Die bulgarische Ratspräsidentschaft treibt die Reform des EU-Asylrechts voran. Die Dublin-VO und Verfahrensregeln stehen zur Disposition. Ziel ist es, die EU für Schutzsuchende weniger attraktiv zu machen, erklärt Constantin Hruschka.
Die Verhandlungen über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) waren seit 2016 ins Stocken geraten. Seit Jahresbeginn hat Bulgarien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union und bemüht sich sehr aktiv darum, die Debatte wieder anzustoßen. Diese neuen Anstrengungen erklären sich aus den nahenden Wahlen zum Europaparlament im Frühjahr 2019: Liegt bis Ende Juni nicht zumindest eine konsolidierte Verhandlungsposition der Regierungen vor, ist eine Verabschiedung in dieser Legislaturperiode nicht mehr wahrscheinlich.
Schon im Mai und Juli 2016 hatte die EU-Kommission eine komplette Erneuerung aller Rechtsakte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sowie eine neue Resettlement-Rahmenverordnung vorgeschlagen. Damit wären alle Phasen des Asylverfahrens und der Schutzgewährung betroffen, lediglich beim Vollzug ablehnender Asylentscheidungen, der sich nach der Rückführungsrichtlinie richtet, sind aktuell im Europarecht keine Änderungen vorgesehen.
Die EU-Kommission hat sich für die Reform vier primäre Ziele gesetzt: Das sind die Verhinderung von Sekundärmigration über die Änderung des Dublin-Systems und die stärkere Angleichung der Verfahrensnormen, die Bekämpfung von sog. Asylmissbrauch, faire und effiziente Asylverfahren und schließlich der Einstieg in eine fairere Verteilung von Verantwortlichkeiten.
Größter Streitpunkt ist die Verteilung der Flüchtlinge
Um die Sekundärmigration zu verhindern, soll die derzeit geltende Dublin-Verordnung, über die zwischen den Mitgliedstaaten die Zuständigkeiten für Flüchtlinge geregelt sind, wesentlich geändert werden. Der Reformvorschlag der EU-Kommission zielt auf die Schaffung einer dauerhaften Zuständigkeit eines Mitgliedstaates, ohne dass diese noch wechseln könnte.
Das Dublin-System soll zudem - um diese "stabile" Zuständigkeit langfristig zu vermitteln - auf schutzbedürftige Personen ausgeweitet werden. Damit einhergehend sollen die Klagemöglichkeiten gegen Dublin-Bescheide stark eingeschränkt und auch das Selbsteintrittsrecht nur noch aus familiären Gründen ausgeübt werden dürfen. Zudem ist ein Vorverfahren geplant. In dem soll überprüft werden, ob ein Drittstaat – also ein Staat außerhalb des Dublin-Systems - die Zuständigkeit übernehmen könnte, ob die Person aus einem sicheren Herkunftsland kommt oder ob sie ein Sicherheitsrisiko darstellt. Asylsuchende sollen verpflichtet werden, im Erstankunftsstaat einen Asylantrag zu stellen und mit den Behörden stärker zu kooperieren.
Daneben soll das neue System eine gerechtere Teilung der Verantwortung unter den Mitgliedstaaten ermöglichen, da diese sich in der Vergangenheit als sehr schwierig erwiesen hat. Auch bei der Reform ist dies allerdings bisher einer der größten Streitpunkte.
Ausweitung des Konzepts der sicheren Drittstaaten
Gegenstand der Verhandlungen für das neue europäische Asylsystem ist auch die weitere Harmonisierung der Aufnahmebedingungen und der Rechte von Schutzsuchenden – während des laufenden und nach Abschluss des Asylverfahrens. In dem Kontext sollen auch die Regelungen über den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten weiter vereinheitlicht und restriktiver gehandhabt werden, so dass den Schutzsuchenden die Teilhabe an diesen Angeboten endgültig nur noch in den für sie zuständigen Staaten möglich sein soll.
Die Umwandlung der Asylverfahrensrichtlinie in eine Asylverfahrensverordnung steht ebenfalls auf der Agenda: So will die EU die Unterschiede bei den Anerkennungsquoten verringern und die Sekundärmigration eindämmen sowie gemeinsame, wirksame Verfahren für Asylsuchende gewährleisten. Durch diese (neue) Form einer direkt anzuwendenden Verordnung sollen die Unterschiede und die Dauer der Asylverfahren deutlich verringert werden. Die derzeit über diverse Gesetzentwürfe in der deutschen Diskussion stehenden Änderungen bei den Asylverfahren wären damit weitgehend obsolet.
Schon jetzt sind in der Anlage II zum Asylgesetz (AsylG) sichere Herkunftsländer festgelegt. Menschen, die aus diesen Ländern stammen, können keinen Schutzstatus in Deutschland erhalten. Eine vergleichbare Liste und auch eine Liste der in der Anlage I AsylG bezeichneten sicheren Drittstaaten fehlen aber bisher auf der europäischen Ebene. Sie sollen nun verabschiedet werden und die Bedingungen für die Aufnahme eines Staates in eine solche Liste erleichtert werden. Damit wird der Fokus deutlich auf schnelle negative Entscheidungen gerichtet.
Anerkennung, Eurodac und Asylagentur
Auch die sind im Jahr 2004 verabschiedete und 2011 geänderte Anerkennungsrichtlinie soll zu einer Verordnung und damit unmittelbar anwendbar werden. Die Aufnahme von Schutzsuchenden in den EU-Mitgliedstaaten regeln derzeit in Deutschland das AsylG und das Aufenthaltsgesetz. Diese Gesetze sind bereits Ausfluss der europäischen Regelungen an die Deutschland den eigenen Rechtsrahmen seit dem Zuwanderungsgesetz 2004 sukzessive angepasst hat.
Mit der Verordnung soll der Schutzstatus dann generell nur bis zum Ende der Verfolgungsgefahr bestehen und eine Verpflichtung bestehen, den Status der betroffenen Personen regelmäßig zu überprüfen. Waren das europäische und das deutsche Asylsystem einst auf Integration von Flüchtlingen mit einem erleichterten Zugang zu einer dauerhaften Niederlassungserlaubnis gerichtet, ist die geplante Änderung ein klares Zeichen für das Ziel einer Rückkehr der Menschen ihrer Heimatländer – und zwar als EU-weite Zielsetzung.
Damit einhergehen soll die Änderung des Eurodac-System. Über diese Datenbank haben die Dublin-Mitgliedstaaten Zugriff auf die personenbezogenen Daten aller Asylsuchenden, die bereits bei der ersten Registrierung aufgenommen werden. Das System soll jedoch so angepasst werden, dass zusätzliche Daten der Schutzsuchenden gespeichert werden und den Polizei- und Migrationsbehörden weitergehende Nutzungsrechte eingeräumt werden als bisher. So sollen Rückkehrmaßnahmen erleichtert und die irreguläre Migration eingedämmt werden.
Schließlich existiert die Idee, eine eigenständige EU-Agentur für Asylfragen einzurichten mit einem erweiterten Mandat und erheblich weiter gefassten Aufgaben. Die Grenzen für alle schutzbedürftigen Personen endgültig dicht machen möchte die EU indes nicht: Über einen so genannten Neuansiedlungsrahmen der Union will Europa einen dauerhafter Rahmen für ein einheitliches Verfahren für die Neuansiedlung schutzbedürftiger Personen innerhalb der EU schaffen.
Wenig praktikable Abwehr von Flüchtlingen
Die vorliegenden Vorschläge reihen sich ein in ein seit der "Flüchtlingsschutzkrise" 2015 politisch gefördertes System der Flüchtlingsabwehr, das sich zum großen Teil daraus erklären lässt, dass die Mitgliedstaaten sich zwar beim Grenzschutz, nicht aber bei der Flüchtlingsaufnahme einig sind. Neben dem Fokus auf Kontrolle kann konstatiert werden, dass es den Vorschlägen vor allem an Praktikabilität mangelt. Die oft schlechte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten – insbesondere in Dublin-Verfahren - wird zwar thematisiert, aber nicht angegangen. Durch das vorgeschlagene System der "stabilen", im Wesentlichen unveränderbaren Zuständigkeit des Ersteinreisestaats würde zudem die bisher asylstatistisch nur bei Italien wahrnehmbare Überlastung der Ersteinreisestaaten erheblich befördert. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich viele betroffene Personen einem solchen rigiden System, das Familienbeziehungen jenseits der absoluten Kernfamilie und kulturelle und sprachliche Bindungen ausblendet, entziehen werden. Diese Erfahrung mit dem Dubliner Übereinkommen und den Vollzugsdefiziten der Mitgliedstaaten haben im Jahr 2003 zur Einführung verbindlicher Fristen geführt. Es spricht wenig dafür, dass dies 15 Jahre später wirklich anders sein sollte.
Die Vorschläge konzentrieren sich insgesamt sehr stark auf Verpflichtungen und Sanktionen gegenüber Asylsuchenden, die bis zum vollständigen Leistungsentzug gehen. Nicht nur dadurch werden in vielen Mitgliedstaaten, die – wie Deutschland - eine Grundabsicherung für alle Menschen bieten, verfassungsrechtliche Probleme aufgeworfen.
Weitere grund- und menschenrechtliche Probleme entstehen durch die geplante weitgehende Auslagerung des Flüchtlingsschutzes, insbesondere durch das sichere Drittstaatenkonzept, durch Einschnitte beim Schutz für Familien und beim Rechtsschutz. Auch die Bewegungsfreiheit und der Datenschutz sollen drastisch eingeschränkt werden. Zudem soll für schutzbedürftige Personen Schutz nur noch temporär gewährt werden. Flüchtlingen wird damit eine dauerhafte Lösung, also der Aufbau eines neuen "normalen Lebens" zumindest deutlich erschwert.
Abkehr von einst gemeinsam geplantem System
Insgesamt baut die EU administrative Hürden für den Zugang zum materiellen Asylverfahren auf und verlagert weitere Verfahrensschritte vor die inhaltliche Prüfung. Der Gesamteindruck der Vorschläge ist der eines Verwaltungsmonsters. Die Vorschläge stellen eine Abkehr von der in Tampere 1999 vereinbarten schrittweisen Verwirklichung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar. Das Gemeinsame sind nunmehr nur noch die Dublin-Verfahren, die zudem keine faire Verteilung der Verantwortung in Europa garantieren. Keine Rede ist mehr von gemeinsamer Schutzgewährung und eines gesamteuropäischen Status und somit von einem wirklichen GEAS.
Noch scheint angesichts der Frontstellungen zwischen Parlament und Rat eine Einigung in weiter Ferne zu sein, die Vorschläge haben aber schon jetzt hohe Relevanz in den einzelnen Mitgliedstaaten, da diese häufig in der nationalen Gesetzgebung Blaupausen dieser Vorschläge benutzen. Der Ausbau des Verwaltungsverfahrens und der Fokus auf die zwangsweise Rückkehr haben bspw. durch die unter anderem an die „Bleibeperspektive“ anknüpfenden Regelungen zum Zugang zum Arbeitsmarkt und Integrationskursen, sowie bei der Verteilung und Unterbringung von Schutzsuchenden Eingang in das deutsche System gefunden. Die aktuellen Diskussionen um die Anker-Zentren haben ebenfalls den Fokus auf eine potentielle Rückkehr. Das GEAS-Paket würde aber weiter gehen. Durch die geplanten Verordnungen wären (noch) größere Teile dem Einfluss des nationalen Gesetzgebers entzogen. Jedenfalls würden sich aber - gerade bei den Überlappungen mit anderen Rechtsbereichen, wie dem Kindes- und Jugendschutz - komplizierte Fragen des Anwendungsvorrangs stellen.
Auch von einem anderen völkerrechtlich verankerten Prinzip verabschiedet sich Europa mit diesen Vorschlägen - nämlich von dem Prinzip der möglichst umfassenden Gewährleistung der Menschenrechte für alle, nach den jeweils zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, wie sie die internationalen Pakte von 1966 vorsehen. Die öffentliche Debatte ist nicht mehr auf eine umfassende Gewährung ausgerichtet, sondern nur noch auf die Frage fokussiert: "Was ist das völkerrechtliche Minimum, um das ich nicht herumkomme?" Dieser Diskurs schadet insbesondere auch der Glaubwürdigkeit Europas als entwicklungspolitischem Motor mit menschenrechtlichem Anspruch in der internationalen Migrationspolitik.
Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, Erlangen-Nürnberg und Fribourg (Schweiz) und ist Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.
Pläne zum Europäischen Asylsystem: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28443 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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