Interview mit Elisa Hoven und Thomas Fischer: "Wir erleben eine Moralisierung des Rechts"

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Die Reform des Sexualstrafrechts hat den Bundesrat passiert, trotz Kritik zahlreicher Experten. Was sagt das über die Gesellschaft, die sich diese Regeln auferlegt, und wie kann es sie verändern? Ein Gespräch mit Elisa Hoven und Thomas Fischer.
Die Reform des Sexualstrafrechts war eines der beherrschenden rechtspolitischen Themen des Jahres. Angefeuert wurde die nicht immer sachlich geführte Debatte besonders durch Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht und die Anklage gegen Gina-Lisa Lohfink. Sie fand ihren vorläufigen Abschluss im September, als der Bundesrat die Reform aus dem Justizministerium verabschiedete – noch bevor eine dort im Vorjahr zur grundlegenden Überarbeitung des Sexualstrafrechts eingerichtete Expertenkommission Gelegenheit gehabt hatte, ihre Arbeit abzuschließen und ihrerseits Regelungsvorschläge zu unterbreiten.
Den Diskurs will die Kölner Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven mit einer Veranstaltungsreihe zum Thema "Sexualität und Recht" weiterführen. Am vergangenen Mittwoch kamen dazu die Professoren Tatjana Hörnle, Gereon Wolters und Thomas Fischer an die Universität zu Köln, um ihre Sicht der Dinge zu schildern. Wir haben uns vorab mit Frau Hoven und Herrn Fischer getroffen, um mit ihnen über die gesellschaftliche Dimension des Strafrechts zu reden.
"Reform schafft falsche Erwartungen"
LTO: Die juristischen Details der Sexualstrafrechtsreform sind vielfach besprochen worden und viele Experten sind sich einig, dass ihr Wert eher in der Symbolik als in einer tatsächlichen Steigerung der Verurteilungszahlen liegen werde. Sie haben beide geäußert, dass Sie eine bloß symbolische Strafgesetzgebung für verfehlt halten. Glauben Sie nicht, dass damit dennoch gesellschaftspolitische Ziele erreicht werden können?
Fischer: Das stimmt wahrscheinlich schon, weil das Strafrecht immer auch eine symbolische Funktion hat. Dabei muss man aber darauf achten, dass eine solche Symbolfunktion sich nicht ins Gegenteil verkehrt. Das kann geschehen, wenn man meint, mit einem Übermaß an Strafrecht in Lebensbereiche vordringen zu müssen, die ihm ihrer Natur nach kaum zugänglich sind. Strafrecht, das sich der praktischen Anwendung entzieht, hat keine sinnvolle Wirkung und kann sich auch symbolisch nicht entfalten.
Hoven: Ich denke auch, dass die Rolle des Strafrechts nicht in erster Linie darin bestehen kann, ein Symbol zu sein. Denn dann kann es auch eine falsche Erwartung schaffen, was, wie ich glaube, bei der Reform des Sexualstrafrechts der Fall ist. Die wenigsten Verfahren, die wir bisher hatten, sind daran gescheitert, dass die Rechtslage unzureichend gewesen wäre. Wer behauptet, jetzt werde alles besser, schafft bei den Opfern Erwartungen, die massiv enttäuscht werden könnten , da es zu kaum überwindbaren Beweisproblemen kommen wird.
Ich sehe auch nicht nur eine positive Botschaft in der Reform des § 177, denn sie zeichnet auch ein sehr schwaches Bild der Frau, die ihren Willen nicht durchzusetzen vermag. Das wäre sogar ein falsches Signal.
"Ausdruck einer öffentlichen Empörung"
LTO: Insofern sehen Sie also jedenfalls die Möglichkeit, dass eine neue Gesetzeslage gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann?
Hoven: Es ist immer eine Wechselwirkung. Diese Reform ist ja Ausdruck einer öffentlichen Empörung über die Kölner Silvesternacht oder den Fall Gina-Lisa Lohfink. Somit spiegelt das Gesetz die gesellschaftliche Stimmung wider. Aber natürlich wirkt das Recht auch auf die Gesellschaft zurück.
LTO: Herr Fischer, Sie haben die Reform u.a. in Ihrer Zeit-Kolumne stark kritisiert. Hat es Sie damals besonders geärgert, dass die Verschärfungen auch von der öffentlichen Stimmung getragen wurden?
Fischer: Das war jedenfalls einer der Gründe. Das Verfahren, in dem dieses neue Recht konzipiert wurde, war alles andere als gründlich. Es wurde durch eine öffentliche Skandalisierung in einer kampagnenartigen Weise vorangetrieben. Es kam dabei offenkundig weder auf Sorgfalt noch auf eine rationale Folgeabwägung an, sondern allein darauf, die sprichwörtliche "Gunst der Stunde" zu nutzen, um ein hochgradig ideologisiertes Konzept durchzusetzen. Das, was die 2015 eingesetzte Sachverständigen-Kommission des Bundesjustizministeriums vorher erarbeitet hatte, ist schon im Voraus zur Makulatur erklärt worden, weil angeblich die Sicherheitslage in Deutschland keinerlei weiteres Nachdenken mehr zuließ. Das ist eine schlechterdings alberne Behauptung.
Ich sag’s mal mit den – öffentlichen - Worten einer leitenden Mitarbeiterin des BMJV: Von feministischen Verbänden und Interessengruppen wurde die mediale Stimmung zielgerichtet so ausgenutzt, "dass sich keiner (in den Fraktionen) mehr traute, Widerstand zu leisten". Eine wahrlich bemerkenswerte Grundlage für einen legislatorischen "Paradigmenwechsel"!
2/3: "Strafrecht taugt zur Profilierung oft besser als zur Problemlösung"
LTO: Fühlen Sie sich als Richter von der Politik instrumentalisiert?
Fischer: Im engeren Sinne nicht. Als Richter hat man die Pflicht, Recht und Gesetz zu verwirklichen. Man kann seine Meinung dazu sagen, wie ich es tue. Und man kann sagen, dass bestimmte Regelungen nicht besonders zielführend erscheinen. Solange sie aber nicht verfassungswidrig sind, besteht für die Justiz die Pflicht zum Gesetzesgehorsam. Wer Gesetze machen und nicht anwenden will, der muss Politiker werden und nicht Richter.
In einem weiteren Sinn instrumentalisiert ist Justiz aber selbstverständlich insoweit, als "der Gesetzgeber" immer wieder – und diesmal in besonders eklatanter Weise – undurchdachte, technisch schlechte und hochproblematische Gesetze auf den Markt wirft, seine Aufgabe damit für erledigt erklärt und dann "mal abwartet", ob die Justiz wohl etwas damit anfangen kann. Und wenn die angeblichen Ziele nicht erreicht werden, wird mit dem Finger auf die Gerichte gezeigt, die daran angeblich schuld sind.
Hoven: Auch in der Wissenschaft wird die Ansicht geteilt, dass das Strafrecht von der Politik instrumentalisiert wird, um zu zeigen „Wir tun etwas“. Zur tatsächlichen Problemlösung ist es aber nur selten geeignet. Das zeigt sich auch in ganz anderen Bereichen, beispielsweise beim Einbruchsdiebstahl. Dort werden höhere Strafrahmen gefordert, obwohl das überhaupt nichts ändern würde. Denn das Problem ist, dass wir diese Taten gar nicht aufklären. Aber natürlich ist das Strafrecht eine kostengünstige Lösung mit großer Außenwirkung.
LTO: Gerade dem Sexualstrafrecht sind Beweisprobleme praktisch immanent. Dürfen sie für den Gesetzgeber überhaupt eine Rolle spielen bei der Frage, ob ein Verhalten bestraft werden soll?
Fischer: Solche Probleme sollten bei der Überlegung sicher nicht die Hauptrolle spielen. Aber in einem Bereich, in dem es darum geht, sogenannte Strafbarkeitslücken zu füllen, muss man sich schon Gedanken darüber machen, wie die Gesetze überhaupt angewendet werden können.
Hoven: Bei der Frage, ob ich etwas grundsätzlich unter Strafe stelle, dürfen Beweisprobleme natürlich keine Rolle spielen. Aber bei der Frage, wie man einen Tatbestand konkret ausgestaltet, ist das ein sehr wichtiges Argument, das man mit einbeziehen sollte.
"Feminismus wird falsch verstanden"
LTO: Wenn man die Sexualstrafrechtsreform als Ausdruck feministischer Lobbyarbeit sieht, ist der Feminismus dann außer Kontrolle geraten?
Hoven: Ich würde nicht sagen außer Kontrolle geraten, aber falsch verstanden. Ich selbst denke auch feministisch und halte diese Reform trotzdem für falsch. Denn die an sich sehr legitimen Anliegen werden oft zu einseitig vertreten, ohne sich über mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen. Zum Beispiel ist das Risiko von Falschbeschuldigungen im Sexualstrafrecht ein sehr reales. Solche Probleme zu ignorieren ist falsch und führt letztendlich auch zu schlechten Gesetzen.
Fischer: Es gibt natürlich ein Problem mit dem so genannten Feminismus. Da gibt es einige hoch ideologisierte Kampagnen und Seilschaften, die in der Lage sind, auf der Grundlage einer allgemeinen Vorwurfsmoral unsinnige Dinge durchzudrücken, ohne dass noch ein rationaler Widerstand entgegengesetzt werden kann. Aber solche Reformen sind immer auch ein Zeichen für breitere gesellschaftliche Entwicklungen. Wir erleben im Moment eine zusehends stärkere Hinwendung zum Individuum, damit auch zur Überhöhung von höchstpersönlichen im Gegensatz zu Allgemeinrechtsgütern.
Das ist eine Moralisierung des Rechts, die wir zum Beispiel auch im Bereich von Pornografie oder Hate-Speech sehen, allerdings in einer außerordentlich starken Ausprägung. Insoweit ist die Sexualstrafrechts-Hysterie der vergangenen Jahre einfach nur pars pro toto: hervorgehobenes Beispiel für einen allgenmeinen Trend, der nicht auf „bösem Willen“ oder Verschwörung beruht, sondern auf realen gesellschaftlichen Veränderungen. Allerdings vielfach nicht auf denen, die in den jeweiligen Kampagnen zusammenfantasiert werden.
Hoven: Wir bewegen uns zur Zeit weg von einem liberalen Verständnis von Sexualität hin zu einer wieder strengeren Sexualmoral. Nach dem neuen Recht ist die Grenze zwischen Verführen und Vergewaltigen fließend. Sexualität unter einen Generalverdacht zu stellen und derart reglementieren zu wollen, finde ich sehr schwierig.
3/3: Auf dem Weg zu einer Stimmung wie in den USA?
LTO: In den Vereinigten Staaten ist seit einigen Jahren eine ähnliche, teils noch stärker ausgeprägte Bewegung zu sehen, besonders an Hochschulen. Glauben Sie, dass Deutschland diesem Vorbild folgen wird?
Hoven: Das ist meine Befürchtung. Ich war gerade an einer amerikanischen Universität und die Stimmung, die ich dort erlebt habe, hat mir Sorgen gemacht. In jeder möglichen Grenzüberschreitung wird dort gleich eine Sexualstraftat vermutet. Natürlich gibt es schreckliche Ereignisse, vor denen Frauen geschützt werden müssen. Aber auch für die Männer ist es eine erhebliche Belastung, wenn man bei jeder Begegnung strafrechtliche Konsequenzen befürchten muss. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern scheint mir dort sehr angespannt zu sein.
Fischer: Ich vertraue da auf eine eher liberale und weniger religiös-fanatische Grundmentalität in Europa. In den USA haben wir es heute mit einer weithin desintegrierten Gesellschaft zu tun, die sich in Kleingruppen flüchtet und fanatische Glaubensbekenntnisse zu dieser oder jener Moral sozusagen als Sammelpunkte von Kreuzzügen gegen das Böse postuliert. Ich glaube nicht, dass wir so etwas hier erleben werden. Am Grund aller Aufregungen muss man ja konstatieren, dass die Mehrheitskultur in Deutschland nicht – oder jedenfalls noch nicht – von einem religiös anmutenden Sexualitäts-Rigorismus geprägt ist wie in den USA. Es wurden in der absurden Sex-Diskussion in Deutschland ja auch nicht etwa reale Ereignisse oder Bedrohungen der Sexualmoral instrumentalisiert, sondern die wohlfeile Ausländer- und Fremdenangst.
LTO: Umgekehrt gibt es nach Fällen wie dem von Jörg Kachelmann oder Andreas Türck auch eine Tendenz, die Aussagen angeblicher Opfer von Sexualstraftaten unter den Generalverdacht der Falschverdächtigung zu stellen. Ist das nicht genauso falsch?
Fischer: Jeder lügt, wenn es ihm nützt. Wer das bestreitet und damit Strafrechtspolitik machen will, hat schon verloren. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Männer die Missbrauchsmöglichkeit nicht genauso gut ausnutzen könnten. Man muss aber auch bedenken, dass schon ein Ermittlungsverfahren im Bereich der Sexualstraftaten geeignet ist, beim Beschuldigten hohe soziale Kosten zu verursachen.
Hoven: Wo es Rechte gibt, werden Rechte auch missbraucht. Es gibt keine seriösen Zahlen zur Häufigkeit von Falschbeschuldigungen in diesem Bereich, aber es ist ein Phänomen, das existiert. Gerade in sehr emotionalen Situationen ist ein Missbrauch naheliegend und der Vorwurf allein wiegt schon schwer.
"In der Breite der Gesellschaft besteht keine Kultur rationaler Diskussion"
LTO: Muss das Recht nicht auch gesellschaftlichen Trends folgen, um seine Legitimation zu bewahren?
Fischer: In einem bestimmtem Umfang natürlich, das Recht ist ja ein Abbild der Gesellschaft. Aber das Strafrecht ist von allen Regeln, die wir uns geben, die Ultima Ratio. Der Staat muss sich daher genau überlegen, was in diesen Bereich hinein gehören soll. Es gibt viele Sanktionsmöglichkeiten für abweichendes Verhalten, auch informelle. Man kann nicht das ganze Leben im Strafrecht auflösen.
LTO: Ist es überhaupt möglich, eine zielführende Debatte über ein so schwieriges und emotional belegtes Thema zu führen, wenn der Diskurs großenteils in sozialen Netzwerken und Kommentarspalten stattfindet?
Hoven: Ich bin da vorsichtig optimistisch. Aber ich finde es problematisch, dass einige Menschen sehr schnell – und häufig sehr drastisch – mit ihrer Meinung dabei sind, ohne sich vorher ausreichend über das Thema zu informieren. Zudem muss es möglich sein, auch in sensiblen Bereichen wie dem des Sexualstrafrechts zwar in der Sache hart und kontrovers zu diskutieren, aber im Umgang respektvoll zu bleiben und andere Meinungen zu tolerieren. Eine sachlichere, nüchternere und informiertere Diskussionskultur wäre wünschenswert.
Fischer: Man muss es hoffen. Dadurch, dass jetzt alle gleichzeitig reden und sich wichtig fühlen können, ist es natürlich schwieriger geworden. In der Breite der Gesellschaft besteht auch ersichtlich keine Kultur rationaler Diskussion. Aber wir müssen damit zurechtkommen und mit den Menschen reden, denn nur so können sinnvolle Lösungen gefunden werden. Da muss man sich halt auch einmal beschimpfen lassen. Die meisten der Schimpfer und Alleswisser-in-einer-Minute meinen es ja nicht böse. Aber man muss ihnen auch klar sagen, dass es am Ende nicht auf dahingemotzte sogenannte Betroffenheiten wirklich ankommen kann, sondern dass sie sich anstrengen müssen.
Jun.-Prof’in Dr. Elisa Hoven lehrt am Institut für Straf- und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Prof. Dr. Thomas Fischer ist Richter am Bundesgerichtshof und Autor eines Strafrechts-Kommentars.
Das Interview führte Maximilian Amos.