In Frankreich oder Italien können Beschäftigte auch für politische Ziele streiken, wenn das Thema mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verzahnt ist. Auch das GG decke den politischen Streik ab, meint Theresa Tschenker im Interview.
LTO: Frau Tschenker, Sie haben Ihre Dissertation zum Thema "Politischer Streik" geschrieben. Dass Menschen für Rechte bei der Arbeit streiken können, ist bekannt. Sie sagen, das geht auch für politische Ziele. Was sind Ihre Überlegungen dazu?
Theresa Tschenker: Ich begründe das Recht zum politischen Streik rechtshistorisch und auf Basis eines Rechtsvergleichs. Die Überlegung dabei ist folgende: Warum sollten politische Themen beim Streik ausgespart werden, wenn sie doch ganz grundlegend die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Menschen mitbestimmen?
Nehmen wir als Beispiel den Gesundheitssektor: Die in Krankenhäusern oder in Alten- und Pflegeheimen arbeitenden Personen können für Tarifverträge mit besseren Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und einem besseren Personalschlüssel streiken. Genau diese Arbeitsbedingungen sind aber durch das System der Krankenhausfinanzierung durch den Staat geschaffen oder durch Entscheidungen der Gesetzgebung geprägt, wie etwa gesetzlich festgelegte Personalschlüssel.
Es gibt eine enge Bedingtheit und Verzahnung zwischen den Arbeitsbedingungen und staatlichen Maßnahmen bei vielen Themen. Dennoch gilt in Deutschland derzeit eine Trennung: Streiks für bessere Tarifverträge sind möglich, für die politischen Rahmenbedingungen aber nicht. Darüber habe ich mich gewundert und deshalb gefragt, woher diese Rechtslage stammt.
Rechtsprechung aus den Anfängen des Grundgesetzes
Was haben Sie festgestellt?
Aus der jüngeren Vergangenheit gibt es nur eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum politischen Streik (Urt. v. 23.10.1984, Az. 1 AZR 126/81). Damals ging es um angestellte Lehrer:innen, die sich außerhalb von Tarifverhandlungen mit ihren Forderungen direkt an die Kultusministerkonferenz gewandt und ihre Arbeit niedergelegt hatten. Das BAG hatte die daraufhin ausgesprochene Abmahnung einer Lehrerin für rechtmäßig erklärt, weil sie für ein Ziel gekämpft hatte, das nicht mit einem Tarifvertrag geregelt werden kann.
Seitdem hat das BAG diese sogenannte Tarifbezogenheit als Voraussetzung für einen rechtmäßigen Streik stets wiederholt, das Verbot des politischen Streiks in einigen Urteilen aber nur noch andeuten können – es gab keine Fälle dazu. In zwei Entscheidungen warf das BAG aber auch selbst die Frage auf, ob man nicht in Hinblick auf völker- und menschenrechtliche Garantien die Tarifbezogenheit des Streiks noch einmal auf den Prüfstand stellen müsse (BAG, Urt. V. 10.12.2002, Az. 1 AZR 96/02 u. Urt. v. 24.04.2007, Az. 1 AZR 252/06).
Die Gründe für die Annahme, dass es in Deutschland kein Recht auf politischen Streik gibt, liegen also tatsächlich schon in den frühen 50er Jahren.
Was passierte in den 50er Jahren, das zu dieser Einschätzung führte?
Bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) im Jahr 1949 gab es keine Trennung zwischen politischem Streik und tarifbezogenem Streik – es gab nämlich gar kein Streikrecht. Vielmehr mussten die Arbeitnehmer:innen, wenn sie in der Weimarer Republik streiken wollten, erst kündigen. Die Streikenden mussten sich anschließend bei den Tarifverhandlungen um die Wiedereinstellung bei ihren jeweiligen Arbeitgeber:innen bemühen.
Mit dem GG kam dann Art. 9 Abs. 3 GG mit dem Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden.
Für die Auslegung spielten die 50er Jahre eine ganz zentrale Rolle. Im Jahr 1952 gab es bundesweit Streiks in der Zeitungsbranche, auf die viele arbeitsgerichtliche Entscheidungen und Gutachten folgten, die das Streikrecht bis heute prägen.
Der Streik in der Zeitungsbranche
Was haben die Gerichte damals entschieden?
Bei dem Streik in der Zeitungsbranche ging es konkret um den Protest gegen die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, es war also ein politischer Streik. Die Gewerkschaften hatten erhebliche Kritik an den Inhalten des geplanten Gesetzes.
Der Meinungskampf, ob dieser Streik rechtmäßig ist, war damals in der Rechtswissenschaft vor allem von drei Gutachten geprägt. Davon hatten die Arbeitgeberverbände zwei in Auftrag gegeben, eines bei Ernst Forsthoff, der ein sehr autoritäres Demokratieverständnis hatte. Seine Grundaussage war, ein politischer Streik sei ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip, weil Bürger:innen nur bei Wahlen Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollen.
Der zweite Gutachter war Hans Carl Nipperdey, der spätere Präsident des BAG – was die anschließend gleichbleibende Rechtsauffassung erklärt. Auch er sprach sich klar gegen ein solches Recht aus.
Die Arbeitsgerichte und auch Landesarbeitsgerichte (LAG) entschieden dann überwiegend, dass der Streik rechtswidrig war, anderer Ansicht war vor allem das LAG Berlin (Urt. v. 17.08.1953, Az. 4 LAG 835/52).
Die Gegenansicht von Wolfgang Abendroth, der für den DGB das Gutachten verfasst hatte, konnte sich nicht durchsetzen. So etablierte sich in Deutschland ein restriktives Streikrecht.
Das BAG hat sich erstmals 1955 mit dem Thema befasst (BAG Urt. v. 28.01.1955, Az. GS 1/54). Seitdem entscheidet das Gericht, nur der tarifbezogene Streik sei rechtmäßig. Daraus wird im Umkehrschluss gefolgert, dass ein Streik für Gesetze, die genauso die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestimmen, rechtswidrig sei.
Kriterien zum Streik nur in der Idee übertragbar
Der "klassische" tarifbezogene Streik hat klare Regeln. Welche sind das und lassen sich die Grundsätze auf den politischen Streik übertragen?
Der rechtmäßige Streik muss auf Tarifverhandlungen ausgerichtet sein – das ist das von mir kritisierte und in Frage gestellte Merkmal –, er muss von einer Gewerkschaft, also einer tariffähigen Koalition, getragen sein und es darf keine Friedenspflicht mehr bestehen, es dürften also keine wirksamen Tarifverträge mehr vorliegen.
Man kann die Kriterien auch bei einem politischen Streik durchaus heranziehen. Allerdings müsste man sich fragen, ob es etwa die Friedenspflicht überhaupt geben kann oder ob es nicht genau die Idee ist, für etwas zu streiken, was nicht tarifvertraglich regelbar ist. Die Friedenspflicht kann gar nicht greifen, wenn etwa die Beschäftigten in einem Krankenhaus für eine Änderung des Finanzierungssystems streiken oder Busfahrer:innen für mehr Geld für den ÖPNV.
Meine These ist, dass ein politischer Streik auf ein rechtmäßiges politisches Ziel gerichtet sein muss, das einen Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hat. Es kann also nicht jedes politische Ziel, wie etwa die Änderung des Abtreibungsrechts, auch per Streik verfolgt werden. Themen zur Gestaltung und Finanzierung der Arbeitsmärkte aber sehe ich als erstreikbar an.
Wie halten es andere Länder mit politischen Streiks? Und muss es Grenzen geben?
Denken Sie an Frankreich, dort streikten die Menschen kürzlich für den Erhalt des Rentensystems. Derartige Streiks sind in sehr vielen europäischen Ländern erlaubt, wenn sie einen gewissen sozialen, arbeitsrechtlichen oder wirtschaftlichen Bezug haben. Das ließe sich auch in Deutschland mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbaren – was aber umstritten ist, seit es das GG gibt.
Seitdem wird die Frage auch immer wieder in der Rechtswissenschaft diskutiert, neben der Zulässigkeit auch die Frage von notwendigen zeitlichen Grenzen für einen Streik im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Man könnte also überlegen, ob festzulegen ist, dass nur eine bestimmte Anzahl von Stunden oder Tagen gestreikt werden darf oder ob es nötig ist, dass Beschäftigte so lange streiken können müssen, bis die Gesetzgebung dieses Gesetz erlässt oder eine Debatte oder Reform parlamentarisch abgeschlossen ist.
"Keine Kultur für politischen Streik"
Was bräuchte es also, um das Recht zum politischen Streik einzuführen?
Das Grundgesetz regelt nur das Recht der Arbeitnehmer:innen, sich zum Kampf für bessere Bedingungen zusammenzuschließen. Das Arbeitskampfrecht ist ausschließlich Richterrecht. Es gab immer mal wieder Überlegungen, ob man dessen Grundsätze gesetzlich regeln müsste, doch selbst die Gewerkschaften sind mit den Möglichkeiten so zufrieden, dass sie eher befürchten, ihre Rechte würden mit einem Gesetz beschnitten. Sie haben sich also immer darauf beschränkt, sich gerichtlich gut vertreten zu lassen.
Von daher gibt es keine gesetzlichen Regelungen, die über Analogien auf ein politisches Streikrecht übertragbar wären. Die Änderung der Rechtsprechung würde also ausreichen.
Haben Sie bereits Mitstreiter für diese Meinung?
Neben ersten großen Abhandlungen von Wolfgang Abendroth gab es einige Dissertationen, Aufsätze und Kommentierungen mit dem Inhalt, der politische Streik sei auch von Art. 9 Abs. 3 GG umfasst.
Die Gewerkschaften haben offenbar wenig Interesse, sich für ein Recht zum politischen Streik einzusetzen – doch bei Politikern dürfte das anders aussehen. Warum ist der politische Streik bisher kein größeres Thema?
Ich glaube, das hängt mit der Streikkultur in Deutschland zusammen. Es gibt keine flächendeckende Kultur, sich am Arbeitsplatz zu organisieren und dann von dort aus Politik zu machen. Das ist in Ländern wie Italien und Frankreich anders. Dort und in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention ist der Streik für soziale und wirtschaftliche Ziele erlaubt.
Die Gewerkschaften hier betreiben beim Wunsch nach politischen Veränderungen hingegen Verbands- und Lobbyarbeit und machen sich stark beim Abschluss von Tarifverträgen.
Interesse besteht aber an dem Thema, ich hatte diverse Einladungen zu Vorträgen und Diskussionen – aber die Gewerkschaften setzen sich mit einem politischen Streik der Gefahr von Schadensersatzforderungen durch die Arbeitgebenden aus, für die Beschäftigten besteht die Gefahr von Kündigungen. Zwar gibt es seit Jahren die Beschlüsse für die Einführung des politischen Streikrechts der Bundeskongresse von GEW, IG BAU, NGG und ver.di, passiert ist da aber noch nicht viel.
Aber wer weiß, wie es weitergeht. Ver.di und Fridaysforfuture haben eine diesjährige Tarifrunde auf den Tag des Klimastreiks gelegt, vielleicht gibt es ja so weitreichende Annährungen von Gewerkschaften und Klimaaktivist:innen, dass die Debatte neuen Aufwind erfährt. Ich bin da optimistisch.
Frau Tschenker, vielen Dank für das Gespräch.
Theresa Tschenker promovierte zum Thema "Politischer Streik – Rechtsgeschichte und Dogmatik des Tarifbezugs und des Verbots des politischen Streiks" bei Prof. Dr. Eva Kocher am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches und Deutsches Arbeitsrecht, Zivilverfahrensrecht der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Derzeit macht sie ihr Referendariat am Kammergericht Berlin.
Recht auf Arbeitsniederlegung: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52331 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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