Suizidhilfe.
Fliegender Gerichtsstand: Bei den anstehenden Änderungen des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ist der Vorschlag, den sogenannten fliegenden Gerichtsstand abzuschaffen, abgelehnt worden. Rechtsanwalt Oliver Löffler legt in der FAZ dar, dass durch die quasi freie Gerichtswahl die entsprechenden Fälle regelmäßig bei spezialisierten Richtern landen und insbesondere deshalb die Abschaffungsforderung verfehlt sei.
SUP: Die Rechtsprofessoren Peter Hommelhoff und Christoph Teichmann besprechen in der FAZ die im Entstehen begriffene EU-Richtlinie zur Ein-Personen-Gesellschaft (SUP, Societas Unius Personea). Damit die SUP als kleine Version der "Europa-AG" (SE, Societas Europaea) fungieren könne, seien weitere Regeln erforderlich, die die Steuerung der Gesellschaften als Teil eines Konzerns erleichtern.
Verfassungsschutz: lto.de (Annelie Kaufmann) berichtet von der Expertenanhörung, die am gestrigen Dienstag zum "Gesetzentwurf zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes" stattfand.
Hamburg – Verfassungsänderung zu Volksentscheid: Die Hamburger Bürgerschaft hat ein Initiativrecht der Bürgerschaft für Volksentscheide in die Verfassung geschrieben. Zuvor konnten Volksentscheide lediglich von der Bevölkerung ausgehen. Grund war ein beabsichtigter Volksentscheid zur Hamburger Olympiabewerbung, Folge ist ein Streit über ein Mehr oder Weniger an Demokratie durch die Verfassungsänderung. Es berichtet die FAZ (Frank Pergande).
Justiz
EuGH – OMT-Programm und Präsidentenwechsel: Am kommenden Dienstag wird der Europäische Gerichtshof seine Entscheidung über die Vorlagefrage des Bundesverfassungsgerichts zum OMT-Programm der Europäischen Zentralbank verkünden. Außerdem endet im Herbst die Amtszeit des in Deutschland ausgebildeten, griechischen EuGH-Präsidenten Vassilios Skouris. Im Bezug auf diese Ereignisse befasst sich die FAZ (Reinhard Müller) mit dem Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG. Die Welt stellt kurz dar, worum es bei der Entscheidung geht und welche Auswirkungen sie haben kann.
BGH zu Flugannulierung durch Vorverlegung: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Vorverlegung eines Flugs um neun Stunden einer Annulierung gleich steht und entsprechende Ausgleichsansprüche nach sich zieht. Es berichten lto.de und lawblog.de (Udo Vetter).
BGH zu Notwehr gegen Polizei: Der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung zum Rechtmäßigkeitsmaßstab für (polizeiliche) Vollzugsakte bestätigt. Als der Angeklagte sich gegen die Polizisten, die ihn zur Abschiebung abholten wehrte, war er nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Die Abschiebung war zwar rechtswidrig, aber nicht wegen Unzuständigkeit, offensichtlicher Unverhältnismäßigkeit oder Willkür. Es berichten die taz (Christian Rath) und blog.beck.de (Bernd von Heitschel-Heinegg).
VGH Kassel zu Fahrerlaubnis für Ausländer: Auch wer nicht durch Pass oder Geburtsurkunde Ort und Tag seiner Geburt nachweisen kann, ist nicht unbedingt am Erwerb eines Führerscheines gehindert. Das entschied der hessische Verwaltungsgerichtshof im Fall eines Ausländers mit vorläufiger Aufenthaltsgenehmigung, der eine eidesstattliche Versicherung zu Geburtsort und -zeit abgeben wollte. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, berichtet lto.de.
VGH Mannheim zu Grabsteinen ohne Kinderarbeit: Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof hob eine Regelung auf, nach der Grabsteine nachweislich ohne Kinderarbeit hergestellt worden sein mussten. Es gebe kein hinreichend kontrolliertes Zertifikat nach welchem sich Steinmetze richten könnten, daher beschränke die Regel sie in ihrer Berufsausübungsfreiheit ungerechtfertigt hart. Das melden lto.de und lawblog.de (Udo Vetter).
BFH zu Barzahlung: Wer Kinderbetreuung steuerlich geltend machen will, muss Tagesmutter oder Babysitter per Überweisung bezahlt haben und eine Rechnung vorweisen können, entschied der Bundesfinanzhof laut FAZ (Joachim Jahn).
OVG Lüneburg zu Arbeitszeitverordnung: Das niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat die Arbeitszeitverordnung nach der Gymnasiallehrer eine Stunde pro Woche mehr unterrichten sollten aufgehoben. Die Begründung der Ungleichbehandlung von Gymnasiallehrern gegenüber anderen sei nicht hinreichend belegt. Es berichten FAZ (Reinhard Bingener), SZ (ojo) und lto.de.
OLG München – NSU-Prozess: spiegel.de (Gisela Friedrichsen) schreibt über die zweifelhafte Aussage des Zeugen Marcel D., der seine V-Mann-Tätigkeit bestreitet und als Führungsfigur bei "Blood aand Honor" das NSU-Trio nicht gekannt haben will. Die taz meldet, dass ein Gutachten bestätigt, dass die Zeugin Melissa M. eines natürlichen Todes gestorben ist, was fraglich erschien.
OLG München – Deutsche Bank-Prozess: Die FAZ (Joachim Jahn) bringt einen Zwischenstand zum Prozess gegen (ehemalige) Deutsche Bank-Manager wegen möglichen Prozessbetrugs. Der Angeklagte Tessen von Heydebreck könne möglicherweise eine Falschaussage eingestanden haben. Auch spiegel.de schreibt dazu.
ArbG Düsseldorf: Leistungsboni sind Arbeitslohn und dürfen vom Arbeitgeber auf den Mindestlohn angerechnet werden, entschied das Arbeitsgericht Düsseldorf laut FAZ (Joachim Jahn). Der Mindestlohn solle bei Vollbeschäftigung einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Entscheidend sei daher nur, wie lange für wie viel Geld gearbeitet werde.
StA Dortmund – NS-Verfahren: Die FAZ (Reiner Burger/Alexander Haneke) beschreibt die Bemühungen des Dortmunder Oberstaatsanwalts Andreas Brendel, Leiter der Dortmunder Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen, um ein Strafverfahren wegen des SS-Massakers in Oradour-sur-Glane/Frankreich am 10. Juni 1944. Gegen einen Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Köln hat er Beschwerde eingelegt, die auf Grundlage der Beihilfe-Konstruktion in den Fällen Demjanjuk und Gröning noch zur Eröffnung führen könnte. Das LG hatte sich an die alte Beihilferechtsprechung in NS-Fällen gehalten.
Revision mit "Vier-Augen-Prinzip": In seiner Kolumne legt Bundesrichter Thomas Fischer auf zeit.de seine Kritik an der Handhabung von strafrechtlichen Revisionen durch den Bundesgerichtshof dar. Regelmäßig sehen nur vier Augen die Akten, die übrigen drei Richter entscheiden nach mündlichem Vortrag unter Verstoß gegen die Verpflichtung des gesetzlichen Richter zu gleichermaßen umfassender Kenntnis des Verfahrensstoffs.
Recht in der Welt
Österreich – Homo-Elternschaft: Rechtswissenschaftlerin Karin Neuwirth setzt sich auf juwiss.de mit den österreichischen Regelungen zur Elternschaft auseinander. Anlass ist eine neu eingeführte Bestimmung zur Abstammung eines Kindes von der Partnerin einer künstlich befruchteten Mutter.
Sonstiges
Kopftuchstreit: Das Berliner Bezirksamt Kreuzberg-Neuköln hat den Kopftuchstreit mit einer Rechtsreferendarin nach dem geltenden Neutralitätsgesetz gelöst. Sie darf ihre Referendarsstation im Bezirksamt antreten, jedoch keine Aufgaben übernehmen, bei welchen sie dem Bürger in hoheitlicher Funktion gegenübertritt. Dazu schreibt lto.de (Constantin van Lijnden).
Christian Bommarius (BerlZ) hält das Berliner Neutralitätsgesetz vor dem Hintergrund des Kopftuchbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts für unhaltbar. Die Deutung religiöser Symbole sei den Trägern zu überlassen, für die staatliche Neutralität sei maßgeblich, dass diese sich "zu diesem Staats, zu dieser Gesellschaft bekennen". Alexander Kissler (focus.de) hingegen spricht sich im Bezug auf "hoheitliche Aufgaben in des Wortes maximaler Bedeutung" für ein striktes Kopftuchverbot aus, weil dieses als Bekenntnis zur Geschlechtertrennung ein Symbol gegen die Gleichheit sei.
Verkehrsinfrastrukturgesellschaft: Zur Bekämpfung maroder deutscher Straßen hat eine Expertenkommission die Gründung einer Verkehrsinfrastrukturgesellschaft im Bundesbesitz vorgeschlagen. An diese fließende Gebühren oder Beiträge für Straßennutzung sollen in die Instandhaltung zurückfließen. Rechtsanwalt und Professor Michael Uechtritz bespricht auf lto.de den Vorschlag und hält eine Änderung von Artikel 90 Ansatz 2 des Grundgesetzes für erforderlich.
Sonderermittler NSA/BND: Heribert Prantl (SZ) meint, das Ansinnen der Bundesregierung, einen Ermittlungsbeauftragen zur Einsichtnahme in die Selektorenliste einzusetzen, sei "ungefähr so,
als würde Sepp Blatter selber bestimmen, wer gegen ihn und die Fifa ermittelt." Bestimmung der Exekutive über die Ausübung parlamentarischer Kontrolle sei ein Verstoß gegen Grundregeln des Parlamentarismus.
Das Letzte zum Schluss
Rutschende Badehose: Ein junges Paar wurde vom Amtsgericht Augsburg zu zwei Wochen Jugendarrest bzw. Freizeitarrest und sozialen Hilfsdiensten verdonnert, weil es in der "Erlebnisgrotte" eines Schwimmbads Sex hatte. Dass ihm nur die Hose hinunter gerutscht sei, nahm das Gericht dem Angeklagten nicht ab und verurteilte wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, berichtet spiegel.de.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 10. Juni 2015: Schweigen des Präsidenten – Rechtmäßigkeit der Polizei – Kopftuch der Referendarin . In: Legal Tribune Online, 10.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15805/ (abgerufen am: 11.05.2024 )
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