Der IStGH hat den früheren Vizepräsidenten des Kongo, Jean-Pierre Bemba, in letzter Instanz freigesprochen. Die Entscheidung erging knapp. Sie ist schmerzlich für die Opfer, juristisch aber gut vertretbar, meint Alexander Heinze.
Am 17. Juli feiert der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seinen 20. Geburtstag. Viele Redner werden dann die Aufgabe des Gerichts für die Menschheit betonen, die in nicht weniger besteht als Versöhnung, historische Aufarbeitung, globale Friedenssicherung, Bekämpfung der Straflosigkeit, Stigmatisierung der Täter und Abschreckung potentieller Täter.
Die Last seiner ihm zugedachten Ziele, unter der der IStGH nun schon seit 20 Jahren ächzt, weckt Assoziationen mit Atlas, jenem Titan aus der griechischen Mythologie, der das Himmelsgewölbe stützen musste. In ihrem weltberühmten Roman "Atlas wirft die Welt ab" lässt Ayn Rand einem Protagonisten die Frage stellen, was dieser Atlas riete, wenn er ihn unter der Last des Firmaments leiden sehen würde. Er antwortet: "Mit den Schultern zucken." Genau das machten drei Richter der Rechtsmittelkammer des IStGH – und damit die Kammermehrheit – am 8. Juni, indem sie das Urteil der Verfahrenskammer aus dem Frühjahr 2016 gegen den ehemaligen Vize-Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo, Jean-Pierre Bemba, aufhoben und Bemba von den Vorwürfen der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit freisprachen.
Ausgerechnet Bemba! Der erste hochrangige Politiker vor dem IStGH, der wegen sexualisierter Gewalt verurteilt wurde – und das auch noch erstmals aufgrund seiner Befehlsgewalt, weil also nicht er, sondern die Soldaten des von ihm befehligten Mouvement de Libération du Congo (MLC) in der Republik Zentralafrika zahlreiche Männer, Frauen und Kinder gefoltert und getötet haben sollen. Das einstimmig ergangene Urteil und die von der Verfahrenskammer verhängte 18jährige Haftstrafe wurde als ein "historischer Moment im Kampf für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit gegenüber den Opfern sexueller Gewalt" bezeichnet.
Bemba legte Rechtsmittel (eine Mischung aus Berufung und Revision) gegen seine Verurteilung ein, und man kann nur erahnen, wie sehr sich die Richter der Kammer in der Haut von Atlas wähnten. Hoffnungen und Erwartungen tausender Opfer und der gesamten Weltgemeinschaft ruhten auf den Schultern von fünf Richtern. Drei von ihnen "zuckten nun mit den Schultern" und die zwei übrigen verfassten ein 280 Seiten starkes abweichendes Votum, in dem sie in beinahe jedem Punkt der Kammermehrheit widersprachen. Wer sich durch die Urteilsbegründung der Mehrheit, die Sondervoten, und das abweichende Votum kämpft, wird die Zerrissenheit der Kammer spüren. Es ist eine Zerrissenheit im Kleinen, die den Konflikt projiziert, der sich im Großen wie ein roter Faden durch das zwanzigjährige Bestehen des Gerichtshofs zieht: Auf der einen Seite handelt es sich um den Titanen Atlas mit der Bürde, die Ziele der gesamten internationalen Strafjustiz zu schultern. Auf der anderen Seite ist er eben "nur" ein Gericht.
Differenzen unter dem Druck der Weltgemeinschaft
So stellt das Sondervotum der Mehrheitsrichter am Beginn dann auch die Aufgaben eines ganz normalen Gerichts heraus: Beweise sichten, Beweise werten, Verdachts- und Beweisgrade beachten. Das mag selbstverständlich klingen, am IStGH ist die Versuchung jedoch groß, angesichts des Drucks einer Weltgemeinschaft diese Prämissen aus den Augen zu verlieren. In ungewöhnlich deutlicher Sprache stellten die Richter van den Wyngaert und Morrison in ihrem Sondervotum ganz fundamentale Differenzen zwischen ihnen und den Richtern des abweichenden Votums fest, auch was ganz generell die Rolle eines Richters am IStGH anbelangt.
Schon die Frage des Prüfungsumfangs einer Rechtsmittelkammer geriet zum Zankapfel: Die Minderheitsrichter gaben einer Rechtsmittelkammer ein relativ enges Korsett, indem eine Rüge nur dann erfolgreich sein kann, wenn keine vernünftige Verfahrenskammer zu dem Ergebnis der angegriffenen Entscheidung gekommen wäre. Keinesfalls solle eine Rechtsmittelkammer zu einer zweiten Tatsacheninstanz werden. Die Mehrheit gab sich mehr Freiheiten: sie muss stets dann korrigieren, wenn andernfalls ein Justizirrtum die Folge wäre. In dieser Abweichung von der ständigen Rechtsprechung zum Prüfungsumfang sahen die Chefanklägerin des IStGH sowie einige aktuelle und ehemalige Berater der Anklagebehörde in ersten Reaktionen auf das Urteil einen mittelschweren Justizskandal – eine Bewertung, die sowohl methodisch als auch in der Sache übertrieben ist.
Methodisch, weil Artikel 21 Abs. 2 des IStGH-Statuts den Richtern ausdrücklich erlaubt, von der ständigen Rechtsprechung abzuweichen; in der Sache, weil es gute Gründe für einen weiten Prüfungsumfang der Rechtsmittelkammer gibt, die auf den Grundsatz des Schutzes des Angeklagten herunter gebrochen werden können. Oft wird nämlich vergessen, dass letztinstanzliche Urteile am IStGH keiner unmittelbaren externen Rechtskontrolle im Hinblick auf die Einhaltung universell anerkannter Menschen- und Beschuldigtenrechte unterliegen. Die Beschuldigten und Angeklagten müssen sich auf die hauseigenen Kontrollmöglichkeiten verlassen, und diese wären zumindest gestutzt, wenn die Rechtsmittelkammer ihren Prüfungsumfang zu eng ziehen würde. Nach Ansicht von Richter Eboe-Osuji würde es die Funktion einer Rechtsmittelkammer des IStGH dann auch ad absurdum führen, müsste sich diese im Zweifel an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz halten, obwohl dieser eklatante Fehler bei der Beweiswürdigung zu Lasten des Angeklagten unterlief.
Nachträglich Anklagepunkte hinzugefügt
Von diesem Maßstab ausgehend bemängelte die Mehrheit, dass die Verfahrenskammer über drei vorgeworfene Taten schon gar nicht hätte urteilen dürfen: Mord, Vergewaltigung und Plünderung. Diese Verbrechen fügte die Anklagebehörde nämlich erst nachträglich hinzu. Für eine solche Ergänzung ist normalerweise eine Änderung (und erneute Bestätigung) der Anklageschrift notwendig, was nicht geschah. Die Verfahrenskammer urteilte also über Verbrechen, die nach Meinung der Mehrheit niemals Bestandteil der Anklageschrift waren.
In Deutschland ist das verboten. Nach § 264 Abs. 1 der Strafprozessordnung ist "Gegenstand der Urteilsfindung" nur "die in der Anklage bezeichnete Tat". Gleiches gilt vor dem IStGH. Dass die Verfahrenskammer diese Verbrechen dennoch einbezog, lag schlicht an der sehr weit und allgemein formulierten Anklageschrift. Die Minderheit nahm daran keinen Anstoß unter Verweis auf die Definitionshoheit der Anklagebehörde und darauf, dass so eine Überprüfung im Zwischenverfahren eben nur der Frage nachgeht, ob hinreichende Beweise dem Verdachtsgrad "substantial grounds to believe" genügen.
Dieser Verdachtsgrad ist ganz bewusst niedriger als eine Verurteilung "jenseits vernünftiger Zweifel". Eine Anklagebehörde (und die Vorverfahrenskammer in der Überprüfung der Anklageschrift) müsse die Verurteilungschancen also nur kursorisch prüfen. Den Besonderheiten am IStGH trägt das kaum Rechnung. Erstens, ist angesichts des medialen Interesses und tausender möglicher Betroffener die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vor dem IStGH noch viel stigmatisierender als im nationalen Recht. Dann wird man wohl von der Anklagebehörde auch erwarten können, die in der Anklageschrift genannten Verbrechen konkret zu benennen und ausreichend Beweise vorzulegen. Zweitens, hat die ungenaue Bezeichnung der Verbrechen noch einen ganz anderen Effekt, der im Bemba-Verfahren gut sichtbar wurde: So musste schon in einem sehr frühen Verfahrensstadium mehr als 5.000 Opfern die Beteiligung am Verfahren zugesagt werden. In ihrem Sondervotum monieren zwei der Mehrheitsrichter zu Recht, dass auf diese Weise zahlreiche Opfer beteiligt wurden, die nicht hätten beteiligt werden dürfen. Das schürte große Erwartungen und Hoffnungen, die – im Fall von Opfern von Verbrechen, die in genereller Form in die Anklageschrift aufgenommen und unzureichend mit Beweisen belegt wurden – zwangsläufig bitter enttäuscht werden müssten.
"Ungestörte" Befehlsgewalt nicht nachgewiesen
Abgesehen von diesen eher prozessualen, aber für das Urteil wegweisenden Entscheidungen, sah die Kammermehrheit die Voraussetzungen der Befehlsgewalt Bembas über seine Truppen als nicht erwiesen an. Vor allem aus Opfersicht ist dieser Aspekt der schmerzlichste: Da begehen Truppen der MLC systematische Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde, durch die ganze Familien körperlich, psychisch und ökonomisch zerstört zurückblieben; da wird der Befehlshaber dieser Truppen endlich verurteilt, weil er von diesen Verbrechen wusste und trotz seiner effektiven Kontrolle nichts unternahm, um sie zu verhindern – und dann erfolgt zwei Jahre später ein Freispruch. Bemba konnte nicht nachgewiesen werden, dass er eine ungestörte Kontrolle über seine Truppen hatte, u.a. weil seine Untergebenen auf fremdem Staatsgebiet agierten (laut abweichendem Votum hätten diese "logistische Schwierigkeiten" aber leicht überwunden werden können).
Auch seien seine Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten oder deren Unterbindung "erforderlich und angemessen" gewesen. Zudem habe laut Sondervotum van den Wyngaert/Morrison die Verfahrenskammer übersehen, dass die subjektiven Anforderungen an den Vorgesetzten (kannte er die Verbrechen seiner Untergebenen oder hätte er sie kennen müssen?) unterschiedliche Beweis- und Darlegungsanforderungen beinhalten, weil es sich bei ersterem um Vorsatz und bei letzterem um eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung handele.
Was die Befehlsgewalt anbelangt, lässt sich generell beobachten, dass die Kammermehrheit aufgrund von Schuldprinzip und des "jenseits vernünftiger Zweifel"-Kriteriums bei der Verurteilung recht realistische Anforderungen an einen Befehlshaber stellt, wie er die Verbrechen seiner Untergebenen verhindern oder ahnden kann, ohne sich selbst verantworten zu müssen. Wenn dieser seine Truppen nur aus dem Motiv heraus zurückzieht, den öffentlichen Druck zu minimieren (und nicht in erster Linie, um zukünftige Verbrechen zu verhindern), so könne dies nicht als alleiniges Indiz für ein Fehlverhalten des Befehlshabers zu werten sein.
Respektable Entscheidung der Kammermehrheit
Wenn der Befehlshaber eine Untersuchungskommission einrichtet, die die Täter zur Verantwortung ziehen soll, die aber nur halbherzig zur Aufklärung beitrug, so könne dies dem Befehlshaber nur unter Bestimmten Umständen angelastet werden. Zudem reiche es nicht aus, nur von "Taten" der Truppen und deren kriminellem Verhalten zu sprechen – man müsse schon eine ungefähre Anzahl der begangenen Straftaten angeben und aufzeigen, inwiefern gerade diese Straftaten durch den Befehlshaber hätten verhindert werden können. Viele dieser konkreten Anforderungen wurden in den Sondervoten (und damit obiter) erörtert, weil diesbezüglich unter den Richtern keine Einigkeit erzielt werden konnte.
Selbstverständlich müssen die Aussagen der Mehrheit wie Hohn für all jene klingen, die schon lange monieren, dass auf der Welt am Ende nur die kleinen Fische bestraft würden, während die großen Fische ihre Hände in Unschuld waschen und ungestört ihre mörderischen Pläne umsetzen lassen könnten. Es wäre auch unangemessen, das Urteil der Kammermehrheit im Duktus eines guten Rechtswissenschaftlers als formaljuristischen Sieg zu feiern. Hier gibt es keine Sieger. Tausende Opfer werden am 8. Juni schockiert nach Den Haag geblickt und sich um ihre (und ihrer Familien) Genugtuung betrogen gesehen haben.
Ebenso unangemessen wäre es jedoch, der Kammermehrheit eine Verkennung der Tragweite ihrer Entscheidung vorzuwerfen. Atlas hat mit den Schultern gezuckt und das zu Recht. Tagein tagaus müssen Richter an internationalen Strafgerichten mit ihren national erlernten Juristenwerkzeugen Situationen bewältigen, in denen sie unendliches Leid sehen und einer schier unbegreiflichen Fülle an Beweisen und Zeugen gegenüberstehen. Dabei sollen sie dann noch Geschichtsschreibung betreiben, Genugtuung herstellen, versöhnen usw. Dass die Richter im Fall Bemba der Versuchung widerstanden, die Rechte des Angeklagten auf dem Altar großer Gesten der Weltgemeinschaft zu opfern, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Der Autor Dr. Alexander Heinze LL.M ist Habilitand am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht an der Universität Göttingen.
IStGH spricht Ex-Vize des Kongos frei: . In: Legal Tribune Online, 23.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29331 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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