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EGMR zum Familiennachzug bei subsidiärem Schutz: Kom­pro­miss zwi­schen Men­schen­rechten und Mig­ra­ti­ons­kon­trolle

Gastbeitrag von Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M.

09.07.2021

Ein Vater mit seiner Tochter an der Hand

Prostock-studio - stock.adobe.com

Mitten im Wahlkampf droht der deutschen Kontingentlösung nicht das Aus. Staaten dürfen den Familiennachzug für zwei Jahre ausschließen, müssen danach aber den Einzelfall prüfen, entschied der EGMR. Daniel Thym erläutert die Hintergründe.

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Der Familiennachzug ist ein emotionales und politisch umstrittenes Thema, das in Deutschland vor und nach der letzten Bundestagswahl heftig diskutiert wurde. Damals verlängerte der Deutsche Bundestag den seit zwei Jahren ausgesetzten Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, bevor im Sommer 2018 eine Kontingentlösung eingeführt wurde. Seither dürfen monatlich bis zu 1000 Nachzugsvisa erteilt werden.

In der Diskussion prallten die Argumente heftig aufeinander. Es ist menschlich bewegend, wenn ein Syrer in Deutschland subsidiären Schutz erhält, dann jedoch seine Familie nicht sofort nachholen darf, sodass diese weiterhin in Syrien leben muss. Viele denken intuitiv: Das kann doch nicht mit den Menschenrechten vereinbar sein, wonach der Staat das Familienleben zu achten und zu schützen hat.

Umgekehrt drängen vor allem diejenigen Länder auf Restriktionen, in denen viele Asylbewerberinnen und Asylbewerber dauerhaft bleiben.

Nicht nur Deutschland verzögert den Familiennachzug. Dänemark führte 2015 eine generelle Wartefrist von drei Jahren ein, die keine Ausnahmen kennt. Wartezeiten oder Einschränkungen gibt es auch in anderen Hauptzielstaaten der Asylmigration, nämlich unter anderem in der Schweiz, Österreich und Schweden.

Grundsatzurteil der höchsten Instanz

Über die Rechtmäßigkeit solcher Einschränkungen urteilte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am 9. Juli 2021 (M.A. v. Denmark, Az. 6697/18). Geklagt hatte ein syrischer Ehemann.

Im Sommer 2015 hatte er als Bürgerkriegsflüchtling einen dänischen Aufenthaltstitel erhalten, der mit dem deutschen subsidiären Schutz vergleichbar ist. Ein Nachzugsvisum erhielt seine Frau allerdings erst drei Jahre später. Seit Ende 2019 wohnt sie bei ihm. Diese Verzögerung hält er für menschen-rechtswidrig.

Nach der Überschrift der Pressemitteilung scheint das Ergebnis klar zu sein: Die obligatorische Wartezeit verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Hinter dem scheinbar spektakulären Ergebnis verbirgt sich freilich eine sorgsam ausbalancierte Entscheidung der 17 Richterinnen und Richter der Großen Kammer, die als höchste Instanz über die Auslegung der EMRK entscheiden.

Enttäuscht werden diejenigen sein, die erhofft hatten, der Gerichtshof würde jede Beschränkung aufheben. So hatte das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) argumentiert, dass man nicht zwischen Bürgerkriegs-flüchtlingen und Personen mit regulärem Flüchtlingsstatus unterscheiden dürfe. Letztere besitzen nämlich überall in Europa ein Nachzugsrecht. Be-schränkungen gibt es nur beim subsidiären Schutz für Bürgerkriegsflücht-linge. Die Antragsteller meinten, dass der Nachzug immer dann zu gewähren sei, wenn man im Herkunftsland nicht zusammenleben könne.

Teilsieg für die Staateninteressen

Solche Argumente überzeugten den Gerichtshof jedoch nicht. Kurz und knapp heißt es in dem Urteil, dass man Bürgerkriegsflüchtlingen weniger Rechte geben dürfe als Personen mit regulärem Flüchtlingsstatus. Ausdrücklich erkennt die Große Kammer zwar an, dass dem Ehepaar nicht zugemutet werden könne, in Syrien zusammenzuleben. Allein daraus folge kein gene-relles Nachzugsrecht. Die Trennung sei nicht pauschal rechtswidrig.

Stattdessen heben die Richterinnen und Richter hervor, dass die Staaten "das wohletablierte Recht besitzen, die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern zu kontrollieren". Legitim sei auch, dass man in Fällen eines "Massenzustroms" strengere Regeln anwende und angesichts begrenzter Ressourcen den Familiennachzug zurückstelle. Generell stehe den Staaten ein "weiter Spielraum" zu, wie sie die widerstreitenden Interessen der Schutzberechtigten und Staaten zueinander in Bezug setzen.

Das Urteil liest sich bisweilen wie ein Lehrbuch. Die Große Kammer erklärt ausführlich, dass die EMRK nicht nur Einzelpersonen schütze, sondern zugleich eine staatliche Migrationskontrolle ermögliche. Das ist für sich genommen bemerkenswert. Der Gerichtshof ist sichtlich bemüht, die Regierungsinteressen als legitim anzuerkennen.

Generelle Aussetzung des Familiennachzugs für zwei Jahre möglich

Dabei bleibt es nicht bei der abstrakten Güterabwägung. Die Große Kammer gibt eine klare Leitlinie vor. Bis zu zwei Jahre lang dürfen die Staaten den Familiennachzug generell aussetzen, danach muss der Einzelfall geprüft werden. Aus diesem Grund verlor Dänemark. Ausnahmen von der Wartezeit kennt das dänische Recht nämlich nicht. Dänemark muss dem Antragsteller nun 10.000 Euro Schadensersatz zahlen.

Doch was heißt Einzelfallprüfung? Nach zwei Jahren muss keineswegs immer ein Nachzugsvisum erteilt werden. Stattdessen sind die Argumente für und wider einen Nachzug abzuwägen. Es geht etwa um die Länge der Beziehung, die Möglichkeit einer Rückkehr ins Heimatland, die Integration in den Zielstaat, die Interessen betroffener Kinder, mögliche Straftaten oder auch die Frage, ob jemand von Sozialhilfe lebt.

Diese Gesichtspunkte müssen von den Staaten abgewogen werden. Dabei kann der Nachzug durchaus auch länger als zwei Jahre verweigert werden. Zu laufen beginnt der Zweijahreszeitraum erst mit dem positiven Asylbescheid. Wartezeiten während des Asylverfahrens können also bewirken, dass die Trennung tatsächlich noch länger ausfällt.

Allenfalls begrenzter Änderungsbedarf für Deutschland

In Berlin dürfte die Große Koalition erleichtert aufatmen. Ein deutlicher Sieg der Antragsteller vor dem Gerichtshof in Straßburg hätte zugleich bedeutet, dass die deutsche Kontingentlösung menschenrechtswidrig ist. Dieses Ergebnis blieb der Bundesregierung mitten im Wahlkampf erspart. Deutschland hatte zwar den Familiennachzug zwischen Anfang 2016 und Mitte 2018 für etwas mehr als zwei Jahre ausgesetzt. In Härtefällen konnte man freilich schon damals ausnahmsweise ein Visum erhalten.

Seit dem Jahr 2018 gilt ohnehin eine andere Regelung. Es gibt ein monatliches Kontingent von 1000 Plätzen, das in der Praxis allerdings nicht ausgeschöpft wird. Im Jahr 2020 wurden nur etwas mehr als 5000 Nachzugsvisa erteilt, was auch an der Pandemie lag. Das heißt jedoch zugleich, dass es in Deutschland derzeit bereits eine Nachzugsoption gibt. Die Kriterien, anhand derer ausgewählt wird, welche Personen zuerst nach Deutschland einreisen dürfen, sind durchaus mit denjenigen vergleichbar, die der EGMR für die Einzelfallbetrachtung vorschreibt.

Man könnte allenfalls argumentieren, dass die Kontingentlösung durch eine einzelfallbezogene Güterabwägung ersetzt werden müsse. Es gäbe dann keine monatliche Obergrenze mehr, sondern die Behörden müssten lauter Einzelfallentscheidungen treffen. Zwingend ist dies jedoch nicht.

Überraschend deutlich betont die Große Kammer, wie wichtig es sei, dass die Staaten eigenverantwortlich den ihnen obliegenden Spielraum ausfüllen und eine vertretbare Lösung finden. Eine pauschale Aussetzung nach dänischem Vorbild geht nicht. Die deutsche Kontingentlösung hätte jedoch durchaus gute Chancen, in Straßburg bestand zu haben.

Fazit: Raum für politische Entscheidungen

Zunächst einmal ist es nicht spektakulär, wenn ein Gericht die widerstreitenden Interessen auszugleichen sucht. Eben dies symbolisiert bereits Justitia mit ihrer Waage: Es geht um Ausgleich und Balance.

Speziell für das Migrationsrecht ist das Urteil dennoch erstaunlich. Ganz offen kommunizieren die Richter, dass die Menschenrechte keine Einbahnstraße sind, um die Interessen von Migrantinnen und Migranten zu fördern. Die Staaten dürfen die Migration steuern, ordnen und auch begrenzen.

Das trägt die Verantwortung zurück in den politischen Raum. In Deutschland ist bereits absehbar, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte bei den nächsten Koalitionsverhandlungen wohl erneut aufgerufen werden dürfte. Speziell die Grünen wollen die aktuelle Kontingentlösung abschaffen. Ob man dies will, bleibt eine politische Entscheidung. Die Menschenrechte geben das Ergebnis nicht vor.

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EGMR zum Familiennachzug bei subsidiärem Schutz: Kompromiss zwischen Menschenrechten und Migrationskontrolle . In: Legal Tribune Online, 09.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45445/ (abgerufen am: 06.12.2023 )

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