Ein spektakuläres Urteil zum kommunalen Immobilien-Vorkaufsrecht, diverse Entscheidungen zum Auskunftsrecht oder die Absage an einen Richter, Reisekosten für einen Besuch beim EuGH abzurechnen - spannende Urteile des BVerwG gab es einige:
1/8: Kein BAföG für Rentner
Wer auf dem zweiten Bildungsweg noch Abitur gemacht hat, hat nur dann einen BAföG-Anspruch, wenn die Ausbildung bzw. das Studium planmäßig vor dem Renteneintrittsalter abgeschlossen wird. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Mitte Dezember (Urt. v. 10.12.2021, Az. 5 C 8.20).
Geklagt hatte ein 1950 geborener Mann, der zunächst den Hauptschulabschluss erworben und 2014 an der Abendschule noch das Abitur gemacht hatte. Er bezog seit Anfang 2016 eine Altersrente sowie ergänzende Sozialleistungen der Grundsicherung. Ab dem Wintersemester 2015/16 schrieb er sich für ein Bachelor-Studium an der Universität Hamburg ein und beantragte BAföG. Nachdem der Antrag von der Behörde abgelehnt worden war, scheiterte er in allen verwaltungsgerichtlichen Instanzen und schließlich auch vor dem BVerwG
Das Leipziger Gericht stellte klar, dass die Gewährung einer Ausbildungsförderung grundsätzlich daran geknüpft sei, dass der Auszubildende noch unter 30 bzw. bei Master-Studiengängen unter 35 Jahren alt ist (§ 10 Abs. 1 S. 3 BAföG). Diese Altersgrenze sei verfassungsrechtlich unbedenklich, meint das BVerwG, denn bei einer Ausbildung zu diesem Zeitpunkt dürfe davon ausgegangen werden, dass "das Interesse der Allgemeinheit an der Ausschöpfung von Bildungsreserven im Hinblick auf die zu erwartende, nur noch relativ kurze Berufsdauer gering ist."
Zwar bestehe auch eine Ausnahme, wenn die Zugangsbeschränkung erst, wie im konkreten Fall, im zweiten Bildungsweg erworben wurde und die Ausbildung daran unverzüglich anschließe. Allerdings, so das BVerwG, gelte dies dann nicht, wenn bei planmäßigem Abschluss der Ausbildung bereits das Rentenalter erreicht werde. Ausbildungsförderung sei dann nicht mehr zu gewähren, "wenn eine Ausbildung aus Altersgründen typischerweise eine ihr entsprechende Erwerbstätigkeit nicht mehr erwarten lässt".
2/8: Subsidiärer Schutz kein Hindernis für Familienflüchtlingsschutz
Ende November entschied das BVerwG, dass der subsidiäre Schutzstatus der Eltern und Geschwister eines minderjährigen Flüchtlings nicht die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes hindert. Wenn dieser Flüchtling während des laufenden Verfahrens volljährig wird, müssen allerdings sowohl die Familienangehörigen als auch das Kind ihr Asylgesuch noch vor dessen Volljährigkeit geäußert haben (Urt. v. 25.11.2021, Az. 1 C 4.21).
Geklagt hatte eine syrische Familie. Eines der Kinder ist inzwischen volljährig, dem Mädchen wurde der Flüchtlingsstatus nach Erreichen der Volljährigkeit zuerkannt, sie ist damit Stammberechtigte. Bereits als sie noch minderjährig war, hatte sie mit ihrer Familie in Deutschland Asyl beantragt. Die Anträge wurden jedoch allesamt - mit Ausnahme des Mädchens – abgelehnt. Die Familie bekam vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lediglich subsidiären Schutz zugesprochen.
Nachdem die Familie gezwungen war, durch alle verwaltungsgerichtlichen Instanzen zu gehen, hatte sie schließlich vor dem BVerwG Erfolg. Das BAMF wurde vom 1. Revisionssenat verpflichtet, der klagenden Familie in Anknüpfung an den Flüchtlingsstatus der Stammberechtigten nach § 26 Abs. 5 und Abs. 3 Asylgesetz (AsylG) den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.
Maßgeblich für die Entscheidung war dabei auch die sogenannte Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU), die der deutsche Gesetzgeber - in zulässiger Weise - mit § 26 Abs. 3, 5 AsylG weitergehend und für Asylsuchende günstiger umgesetzt hat. Der Senat führt hierzu aus, dass es das Ziel der Richtlinie sei, die Einheit der Kernfamilie zu festigen. Das sei durch die im nationalen Recht vorgesehene Angleichung des Schutzstatus ebenso in besonderer Weise bekräftigt wie durch die Erstreckung auch auf Geschwisterkinder, so das BVerwG.
3/8: Berlin darf Vorkaufsrecht für Immobilien nur eingeschränkt ausüben
Im November fällte das BVerwG ein viel beachtetes Urteil, dass Berlins Stadtentwicklungssenator als "Katastrophe" bezeichnete:
Das Gericht stoppte nämlich die bis dahin in Berlin übliche Vorkaufsrechtspraxis von Grundstücken aus Gründen des Milieuschutzes. Ein solches Vorkaufsrecht dürfe nicht auf Basis der Annahme ausgeübt werden, dass der andere Käufer oder Käuferin die Mieter:innen in der Zukunft mutmaßlich aus dem Gebiet verdrängen könnte (Urt. v. 09.11.2021, Az. 4 C 1.20). Das BVerwG hob damit das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin von 2019 auf und gab einer klagenden Immobiliengesellschaft recht.
Diese hatte ein Grundstück mit 20 Mietwohnungen und zwei Gewerbeeinheiten erworben. Da sich das Grundstück in einem Milieuschutzgebiet befand, übte der Bezirk das Vorkaufsrecht zugunsten einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft aus. Damit habe der Gefahr begegnet werden sollen, dass ein Teil der Wohnbevölkerung durch Mieterhöhungen oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen verdrängt werden könne. Die Gesellschaft klagte dagegen.
In der Begründung des Gerichts hieß es, das Vorkaufsrecht sei ausgeschlossen, wenn das Grundstück entsprechend den Zielen oder Zwecken der städtebaulichen Maßnahmen bebaut ist und genutzt wird und ein auf ihm errichtetes Gebäude keine Mängel aufweist. Diese Voraussetzungen lägen in dem Fall vor. Der Einschätzung der Vorinstanz, wonach auch zu erwartende Nutzungen zu berücksichtigen seien, folgte das BVerwG nicht. Berlins damaliger Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, Sebastian Scheel (Linke), kritisierte die Entscheidung: Das Gericht nehme den Kommunen fast gänzlich die Möglichkeit, das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten auszuüben.
4/8: BMI muss keine Twitter-Direktnachrichten herausgeben
Das Bundesinnenministerium (BMI) muss den Inhalt seiner Twitter-Direktnachrichten nicht herausgeben. Dies entschied das BVerwG Ende Oktober (Urt. v. 28.10.2021, Az. 10 C 3.20).
Geklagt hatte der Betreiber der Internetseite FragDenStaat, der Einsicht in die Twitter-Direktnachrichten des BMI begehrte. Diese Art von Nachrichten ermöglicht es auf Twitter, direkt mit den Nutzerinnen und Nutzern zu kommunizieren, ohne dass andere mitlesen können. In dem streitgegenständlichen Zeitraum hat das BMI die Direktnachrichten für informelle Kommunikation genutzt, etwa für Terminabsprachen, Danknachrichten für Bürgeranfragen oder für Fragen von Journalistinnen und Journalisten nach zuständigen Personen. Gespeichert werden die Nachrichten bei Twitter Inc., nicht beim BMI.
Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin hatte der Klage noch stattgegeben. Der Begriff der amtlichen Informationen nach § 2 Nr. 1 S. 1 Informationsfreiheitsgesetz (IFG) sei weit auszulegen und erfasse nur solche nicht, die ausschließlich privaten Zwecken dienen.
Das BVerwG teilte dies Ansicht nicht. Amtliche Informationen seien nur dann solche, wenn ihre Aufzeichnung amtlichen Zwecken diene. Damit müsse eine bestimmte Finalität der Aufzeichnung vorliegen. Bei Twitter-Direktnachrichten sei das nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Bei denen im konkreten Fall sei der aber wegen der geringfügigen inhaltlichen Relevanz nicht der Fall. Das BMI habe der Speicherung durch Twitter Inc. keinen amtlichen Zweck beigegeben. Die Speicherung sei nach deren Geschäftsmodell erfolgt.
5/8: BND muss Auskünfte über Medienkontakte geben
Geklagt hatte der Redakteur einer Tageszeitung. Er hatte den BND um Auskunft gebeten, welchen Medienvertreterinnen und Medienvertretern er Zugang zu seiner Liegenschaft in Berlin gewährt. Außerdem wollte er wissen, mit welchen Kolleginnen und Kollegen der BND im Jahr 2019 vertrauliche Einzelgespräche geführt hat. Der BND hatte die Fragen nur teilweise beantwortet.
Die Klage des Journalisten hatte nun teilweise Erfolg. Die Richter und Richterinnen entschieden, dass der BND Auskunft zu erteilen habe, welchen Medienvertreterinnen und Medienvertreter er an welchem Tag zum Zwecke des Kennenlernens Zugang zu seiner Liegenschaft in Berlin gewährt hat. Dem Auskunftsinteresse stünden schutzwürdige private Interessen der betroffenen Journalistinnen und Journalisten und der von ihnen vertretenen Medien nicht entgegen. Der Nennung ihrer Namen könne der BND auch nicht das Recherche- und Redaktionsgeheimnis entgegenhalten. Ebenso wenig stünde das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Medienvertreterinnen und Medienvertreter entgegen.
Weitere Auskünfte zu den Einzelgesprächen habe der Journalist aber nicht, betonte das BVerwG. Ansonsten bestünde nämlich die Gefahr, dass diese Informationen Rückschlüsse auf die konkreten Recherchetätigkeiten zulassen.
6/8: DUH bekommt Zugang zu CO2-Messdaten von VW
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat Anspruch auf Zugang zu Unterlagen über Messungen des CO2-Ausstoßes bei Kraftfahrzeugen, die die Volkswagen AG im November 2015 vertraulich an das Bundesverkehrsministerium (BMVI) übermittelte. Das entschied das BVerwG Ende April (Urt. v. 26.04.2021, Az. 10 C 2.20).
Das Gericht begründete die Entscheidung für den Informationszugang der DUH damit, dass das BMVI eine informationspflichtige Stelle sei. Zwar bestehe für ein Tätigwerden im Rahmen der Gesetzgebung eine Ausnahme von der Informationspflicht. Diese gelte aber nicht für Unterlagen, die im Zuge exekutiven Handelns übermittelt wurden.
Gründe für die Ablehnung des Antrags, konnte das BVerwG nicht erkennen: Nachdem die Staatsanwaltschaft Braunschweig die Ermittlungsverfahren abgeschlossen hatte, habe das Bekanntgeben der Informationen keine nachteiligen Auswirkungen mehr auf die Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen. Auch seien keine Auswirkungen auf die Durchführung eines laufenden Gerichtsverfahrens oder den Anspruch einer Person auf ein faires Verfahren ersichtlich.
Schließlich würden auch keine Ablehnungsgründe zum Schutz von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen oder freiwillig übermittelter Informationen greifen. Messradbedingungen von Prüfstandmessungen seien Informationen über Emissionen, deren Vertraulichkeit durch das Gesetz nicht geschützt würde. Im Übrigen, so das Gericht, würde das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe der Informationen das Interesse an der Vertraulichkeit der übermittelten Daten überwiegen.
7/8: Dienstherr muss Fahrt von OLG-Richter zum EuGH nicht bezahlen
Anlass für die Grundsatzentscheidung gab die Reise des Bremer Richters Dr. Klaus Schromek zum EuGH im Februar 2016. Den Luxemburger Richterinnen und Richtern hatte er mit seinem Strafsenat die Frage vorgelegt, ob die deutschen Justizbehörden Strafverfolgte ohne weiteres nach Ungarn oder Rumänien ausliefern müssen, trotz möglicherweise menschenunwürdiger Haftbedingungen. Er hörte sich die mündliche Verhandlung an und traf EuGH-Präsident Koen Lenaerts zu einem Gespräch in dessen Büro.
Der 2. Senat entschied nun aber, dass es nicht zu einem richterlichen Amtsgeschäft gehöre, die mündliche Verhandlung des EuGH zu einem selbst vorgelegten Vorabentscheidungsverfahren vor Ort in Luxemburg zu verfolgen.
Zur Begründung zogen die Richterinnen und Richter diverse Kriterien heran. So könne zum einen ein Dienstgeschäft bei einem solchen Besuch alleine dann vorliegen, wenn es der Fort- und Weiterbildung diene - wovon das BVerwG in diesem Fall aber nicht ausging. Das BVerwG wies insbesondere darauf hin, dass der klagende Richter Schromek bei seinem Besuch in Luxemburg auch keine Möglichkeit habe, Beweis zu erheben.
Auch sei die unmittelbare Kommunikation zwischen dem EuGH und dem nationalen Gericht auf "schriftlichen, telefonischen und digitalen Dialog" angelegt. Reisetätigkeiten seien davon nicht erfasst.
8/8: Keine Sonntagsarbeit bei Amazon im Weihnachtsgeschäft
Amazon hatte 2015 für mehrere seiner Logistikzentren Sonntagsarbeit im Advent beantragt - und das mit den erhöhten Bestellungen im Weihnachtsgeschäft begründet. In dem Fall, der das BVerwG beschäftigte, ging es um das Versandlager in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen. Das Land hatte die Arbeit an zwei Sonntagen genehmigt. Dagegen hatte Verdi geklagt. Die Gewerkschaft setzt sich für den Erhalt des vom Grundgesetz besonders geschützten arbeitsfreien Sonntags ein.
Sonntagsarbeit kann laut Arbeitszeitgesetz nur dann ausnahmsweise bewilligt werden, wenn besondere Verhältnisse zur Verhütung eines unverhältnismäßigen Schadens dies erfordern (§ 13 Abs. 3 Nr. 2 b des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG)). "Besondere Verhältnisse sind vorübergehende Sondersituationen, die eine außerbetriebliche Ursache haben. Sie dürfen also nicht vom Arbeitgeber selbst geschaffen sein", entschied nun das BVerwG.
Genau das sei bei Amazon aber der Fall gewesen. Die Vorinstanz, das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster, hatte festgestellt, dass der Versandhändler die Bestellungen mit kurzfristigen Lieferversprechen ("Same Day Delivery") selbst angekurbelt hatte. Damit hätten nicht "besondere Verhältnisse von außen" auf das Unternehmen eingewirkt, so das BVerwG. Die Bewilligung der Sonntagsarbeit sei deshalb rechtswidrig. Ob schon ein saisonbedingt erhöhter Auftragseingang eine Sondersituation darstellt, die die Bewilligung von Sonntagsarbeit rechtfertigen kann, entschied das Gericht nicht.
Sollte man kennen: Acht wichtige Urteile des BVerwG aus 2021 . In: Legal Tribune Online, 30.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47013/ (abgerufen am: 01.10.2023 )
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