Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat ein Konzept vorgelegt, durch das u.a. die Arbeitszeit dem digitalen Zeitalter angepasst werden kann. Sie war aber nicht mutig genug, meinen Alexander Bissels und Hannah Krings. Dabei könnte alles so einfach sein.
Die Bundesarbeitsministerin hat in der laufenden Legislaturperiode "Großes" angestoßen. Nachdem die Reform des Fremdpersonaleinsatzes – eher schlecht als recht – am 25. November 2016 vom Bundesrat abgesegnet wurde und damit ohne weitere Änderungen am 01. April.2017 in Kraft treten kann, präsentierte Andrea Nahles am 29. November 2016 das Weißbuch Arbeiten 4.0 mit Vorschlägen zur Gestaltung der Arbeit in der Zukunft.
Vorgesehen ist – als einer von vielen Vorstößen – eine sogenannte "Experimentierklausel", durch die von den zwingenden Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit und der Ruhezeit abgewichen werden kann – allerdings zunächst lediglich befristet auf zwei Jahre und gebunden an eine Öffnungsklausel in einem Tarifvertrag, eine daran anknüpfend abgeschlossene Betriebsvereinbarung und an die Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer.
Das ArbZG – ein rechtlich (zu) enges Korsett
Die verbindlichen Rahmenbedingungen zur Ausgestaltung der Arbeitszeit legt das ArbZG fest. Es basiert auf dem im Jahr 1994 in Kraft getretenen Gesetz zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts zum Schutz der Arbeitnehmer vor übermäßiger Ausnutzung ihrer Arbeitskraft.
Kritik an den Regelungen im ArbZG lässt sich an verschiedenen Stellen platzieren: Sie sind nicht sachgerecht und lebensfremd. Besonders betrifft das die Vorgaben zur werktäglichen Höchstarbeitszeit und einzuhaltenden Ruhepausen.
Derzeit darf die werktägliche Höchstarbeitszeit im Grundsatz nicht mehr als acht Stunden betragen (§ 3 S. 1 ArbZG); eine Verlängerung auf bis zu zehn Stunden setzt voraus, dass innerhalb von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von 8 Stunden nicht überschritten wird (§ 3 S. 2 ArbZG). Weitergehende Abweichungen können zwar grundsätzlich durch Tarifvertrag bzw. auf Grund eines Tarifvertrags in entsprechenden Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vereinbart werden; die Voraussetzungen sind jedoch so eng gefasst, dass lediglich einzelne Branchen diese Spielräume nutzen können (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG).
Verstöße gegen das ArbZG sind Alltag
Nach Erbringung der Arbeitsleistung muss dem Arbeitnehmer eine Ruhezeit von mindestens elf Stunden gewährt werden (§ 5 Abs. 1 ArbZG), bevor er seine Arbeit erneut aufnehmen darf. Ruhezeit bedeutet dabei – und hier wird der Widerspruch zu den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt besonders deutlich –, dass der Arbeitnehmer ohne zeitliche Unterbrechung und ohne Verpflichtung gegenüber seinem Arbeitgeber frei über seine Zeit verfügen kann. Verlangt der Arbeitgeber während dieser Stunden die Benutzung des dienstlichen Mobiltelefons für eine wenige Minuten oder gar nur Sekunden andauerndes Telefonat, soll darin bereits eine unzulässige Unterbrechung der Ruhezeit liegen.
Dass dies nicht mehr zeitgemäß ist und in zahlreichen Branchen den dort geltenden Anforderungen widerspricht, wird schnell klar. Je deutlicher der Widerspruch, desto strenger die Rechtsfolge: Im Falle einer Unterbrechung der vorgeschriebenen Ruhezeit beginnt diese wieder von vorn.
Dennoch soll an diesen Vorgaben nicht gerüttelt werden: Für eine "Bagatellregelung" für kurze Unterbrechungen (z.B. das Schreiben einer E-Mail) - so heißt es in dem Weißbuch wörtlich (S. 118) – bestehe innerhalb der EU- Arbeitszeit-RL 2003/88/EG kein Spielraum. Der gesetzliche Rahmen geht dabei in Gänze an der Arbeitsrealität vorbei. Vor diesem Hintergrund gehören Verstöße gegen das ArbZG mittlerweile branchenübergreifend zum Alltag.
2/3: Gesetz ist mehr Einschränkung als Sicherheit
Vor dem Hintergrund dieses engen, vom ArbZG gesetzten Rahmens fordert die Wirtschaft bereits seit Jahren eine Lockerung der als zu starr empfundenen, wenig flexiblen und nicht mehr mit den Anforderungen eines modernen Arbeitens zu vereinbarenden Regelungen. Denn insbesondere bei Tätigkeiten, bei denen arbeitgeberseitig ein besonders hohes Maß an Leistung, Flexibilität und Kreativität verlangt wird und der Arbeitnehmer bereit ist, den entsprechenden Einsatz zu erbringen – mit der Konsequenz, dass die Schutzbedürftigkeit dieser Personen weniger stark ausgeprägt ist - verfehlen die Vorgaben des ArbZG ihr Ziel.
Das Gesetz wird heute - auch arbeitnehmerseitig - verstärkt mehr als Einschränkung denn als Sicherheit wahrgenommen. Forderungen nach Reformen des ArbZG gibt es zahlreiche, bspw. steht ein Übergang von werktäglichen auf monatliche Höchstarbeitszeiten ebenso im Raum wie eine Abschaffung der Aufzeichnungspflicht nach § 16 Abs. 2 ArbZG.
Unabhängig von der Frage, ob die Entwicklung in Richtung einer praktisch jederzeit und allerorts abrufbaren Arbeitsleistung zu begrüßen ist oder nicht, steht das geltende Gesetz nicht mehr in Einklang mit den Bedürfnissen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dieser Befund dürfte zunächst unstreitig sein.
Wahlarbeitszeit innerhalb eines Experimentierzeitraums
Nun gibt es verschiedene Wege, mit diesem offenkundigen Reformstau umzugehen – das Weißbuch zeigt eine Möglichkeit auf, insbesondere das ArbZG – eventuell und in jedem Fall verbindlich erst zu einem späteren Zeitpunkt – in "Trippelschritten" an die An- und auch Herausforderungen des Arbeitens 4.0 anzupassen.
Bedauerlicherweise bleibt das Weißbuch hinter den Erwartungen zurück - auch wenn die Zurückhaltung von Ministerin Nahles vor dem Hintergrund, dass nach wie vor zahlreiche Arbeitnehmergruppen existieren, die vor der Ausnutzung ihrer Arbeitskraft durch den Arbeitgeber geschützt werden müssen und für die arbeitszeitrechtliche Selbstbestimmung nicht im Fokus steht, grundsätzlich nachvollziehbar ist.
Mittels Einführung eines Wahlarbeitszeitgesetzes sollen laut Weißbuch (S. 124 f.) mehr Wahloptionen für Beschäftigte bei Arbeitszeit und –ort umgesetzt werden mit einer konditionierten Möglichkeit, von den geltenden Regelungen des ArbZG (hinsichtlich Tageshöchstarbeitszeit und Ruhezeit) abzuweichen. Diese Neuerungen stünden in Einklang mit den Zielen des Arbeitsschutzes und der Zeitsouveränität. Diese Möglichkeiten bestehen – befristet auf zwei Jahre – allerdings nur für Betriebe, die nachstehende Voraussetzungen erfüllen:
- Ein Tarifvertrag muss diese Öffnung zulassen, kann diese auf bestimmte Beschäftigtengruppen beschränken und genauere Anforderungen an betriebliche Wahlarbeitszeitkonzepte festlegen.
- Es muss eine Betriebsvereinbarung über Wahlarbeitszeitkonzepte vorliegen. Hierzu gehören zumindest klare Festlegungen zur Aufzeichnung der Arbeitszeit und die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen.
- Der Öffnung müssen auch betroffene Arbeitnehmer zustimmen.
- Diese ist zudem an die Bereitschaft der Betriebe gebunden, die Auswirkungen im Rahmen eines Experimentierraums zu evaluieren oder evaluieren zu lassen und die Ergebnisse der Bundesregierung zur Verfügung zu stellen. Dem Mehr an Flexibilität müssen in der Umsetzung neue Schutzrechte entgegengestellt werden. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass eine maximal zweifache Überschreitung der gesetzlichen Tageshöchstarbeitszeit von zehn Stunden nicht zu einer Überschreitung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden führt und ihr spätestens in der Folgewoche ein freier Arbeitstag folgen muss. In jedem Fall sollten die geltenden Ausgleichszeiträume, in denen im Schnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden dürfen, deutlich enger gefasst werden.
3/3: Auswertung nach zwei Jahren
Die Ergebnisse der betrieblichen Experimentierräume sollen in einem ersten Schritt nach zwei Jahren im Hinblick u.a. auf innovative sozialpartnerschaftliche und betriebliche Kompromisse sowie die Auswirkungen hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit und des Arbeitsschutzes ausgewertet werden. In einem nächsten Schritt könnten diese Ergebnisse gegebenenfalls in dauerhafte Regelungen im Wahlarbeitszeit- sowie im Arbeitszeitgesetz festgeschrieben werden.
Die Bundesarbeitsministerin beschreibt es als ihr Ziel, die Tarifbindung zu stärken. Eine Lockerung der Vorgaben des ArbZG setze das Vertrauen der Arbeitnehmer in ihren Arbeitgeber voraus; dies wiederum werde durch einen transparenten Transformationsprozess, den die Bundesarbeitsministerin nur in tarifgebundenen Unternehmen als gegeben ansieht, geschaffen.
Eine etwaige "echte" Änderung des ArbZG macht das Weißbuch von dem Ausgang des Experiments abhängig. Dies ist aus verschiedenen Gründen bedauerlich. Die Ankündigung, die Experimentierphase in einigen Jahren auszuwerten und sodann über eine Änderung des ArbZG nachzudenken, ist nicht mehr als ein erster, aber gleichzeitig zu zaghafter Schritt in die richtige Richtung, nämlich die Wirtschaft und die Arbeitswelt auf ein Arbeiten 4.0 einzustellen.
Auch an den für den Zugang zur Experimentierphase aufgestellten Voraussetzungen lässt sich Kritik üben – es ist durchaus fragwürdig, ob das Vertrauen der Arbeitnehmer in einen neuen Prozess durch die zwingende Einbeziehung der Tarifpartner eher gestärkt wird als es bei einer exklusiven Beteiligung des Betriebsrats, immerhin Teil der Belegschaft, der Fall wäre.
Die Bundesarbeitsministerin will auf Nummer sicher gehen und verlangt auf kollektiver Ebene gleich einen doppelten Sicherungsmechanismus, nämlich eine tarifliche Regelung, die es sodann den Betriebspartner ermöglicht, eine Wahlarbeitszeit zu vereinbaren. Dies ist nicht nur schwerfällig und bürokratisch, sondern bevormundet auch die Betriebspartner, die erst nach einer grundsätzlichen Freigabe der Wahlarbeitszeit durch die Tarifpartner aktiv werden können. Zudem scheint das Weißbuch tarifungebundene Unternehmen von einer Wahlarbeitszeit ausschließen zu wollen – ein weiterer Versuch der Bundesarbeitsministerin, die in der Vergangenheit immer weiter schwindende Tarifbindung von Unternehmen wieder zu steigern.
Nötiger Spielraum wäre bereits vorhanden
Insbesondere in Bezug auf Arbeitnehmergruppen, deren Flexibilität arbeitgeberseitig gefordert und arbeitnehmerseitig gewünscht wird, besteht jedoch ein unmittelbarer Handlungsbedarf – und gibt hierzu es bereits heute den benötigten Spielraum.
Die Regelungen des ArbZG schöpfen den Rahmen, den die Arbeitszeit-RL 2003/88/EG bietet, derzeit nicht aus. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie eröffnet die Möglichkeit – neben leitenden Angestellten, die bereits heute dem ArbZG nicht unterfallen – "sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis" (teilweise) aus dem Anwendungsbereich des national geltenden Gesetzes auszunehmen.
In Ermangelung einer Legaldefinition oder diesen Begriff modifizierender Rechtsprechung sprechen gute Gründe dafür, beispielsweise Arbeitnehmer, denen Handlungsvollmacht erteilt worden ist, hierunter zu fassen. Eine entsprechende Gesetzesänderung wäre – auch ohne eine Experimentierphase und ohne die Einbindung der Tarifvertragspartner - im Sinne einer gewünschten Selbstbestimmung dieser Arbeitnehmergruppe und unter Berücksichtigung einer modernen Gestaltung der Arbeitsbedingungen auch zeitgemäß (vertiefend hierzu: Bissels/Krings, Dringend gebotene Reform des Arbeitszeitgesetzes – Neues wagen, NJW 2016, 3418 ff.).
Dies schließt freilich weitere Anpassungen, die zum Schutz der überwiegenden Anzahl von Arbeitnehmern mit Bedacht und erst – wie im Weißbuch Arbeiten 4.0 vorgesehen – nach entsprechender Evaluierung getroffen werden können, nicht aus. Durch richtig gesetzte Prioritäten, gepaart mit etwas Mut, könnte mindestens ein Teil des für das Arbeiten 4.0 benötigten rechtlichen Rahmens unmittelbar geschaffen werden – es könnte alles so einfach sein.
Dr. Alexander Bissels ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS in Deutschland.
Dr. Hannah Krings ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und Rechtsanwältin bei der AIR LIQUIDE Deutschland GmbH.
Dr. Alexander Bissels und Dr. Hannah Krings , Das Weißbuch Arbeiten 4.0: Trippelschritte in die moderne Arbeitswelt . In: Legal Tribune Online, 01.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21326/ (abgerufen am: 24.09.2023 )
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