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BVerfG bestätigt IHK-Zwangsmitgliedschaft: Frei­willig wäre keine Alter­na­tive

von Marcel Schneider und Pia Lorenz

02.08.2017

IHK Bremerhaven-Geestemünde am Hohenzollernring im Jahr 1916

Bild: gemeinfrei, via Wikimedia Commons, Bildquelle, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Erstmals seit langem hat das BVerfG über die Pflicht-Mitgliedschaft und die Beitragspflicht in der IHK entschieden. Es hält sie weiter für verfassungsgemäß, betont aber den Schutz von Minderheiten. Und Unterschiede zu den Anwaltskammern.  

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Der Streit um die Zwangsmitgliedschaft und die Entscheidung aus Karlsruhe

Zuletzt entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 19. Dezember 1962 über "die Pflichtzugehörigkeit zu den IHK nach dem IHKG" (Az. 1 BvR 541/57). Es sollte eine historische Entscheidung werden, denn danach hagelte es über ein halbes Jahrhundert Nicht-Annahme-Beschlüsse für alle weiteren Verfassungsbeschwerden zu diesem Thema.

Erst 2014 nahm das höchste deutsche Gericht zwei Verfassungsbeschwerden in der Sache zur Entscheidung an. Wie am Mittwoch bekannt wurde, wurden aber auch diese beiden  Verfassungsbeschwerden von zwei Kammermitgliedern zurückgewiesen. Mit seiner aktuellen Entscheidung bekräftigt der Erste Senat im Wesentlichen, was er in seiner damaligen Zusammensetzung bereits entschieden hatte.

Die an die Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern (IHK) gebundene Beitragspflicht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschl. v. 12.07.2017, Az. 1 BvR 2222/12 u. 1 BvR 1106/13). Nach Einschätzung eines Experten liefern die Verfassungsrichter aber in ihrer Begründung juristisch wie auch rechtspolitisch Bedeutsames. Und machen deutlich, dass ein klägerisches Anliegen trotz dieses Ergebnisses berechtigt ist: der Schutz von Minderheiten und der sorgsame Umgang mit der Pluralität der Interessen der Kammermitglieder. 

Die Kritik: Pflichtmitglied verletzt Grundrechte  

Die Kammern sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert, an die die Kammermitglieder Beiträge zahlen müssen. Pflichtmitglied ist, wer im Bezirk der jeweils regional zuständigen Industrie- und Handelskammer einen Gewerbebetrieb betreibt. Schon seit seiner Einführung im Jahr 1956 stehen das IHKG und damit die Kammern und speziell der Pflichtbeitrag in der Kritik.

Unfreiwillige Mitglieder argumentieren häufig, für ihren Beitrag keine Gegenleistung zu erhalten: Ein Gesamtinteresse der regionalen Branche, das man bündeln könnte, gebe es gar nicht, dafür seien die Betriebe vom Kleinst- bis zum Großunternehmer zu unterschiedlich. Und auch die für die Berufsausübung wichtigen Aufgaben, wie etwa die Abnahme von Prüfungen oder Erstellung von Bescheinigungen, könnten ebenso gut andere Ämter oder Behörden erfüllen.

So auch die beiden Beschwerdeführer - Kammermitglieder, die ihren Beitrag leisten sollten -, die mit ihren Verfassungsbeschwerden die Bestimmungen des Gesetzes über die Industrie- und Handelskammer (IHKG) zur Pflichtmitgliedschaft angriffen. Diese verletzten sie in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 1 Grundgesetz (GG), jedenfalls aber aus Art. 2 Abs. 1 GG.

BVerfG: Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gerechtfertigt

Das BVerfG aber legte als Prüfungsmaßstab für den Schutz vor Pflichtmitgliedschaften in "unnötigen" Körperschaften nur das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG an. Die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG ziele auf freiwillige Zusammenschlüsse zu frei gewählten Zwecken ab, zu denen die gesetzliche Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft eben nicht zähle.

Sowohl die Beitragserhebung als auch die Pflichtmitgliedschaft stellen für das Gericht zwar Eingriffe in die nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit dar. Bereits die Pflichtmitgliedschaft als solche sei schon nicht lediglich rechtlich vorteilhaft oder zumindest eingriffsneutral, so der Senat. 

Der Eingriff sei gerechtfertigt. Die in § 1 IHKG normierten Aufgaben der IHK genügten aber den Vorgaben des Grundgesetzes für die Gründung einer öffentlich-rechtlichen Pflichtkörperschaft. Die dort normierten Aufgaben, die der für die wirtschaftliche Selbstverwaltung typischen Verbindung von Interessenvertretung, Förderung und Verwaltungsaufgaben entsprächen, rechtfertigten die grundrechtlichen Eingriffe durch die Pflichtmitgliedschaft. Die Pflichtzugehörigkeit verfolge den legitimen Zweck, zu gewährleisten, dass beispielsweise alle regionalen Mitglieder ihre Interessen einbringen können oder berufliche Handwerksprüfungen einheitlich abgenommen werden.

Vom Umgang mit Minderheiten und von Anwaltskammern

2/2: Freiwillige Mitgliedschaft keine gleichwertige Alternative

Weil die Regelungen zur Pflichtmitgliedschaft geeignet seien, diese Zwecke zu erreichen, sei die Pflichtzugehörigkeit auch eine taugliche Grundlage für die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen, so die Verfassungsrichter. Zwar könne der Gesetzgeber sich auch für ein Konzept freiwilliger Mitgliedschaft bei Erhalt der Kammern im Übrigen entscheiden. Der jetzigen Ausgestaltung stehe das Grundgesetz aber nicht entgegen, befand der Senat: Bei angemessener Höhe und ordnungsgemäßer Verwendung der Gelder unterstütze der Beitrag die Kammer bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. 

Für Prof. Dr. Winfried Kluth "macht das Bundesverfassungsgericht noch einmal deutlich, dass Organisationen mit einer freiwilligen Mitgliedschaft aus der Sicht des Verfassungsrechts keine gleich geeignete Alternative darstellen". Die Verfassungsrichter sehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass den IHK seitens des Gesetzgebers Aufgaben zugewiesen wurden, die unnötige Kosten verursachen, oder dass es andere Möglichkeiten gäbe, finanzielle Mittel mit geringerer Eingriffswirkung gleichermaßen verlässlich von den regionalen Mitgliedern zu erheben.  

"Mit anderen Worten: Die Annahme des Gesetzgebers, dass die Aufgabenerfüllung durch die Kammern für die Betroffenen und den Staat die günstigere Variante darstellt, ist verfassungsrechtlich nicht angreifbar", erklärt der Vorstandsvorsitzende des Instituts für Kammerrecht in Halle. Dies werde auch durch einen an anderer Stelle des Beschlusses formulierten Gedanken bestärkt. "Wäre die Mitgliedschaft freiwillig, bestünde zudem der Anreiz, als 'Trittbrettfahrer' von den Leistungen der Kammer zu profitieren, ohne selbst Beiträge zu zahlen", heißt es dort. 

Kammerrechtler: Mitgliedsbeiträge durch Partizipationsmöglichkeit gerechtfertigt

Die Belastung der Betriebe durch die nach dem Gewerbeertrag gestaffelte Beitragspflicht und die Pflichtmitgliedschaft wiege nicht sehr schwer, bundesweit habe sich die Beitragspflicht in den letzten Jahren auch eher verringert als erhöht, argumentieren die Karlsruher Richter. Im Gegenzug verleihe die Pflichtmitgliedschaft den (unfreiwillig) Kammerzugehörigen Rechte zur Beteiligung und Mitwirkung an den Kammeraufgaben; bereits dieser Vorteil aus den Mitgliedschaftsrechten berechtige zur Erhebung der Kammerumlage. 

Es geht dem BVerfG damit weniger um konkrete Maßnahmen, die die Kammer für ihre Mitglieder im Gegenzug für deren Pflichtbeiträge einleiten könne, sondern es stellt ab auf die "stets gebotene rechtliche Möglichkeit, die eigenen Interessen in das Kammergeschehen einzubringen". Für Kammerrechtler Kluth ist das eine neue Argumentation: "Das BVerfG zieht vor allem die 'Finanzierung' der Partizipationsmöglichkeit als zentrale Rechtfertigungsmöglichkeit heran", so der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle.

Was die Kläger dennoch erreicht haben

Kluth stellt aber auch klar, dass der Erste Senat in seiner ausführlichen Begründung auch ein zentrales Argument der Kläger aufgreift. "Das Bundesverfassungsgericht macht deutlich, dass der sorgsame Umgang mit der Pluralität der Interessen der Kammermitglieder, insbesondere mit Minderheiteninteressen, ein berechtigtes Anliegen der Kläger ist". Keine Gruppe dürfe demnach institutionell majorisiert werden - auch nicht bei der Bildung des Gesamtinteresses der Wirtschaft der Region. 

Er weist darauf hin, dass das BVerfG die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die unter anderen verlangt, dass gewichtige Minderheitenposition bei der Abgabe von Stellungnahmen kenntlich gemacht werden müssen, für verfassungsrechtlich bindend erklärt hat. "Der Hinweis gilt dabei weniger dem Gesetzgeber, der die Kammern zu einer entsprechenden Abwägung verpflichtet hat, sondern vor allem den einzelnen Kammern, die dem im Arbeitsalltag Rechnung tragen müssen. Mit Blick auf die Praxis kommt damit der Beratung und Beschlussfassung in den Vollversammlungen eine herausgehobene Bedeutung zu. Auch das hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits deutlich herausgearbeitet".

Und ist all das auf die Anwaltskammern übertragbar? Dominik Storr, Prozessvertreter eines der Beschwerdeführer im nun entschiedenen Verfahren, sagte bereits im Jahr 2014 bei Einlegung der Verfassungsbeschwerde im Jahr 2014 im Gespräch mit LTO, "Anwälte sind immerhin eine homogene Gruppe. Da kann man jedenfalls noch eher argumentieren, dass es ein wahrzunehmendes Gesamtinteresse gibt."

Auch Kammerrechtler Kluth hält die Aussagen aus Karlsruhe zum internen Interessenausgleich wegen der größeren Homogenität der Berufsgruppe der Anwälte für weniger relevant. "In ihren grundsätzlichen Aussagen zur Rechtfertigung der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft auf die Berufskammern und damit auch die Rechtsanwaltskammern lässt sich die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts aber übertragen. Das gilt vor allem, soweit es um die Ermittlung und Vertretung der Interessen des Berufsstandes unter umfassender Einbeziehung aller Berufsträger und die Vermeidung von 'Trittbrettfahren' geht". Der Beschluss weise aber auch darauf hin, dass bei den Berufskammern umfangreichere hoheitliche Befugnisse vorgesehen sind. "An die Bestimmtheit der gesetzlichen Aufgabenzuweisungen sind daher höhere Anforderungen zu stellen als bei den Industrie- und Handelskammern." 

Mit Materialien von dpa

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Marcel Schneider und Pia Lorenz, BVerfG bestätigt IHK-Zwangsmitgliedschaft: Freiwillig wäre keine Alternative . In: Legal Tribune Online, 02.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23761/ (abgerufen am: 20.03.2023 )

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