Die deutschen Behörden müssen Pflanzenschutzmittel nach EU-Recht zulassen, obwohl sie Gefahren für die Umwelt sehen. Im Streit mit Herstellern und dem VG Braunschweig gehen sie jetzt einen ungewöhnlichen Weg.
Eigentlich ist es Aufgabe des Umweltbundesamtes (UBA), zu bewerten, wie gefährlich bestimmte Pflanzenschutzmittel für die Umwelt sind – und einzugreifen, wenn sich dabei herausstellt, dass ein Pestizid etwa Regenwürmern gefährlich wird oder das Grundwasser verunreinigt.
Doch bei der Behörde hat man inzwischen den Eindruck, dass Hersteller von Pflanzenschutzmitteln gezielt eine strenge Prüfung umgehen. Die Unternehmen können sich nämlich aussuchen, in welchen EU-Mitgliedstaaten sie einen Antrag auf Zulassung stellen. Alle Mitgliedstaaten derselben Zone müssen die Zulassung dann ebenfalls anerkennen.
So sieht es jedenfalls die EU-Pflanzenschutzverordnung vor. Unklar ist, wie weit dieser Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung reicht. Können die Zulassungsbehörden von der Bewertung eines anderen Mitgliedstaates abweichen? Zumindest wenn offensichtlich ist, dass nicht gründlich geprüft wurde?
Bisher sehen sich die deutschen Behörden gezwungen, auch Pestizide auf den Markt zu lassen, die sie lieber ablehnen oder einschränken würden. Doch nun soll Karlsruhe helfen: Über eine Verfassungsbeschwerde wollen sie erreichen, dass sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit den umstrittenen Fragen beschäftigt.
Die Bundesrepublik Deutschland zieht also als Beschwerdeführerin vor ihr eigenes Verfassungsgericht, weil sie der Meinung ist, dass das zuständige Verwaltungsgericht (VG) Braunschweig die Arbeit ihrer Bundesbehörden "unterminiert". So steht es in der Beschwerdeschrift, die LTO vorliegt. Eine ziemlich ungewöhnliche Situation, soweit ersichtlich sogar die erste Verfassungsbeschwerde des Bundes. Ein Sprecher des Bundesverfassungsgerichts bestätigte, dass die Beschwerde in Karlsruhe eingegangen ist (Az.: 1 BvR 1523/23).
Das BVL muss Pestizide zulassen – trotz Umweltrisiken
Wie konnte es dazu kommen? Durch ein juristisches Ping-Pong-Spiel, das sich in den vergangenen Jahren mehrfach wiederholt hat: Ein Unternehmen stellt einen Antrag auf Zulassung eines Pestizids in den Mitgliedstaaten einer bestimmten Zone. Deutschland gehört zur mittleren Zone, die sich von Irland über Belgien und Tschechien bis Rumänien erstreckt. Die Unternehmen können sich dabei aussuchen, in welchen Mitgliedstaaten dieser Zone sie ein Pflanzenschutzmittel auf den Markt bringen wollen, und auch vorschlagen, welcher Staat die Risikobewertung federführend übernehmen soll, legt Art. 33 der EU-Pflanzenschutzverordnung fest.
Deutschland bleibt in dieser Runde immer öfter außen vor, ist also weder federführend noch mitberatend in die Prüfung der Risiken eingebunden. Dennoch kann das Unternehmen später auch in Deutschland einen Antrag auf Zulassung stellen und zwar im Wege der "gegenseitigen Anerkennung" nach Art. 40 der EU-Pflanzenschutzverordnung. Dazu wendet sich das Unternehmen an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und verweist auf die schon bestehende Zulassung in einem anderen Mitgliedstaat. Das BVL bezieht andere Bundesbehörden in das Verfahren mit ein, darunter auch das UBA, das die Auswirkungen auf die Umwelt prüft.
Kommt das UBA zu dem Schluss, dass die Umweltrisiken zu hoch sind, lehnt das BVL den Antrag ab. Doch die Hersteller der Pestizide müssen sich damit nicht abfinden. Sie können gegen die Verweigerung der Zulassung beim VG Braunschweig klagen, denn Braunschweig ist der Sitz des BVL. Und dort bekommen sie regelmäßig Recht: Das VG verurteilte das BVL schon mehrfach dazu, die Zulassung – entgegen der Bedenken des UBA – zu erteilen. Die deutschen Behörden seien an die Bewertung eines anderen Mitgliedstaats ohne Wenn und Aber gebunden, so das VG.
Die Bundesbehörde will über Karlsruhe zum EuGH
Das BVL hat das bisher so hingenommen, "aus politischen Gründen", wie es in der Beschwerdeschrift heißt, die der Münsteraner Umweltrechtler Prof. Dr. Patrick Hilbert verfasst hat. Doch das UBA hat schon 2022 in einer Pressemitteilung davor gewarnt, dass der Umweltschutz ausgehebelt werde. In Europa setze sich nach und nach der niedrigste Standard durch, denn die Hersteller suchen sich bewusst Mitgliedstaaten aus, in denen etwa neuere Studien nicht berücksichtigt werden, kritisiert das UBA. Nach Angaben des BVL können die deutschen Behörden in knapp neunzig Prozent aller Zulassungen nicht mehr eigenständig entscheiden.
Nun reicht es sowohl dem UBA, das die treibende Kraft im Streit mit den Herstellern ist, als auch dem BVL, das als Zulassungsbehörde die Verfahren führt. In einem Fall, in dem es um das Pflanzenschutzmittel Gold 450 EC geht, will das BVL nicht nachgeben. Polen habe bei der Zulassung nicht berücksichtigt, dass das Mittel einen Wirkstoff in der sogenannten Esterform beinhalte, der aber nur in der Säureform von der EU-Kommission genehmigt sei. Die Esterform sei aber viel toxischer, insbesondere für Lebewesen im Wasser. Die Behörde verlor – wie gewohnt – beim VG Braunschweig, stellte aber einen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) und regte eine Vorlage zum EuGH an. Ohne Erfolg.
Die zuständige deutsche Behörde sei grundsätzlich nicht befugt, die Referenzzulassung eines anderen EU-Mitgliedstaats auf Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, so das OVG (Beschl. v. 03.07.2023, Az.: 10 LA 116/22). Das Gericht sah auch keinen Anlass, Fragen zur Reichweite von Prüfungsbefugnissen im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich zu klären.
Das will das BVL nicht akzeptieren. Die Bundesbehörde rügt deshalb eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Grundgesetz. Zwar kann der Bund normalerweise keine Grundrechte geltend machen, bei den Justizgrundrechten ist das jedoch anders. Wenn der Staat Partei in einem Gerichtsverfahren ist, kann er – wie die anderen Parteien auch – prozessuale Rechte in Anspruch nehmen.
Anderer Fall vor dem EuGH: So klar ist die Rechtslage nicht
Die Hürden sind dennoch recht hoch, denn das BVerfG prüft nicht jeden etwaigen Verstoß gegen die unionsrechtliche Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV. Nur wenn das Vorgehen des nationalen Gerichts "offensichtlich unhaltbar" ist, sehen die Karlsruher Richterinnen und Richter einen Entzug des gesetzlichen Richters. Hilbert argumentiert in der Beschwerdeschrift, das OVG hätte erkennen müssen, dass die Rechtsprechung des EUGH hier zu entscheidenden Fragen unvollständig ist. Stattdessen habe das Gericht willkürlich einen "acte éclairé" angenommen, also behauptet, die Rechtsprechung des EuGH lasse keinen Zweifel offen.
Ob die Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, bleibt abzuwarten. Der EuGH könnte aber schon bald die Gelegenheit nutzen, ein paar grundsätzliche Fragen zur EU-Pflanzenschutzverordnung zu klären. Ein niederländisches Gericht war vorlagefreudiger als das deutsche und hat einen ähnlichen Fall nach Luxemburg gebracht.
Dabei ging es zwar nicht um die Zulassung im Wege der gegenseitigen Anerkennung nach Art. 40 der EU-Pflanzenschutzverordnung, sondern um das sogenannte zonale Zulassungsverfahren nach Art. 33 der Verordnung. Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie weit muss das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten gehen?
Generalanwältin am EuGH: Es geht um das Prinzip der Vorsorge
Das niederländische Gericht will wissen, ob ein mitberatender Mitgliedstaat von der Risikobewertung des federführenden Mitgliedstaats abweichen darf und welche Leitlinien und wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen der federführende Mitgliedstaat berücksichtigen muss.
Die zuständige Generalanwältin am EuGH Laila Medina hat dazu kürzlich ihre Schlussanträge vorgelegt (Schlussanträge v. 28.09.2023, Az. C-308/22). Und die sind überraschend deutlich: Der federführende Mitgliedstaat müsse "alle einschlägigen und zuverlässigen aktuellen (d. h. neuesten) wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse berücksichtigen", so die Generalanwältin. Tut er das nicht und übersieht Gefahren für die Umwelt, darf ein anderer Mitgliedstaat die Zulassung verweigern. Die EU-Pflanzenschutzverordnung beruhe schließlich auf dem Vorsorgeprinzip, es gehe also gerade darum, schädliche Auswirkungen für Mensch und Tier zu vermeiden.
Sollte der EuGH dieser Einschätzung folgen, wäre das ganz im Sinne des UBA und des BVL – und die Hilfe aus Karlsruhe womöglich gar nicht mehr nötig.
Streit um die Zulassung von Pestiziden: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52933 (abgerufen am: 04.10.2024 )
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