Frauen bekommen weniger Gehalt als Männer. Doch an welcher Person im Unternehmen darf man die Ungleichheit konkret festmachen? Das LAG in Stuttgart hat dafür eine Systematik aufgemacht, die von der BAG-Rechtsprechung abweicht.
Der Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht (LAG), Dr. Johannes Bader, ist sich schon früh sicher, dass er hier nicht das letzte Wort haben wird. Er habe er sich schon ein paar Wochen mit dem Fall befasst. "Es spricht viel dafür, dass der Fall hier nicht endet und dafür, Sie nach Erfurt zu schicken", meint er. In Erfurt sitzt mit dem Bundesarbeitsgericht (BAG) die nächste Instanz, doch womöglich wären die Rechtsfragen auch etwas für den Europäischen Gerichtshof (EuGH), meint der Vorsitzende. Die Revision wird er jedenfalls zulassen. Und die Klägerin wird sie nutzen, das hat die Daimler-Beschäftigte an diesem Nachmittag bereits mitgeteilt.
Es ist das Verfahren einer Frau, die als Führungskraft auf der dritten Ebene im Daimler-Konzern arbeitet. Seit rund 30 Jahren ist sie dort, die Hälfte der Zeit im Management. Sie wurde Mutter, war auch während der Elternzeit in Teilzeit tätig, kam dann zunächst in Teilzeit und später in Vollzeit zurück. Nur bekommt sie für ihre Arbeit nicht so viel Geld wie ihre männlichen Kollegen, das hatte das Arbeitsgericht (ArbG) in Stuttgart bereits festgestellt (Urt. v. 22.11.2023, Az. 22 Ca 7069/21) und ihr einen Ausgleich zugesprochen.
Bei der Verhandlung in Stuttgart gibt es an diesem Vormittag zu keiner Zeit einen Moment, in dem dieses Urteil dem Grunde nach ernsthaft in Frage gestellt wird – außer von der Beklagten. Denn die Fakten sprechen für eine Diskriminierung: Frauen bekamen über Jahre auf der Ebene der Klägerin im Median weniger Gehalt als Männer, die Klägerin noch mal weniger als ihre weiblichen Kolleginnen. Dieser unterschiedlichen Bezahlung liegen keine objektiv überprüfbaren Kriterien zugrunde. Für die Klägerin steht fest: Sie wurde aufs Abstellgleis geschoben und diskriminiert. Die Vermutung dafür lag wegen der geringeren Bezahlung schon aus Sicht des ArbG vor – nur das Unternehmen selbst hätte diese widerlegen können. Das gelang an diesem Dienstag in Stuttgart auch vor dem LAG nicht.
Überraschend ist die Entscheidung des LAG dennoch: Das Gericht hat der Klägerin einen Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem weiblichen und dem männlichen Median zugesprochen (LAG, Urt. v. 01.10.2024, Az. 2 Sa 14/24)
Spitzenmann oder Mittelfrau?
Die Frage nach der richtigen Bezugsgröße war es, worum es vor allem in der mündlichen Verhandlung ging. Denn um die Höhe des vom Arbeitgeber nachzuzahlenden Entgelts bemessen zu können, muss man entscheiden, nach wessen Gehalt die Differenz zu berechnen ist. Dafür ging es an die Entstehung des Entgelttransparenzgesetzes (EntgTranspG), den Sinn und Zweck des Gesetzes und die Übereinstimmung mit der Rechtsprechung von EuGH und BAG. Sarah Lincoln von der GFF sei für diese Fragen eine Expertin, sagte Richter Bader. Schließlich hatte sie für die GFF zwei Frauen bei Verfahren unterstützt, die an diesem Tag zur Sprache kommen sollten.
Die Bezugsgröße könnte der Median sein – also ein Mittelwert auf einer Skala mit allen Gehältern in der relevanten Hierarchiestufe. Die Klägerin aber hatte einen Mann als Vergleichsperson benannt, der ein absoluter Spitzenverdiener in dieser Gruppe ist und daher weit nach oben vom Median abweicht.
Nach Ansicht von Richter Bader könne diese Person nicht herangezogen werden. Er bezieht sich auf den Wortlaut früherer Entscheidungen. In diesem Fall sei die Bezugsperson ein Spitzenverdiener innerhalb der Gruppe, das sei in den anderen Entscheidungen anders gewesen. Ihm sei kein Fall aus der Rechtsprechung bekannt, in dem ein Mann mit seinem Gehalt deutlich über der Vergleichsgruppe gelegen habe.
Keine Frau an die Verdienstspitze?
Lincoln sieht das anders. Nach ihrer Ansicht gibt das EntgTranspG den Anspruch auf die Auskunft nach dem Median. Die Ermittlung der Höhe des Zahlungsanspruchs aber folge aus dem Vergleich des eigenen Gehalts mit dem eines anderen Beschäftigten. Welcher das sei, könne sich die Anspruchsinhaberin aussuchen, das folge aus dem Wortlaut der §§ 3 und 7 EntgeltTranspG, die lediglich von "einem oder einer Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts" sprechen.
"Würde man für die Höhe des nachzuzahlenden Gehaltes den Median zugrunde legen, könnte eine Frau, die innerhalb einer Gruppe schlechter bezahlt wird, nie diskriminiert werden, solange ihr Gehalt noch über dem Median liegt", argumentiert die GFF-Juristin. Auf den Punkt gebracht sagt sie: "Dann kann man als Frau nur so gut sein, wie der mittlere Mann". Eine Frau könne hingegen nie verlangen, genauso gut bezahlt zu werden wie der Spitzenverdiener.
Lincoln stellt klar: "Jedes Unternehmen ist frei in seinen Gehältern und darf auch Frauen und Männer unterschiedlich bezahlen". Doch die Unterschiede müssten an objektiven Kriterien überprüfbar und justiziabel sein – bei Daimler fehle es daran.
Dieser juristische Streit stand im Saal – und das Urteil hat ihn nicht beendet. Denn die Kammer entschied sich für eine ganz andere Bewertung, als sie in der Verhandlung hatte durchblicken lassen: Die Frau bekommt nicht die Differenz zum Median innerhalb der allgemeinen Vergleichsgruppe, sondern den Unterschied zwischen dem weiblichen und dem männlichen Median. "Das ist kurios", sagt Lincoln gegenüber LTO. "Indem das LAG zwei Mediane bildet, weicht es klar von den Vorgaben von BAG und EuGH ab", so Lincoln. Ähnlich habe schon das LAG Niedersachsen im Jahr 2021 entschieden, das BAG habe diese Entscheidung aufgehoben.
Ob das BAG dies wieder tut, wird sich zeigen. Jedenfalls ist Erfurt an der Reihe – wie vom Vorsitzenden prognostiziert.
LAG zur Lohnungleichheit bei Daimler: . In: Legal Tribune Online, 01.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55546 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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