AG Hannover zu folgenschwerem Schulstreich: Kein Schmerzensgeld nach Stuhlwegziehen im Klassenzimmer

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Für einen Streich mit bösen Folgen muss ein Jugendlicher kein Schmerzensgeld an seinen ehemaligen Mitschüler zahlen. Das entschied das AG Hannover am Dienstag unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH.
Der heute 17-Jährige hatte in der neunten Klasse seinem Sitznachbarn den Stuhl weggezogen. Dieser fiel auf sein Steißbein, schlug mit dem Kopf auf und erlitt Prellungen sowie Blutergüsse. Weil das Opfer unter der Bluterkrankheit leidet, musste der Junge anschließend drei Tage im Krankenhaus beobachtet werden. Da er zudem monatelang unter Schmerzen litt, verklagte er den Stuhlwegzieher auf 1.400 Euro Schmerzensgeld.
Das Amtsgericht (AG) Hannover wies die Klage ab, weil nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) Kinder für Neckereien untereinander im Klassenzimmer in der Regel nicht haften müssen. "Das ist kein Freifahrtschein, dass man sich in der Schule prügeln darf", sagte Richterin Catharina Schwind. Nach Schulunfällen hat eine Zivilklage Aussicht auf Erfolg, wenn dem Verursacher Vorsatz nachzuweisen ist. Der Vorsatz muss sich der Richterin zufolge aber nicht nur aufs Wegziehen des Stuhls, sondern auch auf die gesundheitlichen Folgen beziehen. Im aktuellen Fall liege kein Vorsatz vor, sagte Schwind (Urt. v. 28.07.2015, Az. 465 c 15083/14).
dpa/mbr/LTO-Redaktion
Das ist eine erstaunlich enge Auffassung des Wissenselements des Vorsatzes, wenn man sich einmal vor Augen führt, was sonst so alles im Bereich der Fahrlässigkeit zum Unmittelbarkeitszusammenhang "vorhersehbar" ist.
C. SmetsSofern man davon ausgeht, dass jemand nach dem Wegziehen nicht in der Luft schwebt, erstreckt sich der Vorsatz auch auf Verletzungen.
Aber eher nicht auf derartig schwere Verletzungen, und ohne diesbezüglichen Vorsatz gibt's kein Schmerzensgeld.
Zumal ja auch der Grundsatz gilt "Der Geschädigte ist so zu nehmen wie er ist". Wenn jemand Bluter ist und deswegen mehr bzw. länger Schmerzen hat, so muss das nunmal auch honoriert werden. Andernfalls m+üssten ja auch Krankenhauskosten die deswegen mehr anfallen, weil jemand eine Erkrankung aufweist. Ich persönlich halte das Urteil für verfehlt.
Allerdings kann ich mir als Bluter auch nicht gerade Objektivität in diesem Fall auf die Fahne schreiben.
Geht ein bisschen in die Richtung 826 BGB. Ohne ordentliche Begründung ist es allerdings schwer nachzuvollziehen, warum 823 hier nicht vollumfänglich greifen soll.
PNein, ohne Rechtskunde ist das ein bisschen schwer nachzuvollziehen. Mit einem Blick ins SGB VII wird es verständlicher (§§ 105, 106 SGB VII).
Die Vorschriften gelten doch für Arbeitnehmer in einem Betrieb. Dann kriegt man in Zukunft auch bezahlten Urlaub vom Unterricht?
826? 828.
HuhuDie §§ 104 ff. SGB VII, so auch der § 106 I Nr. 1 SGB VII, sprechen von "Versicherten".
Der_LeserVersichert sind nach dem SGB VII nicht nur Arbeitnehmer (§ 2 I Nr. 1 SGB VII spricht genauer von Beschäftigten, siehe § 7 SGB IV), sondern noch viele andere Personen (siehe § 2 I Nr. 2-17,Ia-IV SGB VII), wie z.B. Schüler nach § 2 I Nr. 8 b) SGB VII.
Nach § 106 I Nr. 1 SGB VII haften die nach § 2 I Nr. 8 SGB VII versicherten Personen untereinander für (Körper-)Schäden nur unter den Voraussetzungen des § 105 SGB VII, also für Wegeunfälle oder für Vorsatz.
Und letzterer muss nicht nur die schädigende Handlung, sondern auch den Schaden selbst umfassen. Da ein Schädigungswille im vorliegenden Falle nicht zur Überzeugung des Gerichts bewiesen werden konnte, musste das Gericht wegen dieses Haftungsausschlusses den Schmerzensgeldanspruch versagen.
Der Vorsatz muss nicht den Eintritt des Schadens (haftungsausfüllender Tatbestand), sondern den Verletzungserfolg, also die Rechtsgutverletzung umfassen (haftungsbegründender Tatbestand). Das müsste selbst Juristen bekannt sein, deren Lektüre sich auf den Palandt beschränkt.