Es ist ein generelles Verbot - mit folgenreichen Ausnahmen. Die EU und Deutschland können sich nach dem EuGH-Urteil auf eine neue Version der Vorratsdatenspeicherung vorbereiten. Sie darf gegen schwere Straftaten zum Einsatz kommen.
Dass die EuGH-Richter die anlasslose Vorratsdatenspeicherung mit ihrer am Dienstag veröffentlichten Entscheidung für grundsätzlich unzulässig erklärten, konnte nicht so richtig überraschen. Bereits 2016 hatte der EuGH mit einer Grundsatzentscheidung die Vorratsdatenspeicherung weitreichend für nicht vereinbar mit EU-Grundrechten befunden. Die Vorratsdatenspeicherung erlaubt es Strafverfolgungsbehörden, auf Verbindungsdaten der Internet- und Telefonkommunikation zuzugreifen, die private Anbieter zu diesem Zweck auf Vorrat bereithalten müssen. Betroffen von einer solchen Sammlung sind auch Anschlussdaten unzähliger "unverdächtiger" Bürger. Doch viele EU-Mitgliedstaaten sehen das Instrument als unverzichtbar für die Gefahrenabwehr und Strafverfolgung an.
Der EuGH entschied nun zu drei Vorlagen aus Großbritannien, Frankreich und Belgien. Sie wollten insbesondere von den EuGH-Richtern wissen, ob nicht für die Terrorismusbekämpfung ausnahmsweise doch Verbindungsdaten auf Vorrat gespeichert werden dürfen. Es könne schließlich in diesen Fällen die nationale Sicherheit auf dem Spiel stehen. Nicht zufällig ein Regelungsfeld, das die Mitgliedstaaten streng in ihrer eigenen Zuständigkeit halten wollen.
Terrorismusbekämpfung und schwere Kriminalität rechtfertigen Vorratsdatenspeicherung
Auch wenn an erster Stelle des Urteils das Verbot der Vorratsdatenspeicherung steht, sind seine Ausnahmen von besonderem Gewicht. Nach dem Urteil bleibt es den nationalen Gesetzgebern nämlich möglich, eine Vorratsdatenspeicherung unter strengen Voraussetzungen einzuführen.
So darf zwar nicht pauschal eine anlasslose und unbegrenzte Vorratsspeicherung angeordnet werden. Der EuGH erlaubt das aber zum Beispiel für den Fall einer gegenwärtigen oder bevorstehenden Bedrohung der nationalen Sicherheit – und zwar in voller Bandbreite.
Allerdings darf die Bevorratung und die Übermittlung der Daten von privaten Internetanbietern an die Sicherheitsbehörden dann nur für einen begrenzten Zeitraum vorgesehen werden. Und sie darf nur in engen Verhältnismäßigkeitsgrenzen stattfinden. Dieser Grundrechtseingriff muss auch einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, so der EuGH. Bei konkretem Terrorverdacht dürfen sogar Echtzeit-Daten nach vorheriger Prüfung durch ein Gericht ausgewertet werden.
Mit der Entscheidung schärfen die EuGH-Richter ihre Haltung zur Vorratsdatenspeicherung nach. Einerseits wollten sie nicht ihre 2016 aufgestellten Grundsätze über den Haufen werfen, andererseits hat der Druck aus den Mitgliedstaaten zugenommen, die Vorratsdatenspeicherung nicht komplett zu untersagen. Das Urteil betont deshalb die Ausnahmen für einerseits die Terrorismusbekämpfung und andererseits die Verfolgung schwerer Kriminalität. Befürworter der Vorratsdatenspeicherung verweisen als Anwendungsfall gerne auf die Verfolgung von Kinderpornographie im Internet. Ohne die gespeicherten IP-Adressen finden die Ermittler selten die Urheber in der realen Welt. Auch für diese Strafverfolgung lässt das Urteil eine Option offen.
Justizministerin signalisierte Offenheit für Vorratsdatenspeicherung
Auch in Deutschland ist die Vorratsdatenspeicherung im Zusammenhang mit der Verfolgung von Kinderpornographie im Vorfeld der EuGH-Entscheidung politisch zuletzt wieder ein Thema geworden. "Wir werden den Ermittlern auch die Möglichkeit an die Hand geben, die Vorratsdatenspeicherung zu nutzen, soweit dies mit deutschem und europäischem Recht vereinbar ist", sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) am vergangenen Donnerstag in einer Rede im Bundestag. Zuvor hatten die Innenminister der Länder das Instrument für den Einsatz gegen Kinderpornographie gefordert. Aus dem Bundesinnenministerium hieß es laut dpa am Dienstag: "Wir werden das Urteil gründlich auswerten und prüfen, welche Aussagen sich daraus für die deutschen Regelungen ableiten lassen."
"Statt die Daten von Millionen Bundesbürgern zu speichern, sollte man eine Regelung schaffen, mit der anlassbezogen und bei bestimmten Verdachtsmomenten eine Speicherung erfolgt", kritisierte damals der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. FDP, Grüne und Linke lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab.
Über das Urteil am Dienstag sagte der Bundestagsfraktionsvize der Grünen Konstantin von Notz und die netzpolitische Sprecherin Tabea Rößner: "Es schützt Grundrechte und bringt noch einmal mehr Rechtssicherheit. Wir wissen seit Jahren, dass die Massendatenspeicherung kein Mehr an Sicherheit bringt. Vielmehr frisst sie knappe Ressourcen und verstellt den Blick auf tatsächlich zielführende Ermittlungsansätze." Die netzpolitische Sprecherin der Linken, Anke Domscheit-Berg, forderte den Bund auf, "endlich den Zombie Vorratsdatenspeicherung zu beerdigen". Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner verlangte einen ausbalancierten Ansatz, FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae anlassbezogene Speicherung.
Der Chef des Verbands der Internetwirtschaft eco, Oliver Süme, sieht das Urteil als Stärkung der Grundrechte. "Ausnahmeregelungen zwingen zu der Frage, ob es überhaupt eine Vorratsdatenspeicherung geben kann, die mit nationalem und europäischem Recht vereinbar ist." Die deutsche Fassung der Vorratsdatenspeicherung sei es jedenfalls nicht.
BVerwG schickte ähnliche Fragen nach Luxemburg
Im Jahr 2015 wurde in Deutschland das Gesetz zur "Mindestspeicherpflicht und Höchstspeicherdauer von Verkehrsdaten" eingeführt. Gespeichert werden sollten keine Sprach- oder Textinhalte von Telefonaten, SMS oder E-Mails, sondern Verbindungsdaten - etwa Angaben dazu, wer wann mit wem telefonierte und in welcher Handy-Funkzelle er sich aufhielt. Die deutsche Regelung sieht eine Speicherfrist von zehn Wochen für diese Verbindungsdaten vor. Telekommunikationsfirmen speichern die Daten aber auch laufend, zum Beispiel für Abrechnungszwecke. Die Deutsche Telekom hält die IP-Adressen ihrer Nutzer - sozusagen die Anschrift im Internet - nach eigenen Angaben sieben Tage lang vor.
Das Gesetz aus dem Jahr 2015 sah eigentlich vor, dass die Vorratsdatenspeicherung ab 1. Juli 2017 beginnen sollte. So kam es aber nicht. Nach einer Entscheidung des OVG NRW Ende Juni 2017 wurde die Speicherpflicht ausgesetzt - und liegt derzeit immer noch auf Eis. Derzeit müssen Telekommunikationsunternehmen keine Verkehrsdaten auf Vorrat speichern.
Beim Bundesverwaltungsgericht liegt dagegen eine Klage von Internet- und Telefonanbietern, die Leipziger Richter legten mehrere Rechtsfragen Ende 2019 dem EuGH vor. In ihren Fragen deuteten sie Zweifel an, ob ein generelles Verbot der Vorratsdatenspeicherung das letzte Wort aus Luxemburg sein könne, insbesondere wenn es um Fragen der nationalen Sicherheit gehe. Und sie brachten schon mit ihrer Vorlage Ausnahmen und flankierende Maßnahmen für eine neue Version der Vorratsdatenspeicherung ins Spiel. Über diese Vorlage hat der EuGH noch nicht entschieden. Aus der am Dienstag veröffentlichten Entscheidung lassen sich aber deutliche Signale ablesen, was die Luxemburger Richter dem BVerwG antworten werden.
Muster-Vorratsdatenspeicherung unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft?
Gegen das deutsche Gesetz sind auch beim Bundesverfassungsgericht Beschwerden anhängig. Die Verfassungsrichter haben die Beschwerdeführer Anfang 2018 darauf hingewiesen, dass es für das juristische Schicksal der Vorratsdatenspeicherung neben dem Grundgesetz als Maßstab insbesondere auf die Vorgaben aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ankommen dürfte.
Wie wichtig das Instrument der Vorratsdatenspeicherung für die Mitgliedstaaten und ihre Sicherheitsbehörden ist, zeigt auch, dass unter der deutschen Präsidentschaft eine neue Arbeitsgruppe im EU-Rat zur Vorratsdatenspeicherung eingerichtet wurde, wie vor wenigen Tagen bekannt wurde. Die Gruppe soll offenbar weiter an Vorschlägen für eine neue europäische Muster-Vorratsdatenspeicherung arbeiten.
Mit Material der dpa
Was das EuGH-Urteil für Deutschland bedeutet: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43024 (abgerufen am: 11.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag