Im Streit um die Europarechtskonformität des MitbestG konnten die Parteien am Dienstag vor dem EuGH Stellung nehmen. Till Wansleben war vor Ort. Er prognostiziert ein wegweisendes Urteil.
Wenn selbst die Satire-Sendung "Die Anstalt" über ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) berichtet, dann muss es sich um ein ernstes Thema handeln. Die Kernfrage in der Sache Erzberger lautet wie folgt:
Ist es mit primärem Unionsrecht vereinbar, dass nur in Deutschland tätige Arbeitnehmer ein Wahlrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat deutscher Gesellschaften haben? In anderen Mitgliedstaaten tätige Arbeitnehmer sind derzeit nämlich von der deutschen Unternehmensmitbestimmung ausgeschlossen. In Frage steht damit zwar nicht die unternehmerische Mitbestimmung als solche, aber immerhin die Ausgestaltung des Wahlsystems.
Am Dienstag fand nach dem schriftlichen Verfahren nunmehr der zweite Teil des ersten Aktes in Form der mündlichen Anhörung vor dem EuGH statt. Der Gerichtshof verhandelt den Fall in der Besetzung als Große Kammer. In dieser aus 15 Richtern bestehenden Besetzung verhandelt das Gericht, wenn es eine Rechtssache als besonders wichtig erachtet. Das unterstreicht die Bedeutung des Verfahrens ebenso wie der Umstand, dass neben der Bundesrepublik Deutschland auch die Mitgliedstaaten Frankreich, Luxemburg, Österreich und die Niederlande eine mündliche Stellungnahme abgegeben haben.
Der Streit um das Territorialitätsprinzip
Die rechtlichen Fronten dürfen geklärt sein. Während der Antragsteller Konrad Erzberger eine Europäisierung der Unternehmensmitbestimmung für rechtlich geboten hält, verteidigen die TUI AG als Antragsgegnerin, die Arbeitnehmervertreter in deren Aufsichtsrat und der Betriebsrat wie auch die Mitgliedstaaten selbst die Ausklammerung ausländischer Arbeitnehmer. Die EFTA-Überwachungsbehörde dagegen schlägt sich vollumfänglich auf die Seite Erzbergers.
Interessant war vor allem der mündliche Vortrag der Europäischen Kommission. In ihrer schriftlichen Stellungnahme hatte sie die Beschränkung des Wahlrechts allein auf im Inland tätige Arbeitnehmer noch als Verstoß gegen das Unionsrecht angesehen. Im mündlichen Vortrag hat sie sich nunmehr eine (politische) Hintertür offengehalten: Sollte eine Öffnung der Unternehmensmitbestimmung für ausländische Arbeitnehmer den Bestand der Mitbestimmung gefährden, könnte dies womöglich einen Verstoß rechtfertigen.
Großen Raum nahm bei den meisten Beteiligten wenig überraschend die Frage ein, ob ein nationaler Gesetzgeber überhaupt die Rechtsmacht habe, die Arbeitnehmer in anderen Mitgliedstaaten in sein Wahlsystem zu integrieren (sogenanntes Territorialitätsprinzip). Der Prozessvertreter des Antragstellers, Dr. Caspar Behme, und die Vertreterin der EFTA-Überwachungsbehörde unterstrichen noch einmal, dass es allein um die Mitbestimmung bei einer deutschen Gesellschaft und damit um deutsches Recht geht, das zwanglos der Kompetenz des inländischen Gesetzgebers unterfalle. Sie verwiesen dazu rechtsvergleichend insbesondere auf die Wahlsysteme der Mitbestimmung Norwegens und Dänemarks.
Als Einwand gegen eine Diskriminierung stützten sich die Verteidiger des geltenden Systems auf das bekannte Argument, dass sich die Nichteinbeziehung aus Unterschieden zwischen mitgliedstaatlichen Rechtordnungen ergeben würde. Dagegen wiederum wehrte sich insbesondere die Europäische Kommission mit dem Gegenargument, dass sich das auf die deutsche Muttergesellschaft anwendbare deutsche Gesellschaftsrecht nicht ändert, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb des Konzerns vom Inland (wahlberechtigt) ins Ausland (nicht wahlberechtigt) wechselt.
2/2: Was der EuGH erkennen ließ
Die Vehemenz, mit der die Verteidiger des derzeitigen Systems ihre Position vertreten, ist noch immer überraschend, lassen sich doch keine sachlichen Argumente gegen eine Europäisierung der Unternehmensmitbestimmung finden. Vielmehr verbreitert eine solche Erweiterung die Legitimation der Mitbestimmung und verhindert einseitige Entscheidungen im Aufsichtsrat ("Deutschtümelei der Mitbestimmung"). Die ihren Kinderschuhen mittlerweile entwachsene Gesellschaftsform der Societas Europaea (SE) zeigt dies eindrucksvoll in der Praxis.
Zudem haben sowohl die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeber noch vor wenigen Jahren selbst den rechtspolitischen Apell erhoben, auch im Ausland tätige Arbeitnehmer in die Mitbestimmung einzubeziehen – davon scheint nun nicht mehr allzu viel übrig geblieben zu sein.
Die sich an die Plädoyers anschießenden Fragen des Gerichts und des Generalanwalts an die Verfahrensbeteiligten geben einen Hinweis darauf, welche Punkte für die rechtliche Bewertung von Relevanz sein könnten. So äußerte der Generalanwalt – selbst Däne – wenig Verständnis dafür, warum ein Wahlrecht für im Ausland tätige Arbeitnehmer an einem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip scheitern sollte. Wenig überraschend verwies er dazu auf das dänische Recht, das dafür die inländische Konzernmuttergesellschaft in die Pflicht nimmt.
Kritische Nachfragen an die Kommission
Bei seinen Fragen differenzierte der Gerichtshof vor allem zwischen der rechtlichen Bewertung eines Ausschlusses von in ausländischen, unselbstständigen Betrieben einer deutschen Gesellschaft tätigen Arbeitnehmern einerseits und einer in ausländischen, selbständigen Tochtergesellschaften einer deutschen Gesellschaft tätigen Arbeitnehmern andererseits.
Mit Blick auf die zweite Konstellation stellte der EuGH durchaus kritische Nachfragen, insbesondere in Richtung der Kommission. So thematisierten die Richter etwa, ob in diesem Fall die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) überhaupt einschlägig ist, oder ob es an dem hierfür erforderlichen grenzüberschreitenden Element fehlt – ein Element, das für einen Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV nicht erforderlich ist.
Ob das Gericht eine Differenzierung zwischen unselbstständigen Betrieben und selbstständigen Tochtergesellschaften auch in seinem Urteil vornehmen wird, und in welchem Verhältnis das besondere und allgemeine Diskriminierungsverbote in diesem Fall stehen, blieb freilich offen.
Die weitergehende Bedeutung des kommenden Urteils
Das Verfahren geht auf eine Vorlagefrage des Kammergerichts Berlin zurück. In dem dortigen Verfahren sind allein das aktive und passive Wahlrecht der im Ausland tätigen Mitarbeiter von Relevanz. Die davon zu trennende, aber gleichwohl in Zusammenhang stehende und ebenfalls umstrittene Frage, ob auch für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung die ausländischen Arbeitnehmer mitzuzählen sind, ist nicht Teil der Vorlagefrage. Der EuGH ließ in seinen Fragen aber erkennen, dass er diesen Aspekt für seine Entscheidung durchaus gesehen hat und wohl nicht unberücksichtigt lassen wird.
Jenseits der konkreten Frage um die unionsrechtlichen Anforderungen an die Unternehmensmitbestimmung ist zu erwarten, dass das Urteil neue Erkenntnisse für die Dogmatik der Grundfreiheiten bringt: Wie viel Gestaltungsspielraum haben die Mitgliedstaaten? Welche Binnenmarktrelevanz müssen Sachverhalte aufweisen, damit der EuGH sie am Maßstab des Primärrechts prüft? Wann ist das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV neben besonderen Diskriminierungsverboten anwendbar?
Den dritten Teil des ersten Aktes werden die für Anfang Mai dieses Jahres erwarteten Schlussanträge des Generalanwaltes darstellen, der in gutachterlicher Form dem Gericht eine Entscheidungsempfehlung unterbreitet. Stellt der EuGH in seinem Urteil (dann der vierte und letzte Teil des ersten Aktes) einen Verstoß gegen Unionsrecht fest, ist zu erwarten, dass in einem zweiten Akt – dann wieder vor den nationalen deutschen Gerichten – über die Interpretation und die Rechtsfolgen des Verdikts gestritten werden wird.
Eine Prognose fällt bei Urteilen des EuGH erfahrungsgemäß schwer. Als die statistisch verlässlichsten Indikatoren gelten die Stellungnahme der Europäischen Kommission und die Schlussanträge des Generalanwaltes. Gerade deswegen darf man gespannt sein, welche Antwort er auf die Vorlagefrage vorschlägt.
Der Autor Till Wansleben ist Wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg. Er publiziert und referiert seit Jahren zur Frage, ob die deutsche Mitbestimmung gegen Unionsrecht verstößt.
Till Wansleben, EuGH-Anhörung zu Unternehmensmitbestimmung: Wie viel Europa muss sein? . In: Legal Tribune Online, 24.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21880/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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