Am Mittwoch begann vor dem LG Bonn die mündliche Verhandlung über die erste von mehreren Klagen mutmaßlicher ziviler Opfer des NATO-Luftangriffs auf zwei Tanklaster bei Kunduz im September 2009. Nicht offensichtlich unbegründet, befand die Kammer. Auf einen Vergleich wollte sich das Verteidigungsministerium nicht einlassen. Insgesamt macht der Anwalt der Kläger 3,3 Millionen Euro geltend.
Am 4. September 2009 forderte der Bundeswehroffizier Georg Klein zwei Kampfflugzeuge der US-Luftstreikkräfte an, um zwei von Talibankämpfern entführte Tanklaster auf einer Sandbank des Kunduz-Flusses zu bombardieren. Zu den Opfern des Angriffs zählten neben Aufständischen auch Zivilisten. Wie viele, ist bis heute ungeklärt.
Der Sachverhalt liegt nun auf den Tischen der Richter der für Staatshaftungssachen zuständigen 1. Zivilkammer des Landgerichts (LG) Bonn. Am Mittwoch fand die erste mündliche Verhandlung statt. Es ging um die Klage von Abdul Hannan auf ein Teilschmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro und von Qureisha Rauf auf eine Entschädigung in Höhe von 50.000 Euro (Az. 1 O 460/11). Ersterer ist Vater zweier mutmaßlich bei der Bombardierung getöteter Kinder, letztere nach dem Luftangriff Witwe, die für sechs Kinder zu sorgen hat.
Die Verfahren landeten vor dem Landgericht der Bundesstadt, weil das Bundesverteidigungsministerium in Bonn seinen Hauptsitz hat.
Anwalt fordert 3,3 Millionen Euro für Hinterbliebene
Beide werden vertreten von Karim Popal, der weitere 79 Kläger betreut. Der Bremer Rechtsanwalt, der selbst aus Afghanistan stammt, war zwischen 2004 und 2007 im Auftrag des Auswärtigen Amts dort, um Juristen zu unterrichten. "Ich habe den NATO-Einsatz und die Deutschen damals immer verteidigt", erinnert er sich. Nach dem Angriff von Kunduz habe einer seiner Freunde ihn aufgefordert, sich anzusehen, was die Deutschen angerichtet hätten. Popal machte sich selbst ein Bild von der Lage und gründete schließlich ein Recherche-Team, auf dessen Ergebnissen die Klagen nun gründen.
Er will erreichen, dass Deutschland als Dienstherr von Oberst Klein dazu verpflichtet wird, den Opfern Schadensersatz in Höhe von insgesamt 3,3 Millionen Euro zu zahlen. Im Einzelnen variieren die Forderungen zwischen 20.000 und 75.000 Euro. Die höchste Summe macht der Anwalt für eine Witwe geltend, die nicht nur sechs Kinder, sondern auch noch ihre pflegebedürftigen Eltern versorgen muss. Unterstützt wird er dabei von dem emeritierten Bremer Rechtsprofessor Peter Derleder.
Verteidigungsministerium nicht zu Vergleich bereit
Vergleichsverhandlungen im Vorfeld der Klage waren gescheitert. Popal hatte eine Hilfeleistung an die Region vorgeschlagen, statt einzelne Personen zu entschädigen. Das Verteidigungsministerium hatte dies abgelehnt mit dem Argument, für Entwicklungshilfe nicht zuständig zu sein.
Popal wäre nach wie vor bereit gewesen, einen Vergleich zu schließen, wenn eine angemessene Summe angeboten worden wäre. "Schnelle Hilfe ist für die Hinterbliebenen sehr wichtig. Vor allem für die Frauen, die in Afghanistan praktisch keine Möglichkeit haben, ein eigenes Einkommen zu erzielen." Die Entschädigung müsse so hoch sein, dass sie das Existenzminimum der Hinterbliebenen sichere.
"Gut drei Millionen Euro, so eine gewaltige Summe ist das ja nun nicht", sagte auch der Vorsitzende der Kammer, Heinz Sonnenberger, mit Blick auf die beachtliche Zahl von immerhin 79 Klägern. Aber auch seine Bemühungen, den Parteien eine gütliche Einigung nahezubringen, blieben erfolglos. Das Verteidigungsministerium wollte sich nicht auf einen Vergleich einlassen.
Ministerium: "Oberst Klein hat keine nationale Hoheitsgewalt ausgeübt"
Die Kläger begründen ihre Ansprüche mit der Amtshaftung nach § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. Art. 34 Grundgesetz (GG), was auch die Kammer für die einschlägige Anspruchsgrundlage hält.
"Daneben stützen wir die Klagen aber auch auf internationales Recht, nämlich auf Art. 51 und 57 des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen", sagte Klägeranwalt Popal. Die Vorschriften verbieten unterschiedslose Angriffe auf Kombattanten und Zivilisten. Außerdem regeln sie, dass bei der Planung eines Angriffs Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung getroffen werden müssen.
Der Vertreter der Bundesrepublik Mark Zimmer ist davon überzeugt, den Rechtsstreit nicht zu verlieren. Er hält schon die deutsche Gerichtsbarkeit nicht für eröffnet, weil Klein keine nationale Hoheitsgewalt ausgeübt habe, sondern in das ISAF-Mandat eingegliedert gewesen sei. Verantwortlich sei daher die NATO und nicht die Bundesrepublik. Die Kammer schloss sich jedenfalls in der mündlichen Verhandlung am Mittwoch dieser Auffassung zunächst nicht an.
2/2: BGH zur Brücke von Varvarin
Der Anwalt der Bundesrepublik geht zudem davon aus, dass auch die Amtshaftung gar nicht greift. Die Anspruchsgrundlage passe nicht auf den Ausnahmefall einer kriegerischen Auseinandersetzung. Die NATO-Partner könnten sich nämlich nicht mehr auf Deutschland verlassen, wenn sie damit rechnen müssten, dass Deutschland bei jedem Einsatz seiner Soldaten Amtshaftungsansprüche zu befürchten habe. "Solche Handlungen sollten nicht justiziabel sein. Das wäre eine sehr lästige Situation für die Soldaten", sagte Zimmer am Mittwoch.
Vor derselben Bonner Kammer waren bereits die Verfahren "Distomo" und "Brücke von Varvarin" anhängig, in denen ähnliche Fragen geklärt werden mussten. Im Fall Distomo ging es um einen Überfall der deutschen SS während des 2. Weltkriegs auf ein griechisches Dorf. Die Gerichte hatten damals festgestellt, dass solche Kriegshandlungen keine individuellen Ansprüche Einzelner begründen könnten. Ein Ausgleich solle nur zwischen den Staaten selbst stattfinden.
"Mit den Entscheidungen zu Varvarin wurde diese Rechtsprechung relativiert", erläuterte der Vorsitzende. Zivile Opfer eines NATO-Angriffs auf die Brücke der serbischen Kleinstadt Varvarin während des Kosovo-Einsatzes hatten auf Schadensersatz geklagt. Das Verfahren landete schließlich vor dem Bundesgerichtshof (BGH), der - so Sonnenberger - in seinem Urteil andeutete, dass die Distomo-Rechtsprechung nach dem 2. Weltkrieg unter Geltung des Grundgesetzes nicht mehr uneingeschränkt angewendet werden könne (Urt. v. 02.11.2006, Az. III ZR 190/05). "Die Klagen wurden zwar am Ende abgewiesen, grundsätzlich sind aber wohl individuelle Ansprüche möglich, wenn das humanitäre Völkerrecht verletzt wird", sagte Sonnenberger.
Er wies auf einen weiteren Unterschied zwischen Varvarin und Kunduz hin: "Bei dem Angriff auf die Brücke in Varvarin hat zwischen Deutschland und dem ehemaligen Jugoslawien ein Krieg geherrscht. Dass das Bombardement von Kunduz eine Kriegshandlung gegen einen fremden Staat war, kann man dagegen so einfach nicht sagen. Deutschland kämpft ja gegen Aufständische - und zwar auf der Seite der afghanischen Regierung."
Genaue Zahl der Opfer relevant für die Verhältnismäßigkeit des Angriffs
Die Kammer hält die Bundesrepublik wohl auch für den richtigen Anspruchsgegner. "Nach der Anstellungstheorie ist relevant, bei wem Oberst Klein beschäftigt ist. Das ist die Bundeswehr und damit die Bundesrepublik", so Sonnenberger.
Ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg der Klage wird dann sein, ob der Soldat gegen Vorschriften des humanitären Völkerrechts verstoßen hat, die im ersten und zweiten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen niedergelegt sind. Rechtsanwalt Zimmer warf dagegen ein: "Oberst Klein hat noch nicht einmal einen Befehl erteilt. Er hat lediglich Kampfflugzeuge angefordert, also eine Bitte geäußert." Außerdem habe der Generalbundesanwalt in seinem Einstellungsvermerk festgestellt, dass Völkerrecht nicht verletzt worden sei. Im April 2010 hatte die Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den Offizier und einen Hauptfeldwebel nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung eingestellt, weil sie keinerlei strafrechtliche Vorschriften verletzt sah.
Relevant werden könnten dabei auch noch die genaue Zahl der zivilen Opfer und das Verhältnis zur Zahl der getöteten Aufständischen. Nach Recherchen Popals kamen 137 Zivilisten ums Leben. Auch die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass nicht nur Talibankämpfer starben; für gesichert hält sie allerdings nur insgesamt 50 Tote und Verletzte. "Die genaue Zahl macht einen Unterschied, wenn es um die Frage der Verhältnismäßigkeit des Angriffs geht", so der Vorsitzende.
Popal: "Ex-gratia-Zahlungen nicht bei Bedürftigen angekommen"
Die Bundesregierung bestreitet sogar, dass die Kläger überhaupt Angehörige von Opfern sind. "Das dürfen Sie natürlich tun", merkte der Vorsitzende an. "Aber Sie haben ja schon Zahlungen geleistet. Wie haben Sie denn da festgestellt, wer Opfer ist und wer nicht?"
Im Winter 2009 auf 2010 hatte das Verteidigungsministerium 5.000 Dollar pro Familie potenzieller Opfer ausgezahlt. "Den Menschen sollte geholfen werden, allerdings ohne Anerkennung einer Rechtspflicht", so Zimmer. Popal bemängelte daran, dass das Geld lediglich an Männer verteilt worden war. Fremde hätten sich bereichert. Bei den bedürftigen Frauen und Kindern sei dagegen nicht viel angekommen.
Nächster Termin ist der 17. April. Ein Urteil ist an diesem Tag nicht zu erwarten, vielleicht aber doch noch ein Vergleichsvorschlag, den die Kammer selbst bisher nicht gemacht hat. Ansonsten werden die Beteiligten in die Beweisaufnahme einsteigen. Dabei werden sie laut dem Vorsitzenden auch klären müssen: "Wie unterscheidet man einen Taliban von einem Zivilisten? Vor allem, wenn es ein 'Hobby-Kämpfer' ist, der tagsüber Bauer ist und nachts Taliban?"
Claudia Kornmeier, Prozess um Schadensersatz für Kunduz-Opfer: Wie unterscheidet man einen Taliban von einem Zivilisten? . In: Legal Tribune Online, 21.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8380/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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