Rechtskräftig vom Mordvorwurf freigesprochen, aber dennoch wieder in U-Haft: Am LG Verden wird Rechtsgeschichte geschrieben – möglicherweise eine unrühmliche, da die Rechtsgrundlage verfassungswidrig sein könnte. Greift die Politik ein?
Im Prozess um den Mord an der 17-jährigen Frederike von Möhlmann hatte das Landgericht (LG) Stade den Angeklagten Ismet H. nach Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof im Jahr 1983 rechtskräftig freigesprochen. Wegen desselben Tatvorwurfs befindet sich H. seit vergangenem Freitag nach einem Beschluss des LG Verden, der LTO vorliegt, in Untersuchungshaft (Beschl. v. 25.02.22, Az. 1 Ks 148 Js 1066/22).
Was noch bis vor kurzem in Deutschland wegen des in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verbrieften Grundsatzes "ne bis in idem" ("nicht zweimal in derselben Sache"), nicht möglich war, ist letzte Wahlperiode von der GroKo – entgegen massiven verfassungsrechtlichen Bedenken von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen, Anwaltsverbänden, des Bundesjustizministeriums (BMJ) und zuletzt sogar des Bundespräsidenten – durchgesetzt worden: Eine Ausweitung der Voraussetzungen, nach denen eigentlich abgeschlossene Strafverfahren wieder aufgerollt werden können.
So sieht ein neuer § 362 Ziff. 5 Strafprozessordnung (StPO) seit Ende Dezember 2021 vor, dass u.a. in Fällen von Mord oder Völkermord eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten möglich ist – wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt. Davor konnte ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wieder aufgenommen werden. Nämlich dann, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt.
DNA-Spuren von 2012 belasten Freigesprochenen
"Nachträglich verfügbare Beweismittel" im Sinne der neuen Vorschrift könnten nun dem freigesprochenen Ismet H. zum Verhängnis werden: Nach dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft soll er 1981 Frederike von Möhlmann aus Hambühren (Landkreis Celle) vergewaltigt und getötet haben. Im Jahre 2012 gefundene Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip der Getöteten sollen ihn belasten. Neues Beweismittel ist also eine molekulargenetische Untersuchung (DNA-Probe), die viele Jahre nach Abschluss des Strafverfahrens durchgeführt wurde.
Laut Erster Großer Strafkammer des LG Verden, die jetzt über den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Verden zu entscheiden hatte, erscheint zwar auch eine andere Beurteilung auf Grundlage eines Ergänzungsgutachtens "möglich". Nach aktuellem Ermittlungsstand spreche das Hauptgutachten jedoch eindeutig für die Spurenverursachung durch den Freigesprochenen.
Erstmals kommt es nun also vor einem deutschen Gericht zur Anwendung der Vorschrift, über die bis zuletzt erbittert gestritten wurde. "Der Antrag der Staatsanwaltschaft Verden (Aller) auf Wiederaufnahme des Verfahrend gemäß § 362 Nr.5 StPO vom 09.02.2022 wird für zulässig erklärt", entschied das LG. Wegen Fluchtgefahr ordnete das Gericht außerdem die Untersuchungshaft an.
LG lehnt Richtervorlage ans BVerfG ab
Erleichterung über die Entscheidung des LG herrscht nun bei der Familie des ermordeten Opfers, wie Nebenkläger-Anwalt Dr. Wolfram Schädler bestätigte. Seitdem 2012 die DNA-Spuren auftaucht waren, hatte sie sich für eine Neuregelung in der StPO eingesetzt. Auch mehr als 180.000 Menschen hatten eine entsprechende Petition unterschrieben. Am Ende war der Druck für den Gesetzgeber schließlich zu groß: Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ trat in Kraft – wenn auch flankiert von einer mahnenden Bitte des Bundespräsidenten an die Politik: "Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen."
Statt auf eine noch ausstehende Entscheidung der Ampel-Koalition zu warten, hätte nun allerdings auch das LG Verden eine Überprüfung herbeiführen können. Beim BVerfG, im Wege einer sog. Richtervorlage ("konkrete Normenkontrolle") nach Art. 100 Abs.1 GG. Doch diese blieb aus. Das LG sieht die Voraussetzungen für eine solche Vorlage in Karlsruhe als nicht erfüllt an: "Der Kammer sind zwar die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm des § 362 Nr. 5 StPO bekannt, sie ist jedoch nicht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt", heißt es nun im Beschluss. Eine klare Ansage, ohne nähere Begründung. Diese könnte das Gericht jedoch ggf. in der bevorstehenden Begründetheitsprüfung ("Probationsverfahren") nachholen.
Verteidiger kündigt Haftbeschwerde an
Beim Anwalt von Ismet H., dem Strafverteidiger Matthias Waldraff aus Hannover, schüttelt man nicht nur wegen des LG-Beschlusses den Kopf. Gegenüber LTO beklagt sich der Anwalt, über lange Zeit von den Ermittlungsbehörden keine Akteneinsicht bekommen zu haben; auch habe die Staatsanwaltschaft über Wochen jegliche Kontaktaufnahme abgeblockt. In seinem 30-jährigen Verteidigerleben sei ihm das noch nie passiert: "Die Staatsanwaltschaft ist einfach abgetaucht".
Dass das LG Verden jetzt zudem bei seinem Mandanten den Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen und U-Haft angeordnet hat, kann Waldraff nicht nachvollziehen. "Er hätte doch längst nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes abhauen können". Er werde nun erst einmal die Akten einsehen, zum Beschluss des LG Stellung beziehen und Haftbeschwerde einreichen. Und ggf. werde er das Verfahren bis nach Karlsruhe zum Bundesverfassungsgericht betreiben. Eine Verfassungsbeschwerde seines Mandanten wäre jedenfalls nach Erschöpfung des Rechtsweges möglich.
Für die zu erwartenden gerichtlichen Auseinandersetzungen kündigte Waldraff zudem an, die Verteidigung von H. auch personell zu stärken. Ein bundesweit renommierter Strafverteidiger hat bereits seine Bereitschaft zur Unterstützung erklärt.
Juristischen Zuspruch bekommt Waldraff nach Bekanntwerden der Entscheidung des LG Verden von denen, die sich bereits in der Vergangenheit gegen das Gesetz ausgesprochen haben. Etwa von Vertretern der Initiative #nichtzweimal, die seinerzeit vergeblich versucht hatten, Bundespräsident Steinmeier von der Unterschrift des Gesetzes abzuhalten. Sie sprachen von einem schwarzen Moment für den Rechtsstaat. Zu den nachhaltigen Gründen, die für eine Verfassungswidrigkeit des Gesetzes sprächen, trete nun noch eine rückwirkende Anwendung auf einen Sachverhalt, der bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes rechtskräftig abgeschlossen ist, so Mitinitiator Arne Meyn.
Wie reagiert Bundesjustizminister Marco Buschmann?
Der frühere Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg, sagte, der Gesetzgeber habe die Staatsanwaltschaft Verden in eine sehr schwierige Situation gebracht. Einerseits müsse sie das neue Gesetz umsetzen, andererseits gebe es große und nachhaltige Zweifel an der Wirksamkeit dieses Gesetzes. Bundesjustizminister Marco Buschmann müsse daher umgehend Stellung beziehen und der Bundestag müsse "schnellstmöglich" das Gesetz wieder aufheben und so wieder Rechtssicherheit schaffen. Auch Strafverteidiger Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV, verweist auf FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann und dessen Ankündigung, die Neuregelung "in seinem Bestand" zu überprüfen.
Buschmann hatte im Januar gegenüber der Deutschen Presse-Agentur auf seine verfassungsrechtlichen Bedenken hingewiesen: "Meine Auffassung als Abgeordneter und als Rechtspolitiker ist, dass dieses Gesetz ein erhebliches Problem darstellt und man sich schon die Frage stellen muss, ob hier nicht sogar die Verfassung verletzt ist. Ich persönlich halte es für richtig, dass wir uns die Frage noch mal vornehmen." Das Vorhaben, so Buschmann, sei am Ende der Legislaturperiode quasi in letzter Minute durchgedrückt worden. "Und das bei einer verfassungsrechtlich sensiblen Materie, wo man normalerweise die fachliche Meinung des Justizministeriums schon stark berücksichtigt."
Ob das nun vor dem LG Verden anhängige Wiederaufnahme-Verfahren eine Korrektur des Gesetzes im BMJ möglicherweise beschleunigt, wollte das Ministerium auf Nachfrage von LTO nicht bestätigen: Die Prüfung des weiteren Vorgehens sei "innerhalb der Bundesregierung" noch nicht abgeschlossen, sagte eine Sprecherin. Diese Formulierung könnte so zu interpretieren sein, dass möglicherweise aus SPD-Ressorts Bedenken geäußert werden, die von der GroKO eingeführte Regelung wieder rückgängig zu machen. Für das BMJ bekräftigte die Sprecherin, dass das Ministerium bereits in der Vergangenheit auf seine verfassungsrechtlichen Zweifel an einer Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten von rechtskräftig freigesprochenen Personen hingewiesen und deshalb von der Vorlage eines eigenen Entwurfs abgesehen habe.
Genugtuung bei der Union
Im damaligen Gesetzgebungsverfahren vermochte sich letztlich die Union gegenüber Koalitionspartner SPD durchzusetzen. CDU-Rechtspolitiker Jan-Marco Luczak (MdB) reagierte daher auf den Beschluss des LG Verden jetzt mit Genugtuung. Er hofft, dass das Gericht am Ende nach § 370 Abs. 2 StPO die Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung anordnet – und damit endgültig Rechtsgeschichte schreibt:
"Mit der Festnahme des mutmaßlichen Mörders von Frederike bahnt sich ein später Sieg der Gerechtigkeit an. Als Union haben wir hartnäckig dafür gekämpft, dass bei schwersten, unverjährbaren Straftaten wie Mord ein Prozess wiederaufgerollt werden kann, wenn ein Täter nachträglich aufgrund neuer Beweismittel mit hoher Wahrscheinlichkeit überführt werden könnte."
Neue Wiederaufnahme-Vorschrift erstmals angewendet: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47720 (abgerufen am: 08.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag