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Buchrezension: Ein literarischer Kommentar zum Grundgesetz: Die Unver­letz­lich­keit der Woh­nung in Versen

Gastbeitrag von Prof. Dr. Alexander Thiele

16.10.2022

3.09.2018, Sachsen, Chemnitz: Zuschauer stehen vor dem Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr» auf einer Straße am Parkplatz vor der Johanniskirche und halten ein Transparent mit der Aufschrift "Grundgesetz ist geil".

Zuschauer bei einem Konzert gegen Rechtsextremismus in Chemnitz 2018 - welche Bedeutung hat das Grundgesetz heute? picture alliance/dpa | Sebastian Willnow

Eigentlich soll der "literarische Kommentar" Nichtjuristen vom Grundgesetz überzeugen – das gelingt nicht so ganz. Aber für Juristen bietet er interessante, wenn auch teils befremdliche Perspektiven, findet Alexander Thiele.  

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Kann jemand, der kein Jura studiert hat, sich gleichwohl ein zutreffendes Bild vom Grundgesetz machen? Ist es möglich, über das Grundgesetz so zu schreiben, dass jemand, der nicht vom Fach ist, es versteht und gerne liest? Georg M. Oswald – selbst Schriftsteller und Jurist – ist davon überzeugt und will das mit dem von ihm herausgegebenen "literarischen Kommentar" belegen. Hilfe holt er sich von 40 namhaften Autorinnen und Autoren, die ihre Vorstellungen zu einem der Artikel oder zu einem der Grundgesetzabschnitte auf jeweils wenigen Seiten zu Papier bringen. An großen Namen mangelt es nicht: Von Susanne Baer über Patrick Bahners, Udo Di Fabio und Eva Menasse, Herta Müller und Angelika Nußberger, Ronen Steinke und Andreas Voßkuhle hat Oswald zweifellos schriftstellerische und juristische Schwergewichte zusammengebracht.  

Schon deshalb nimmt man das Buch gern zur Hand und schon deshalb lohnt die Lektüre: Etwa der Essay zur Menschenwürde von Herta Müller, in dem sie ihre Erfahrungen im sozialistischen* Rumänien schildert oder die eindrückliche und in Versform präsentierte Darstellung zur verletzlichen Unverletzlichkeit der Wohnung durch Annette Pehnt. Auch die Funktion des Bundespräsidenten (und bald hoffentlich: der Bundespräsidentin) wird bei Hans Pleschinski anschaulich beschrieben. 

Die einzelnen Essays stehen allerdings berührungslos nebeneinander, sind nicht aufeinander abgestimmt. Sie sind meist anregend zu lesen, aber die von Oswald aufgeworfenen Ausgangsfragen geraten schnell aus dem Blick. Was mit dem Untertitel des Buches, also mit einem "literarischen Kommentar", eigentlich gemeint sein soll, bleibt nebulös, was der Herausgeber selbst festhält. Eine systematische "Kommentierung" des Grundgesetzes erfolgt jedenfalls nicht. Und was an dem Kommentar eigentlich literarisch sein soll, wird nicht geklärt, wenn man davon absieht, dass der Stil nicht "formal-juristisch", sondern essayistisch ist und Schriftstellerinnen und Schriftsteller beteiligt sind.

Subjektiv und persönlich – ausdrücklich gewünscht 

Ausdrücklich geht es Oswald darum, die Arbeit des Juristen "von einem neu gewählten Standpunkt aus kritisch zu betrachten." Anstatt also zu "jedem denkbaren Problem möglichst umfassend den aktuellen Meinungsstand dokumentieren" zu wollen, war von den Autorinnen und Autoren das "Gegenteil gewünscht, nämlich feuilletonistisch-pointiert" heranzugehen. Nun mag man darüber streiten, ob es sich insoweit wirklich um Gegenteile handelt, richtig ist aber, dass juristische Kommentare versuchen, weder subjektiv, noch allzu persönlich zu sein – Vorgaben, die an die Autorinnen und Autoren hier ausdrücklich herangetragen wurden.  

Demensprechend bleibt von einer gewöhnlichen Kommentierung eigentlich nur noch die Gliederung des Buches anhand der Artikel des Grundgesetzes, die freilich nicht vollständig erfolgt: Während die meisten Grundrechtsartikel mit einer eigenen "Kommentierung" bedacht werden (das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit fehlt, was angesichts der Corona-Debatten überrascht), gilt das für den Bereich der Staatsorganisation (leider) nicht. Diese Abschnitte werden meist zusammengefasst, einige durchaus bedeutende Bestimmungen werden nicht erwähnt – etwa das Weimarer Staatskirchenrecht oder Art. 116 GG. Auch die Verfassungsänderung oder die Ewigkeitsgarantie werden nicht behandelt (letztere wird zumindest von Benjamin Lahusen erwähnt). Das mag redaktionellen Zwängen geschuldet sein. Zumindest für die grundlegende Bestimmung des Art. 20 GG hätte man sich aber doch deutlich mehr gewünscht, wenngleich Sophie Schönberger die Zumutungen der Demokratie lesenswert herausarbeitet. Aber zu Rechts- und Sozialstaat liest man wenig.  

Als jemand, der sich professionell mit der Vermittlung des Grundgesetzes beschäftigt, wird man gleichwohl gegen den Versuch, das Wissen um das Grundgesetz und seine Bedeutung für die politische Stabilität der Bundesrepublik allgemeinverständlich zu erhellen, nichts vorbringen. Abgesehen von Art. 1 Abs. 1 GG wissen die meisten Menschen wenig über den Inhalt des Grundgesetzes, die wenigsten dürften es in Gänze gelesen haben – auch Studierende sind überrascht, was darin alles zu finden ist. Von einem von Dolf Sternberger angemahnten Verfassungspatriotismus sind wir weit entfernt.

Lücken, Missverständnisse und Mythen – nicht immer ausgeräumt 

Georg M. Oswald/C.H. Beck VerlagGerade vor diesem Hintergrund wäre es für die vornehmlich adressierten Nichtjuristen und Nichtjuristinnen aber vielleicht sinnvoller gewesen, das Grundgesetz etwas näher an seinem juristischen Bedeutungsgehalt zu erläutern, um Missverständnissen vorzubeugen und verbreiteten Mythen entgegenzutreten (Andreas Voßkuhle gelingt das gut für den Abschnitt zur Rechtsprechung). Das gilt weniger für den staatsorganisationsrechtlichen Teil, wenngleich sich die Kommentierung auch hier bisweilen weit vom Normtext oder aktuellen Debatten entfernt. 

Problematisch erscheint mir aber insbesondere die Behandlung des Grundrechtsabschnitts: So wird der wichtige Art. 1 Abs. 3 GG nicht behandelt (Angelika Nußberger erwähnt ihn kurz), Tristan Wißgott nennt bei seiner gelungenen Darstellung der allgemeinen Handlungsfreiheit zwar das Elfes-Urteil und kritisiert in diesem Zusammenhang richtigerweise die verfassungsrechtliche Prägung allgemeinpolitischer Debatten. Die nachgerade revolutionäre Lüth-Entscheidung kommt im Band hingegen nicht vor (sie taucht lediglich in einer Fußnote im Beitrag zur Meinungsfreiheit auf). Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Schwierigkeit gesellschaftliche Freiheit durch den Gesetzgeber in einen schonenden Ausgleich zu bringen, werden allein von Angelika Nußberger auf wenigen Seiten angerissen – nach den Erfahrungen mit der Coronapandemie eine vertane Chance. Das auf diese Weise vermittelte Grundrechtswissen bleibt dadurch unsystematisch und lückenhaft.  

Das wäre an sich nicht zu kritisieren, es geht Oswald nicht um den Ersatz einer Grundrechtsvorlesung. Bisweilen werden dadurch jedoch verfehlte Vorstellungen gefestigt: Wenn etwa in den Grundrechtsessays gesellschaftliche Debatten geführt werden, gerät die zentrale Funktion der Grundrechte – die Sicherstellung eines Raumes der Dunkelheit, der vor staatlicher Ausleuchtung schützt – in Vergessenheit oder wird schlicht übersehen. Das führt unter anderem dazu, dass Ulrich Woelk die größte Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit nicht in einem "totalitären Orwell’schen Staat", sondern "in ihrem allmählichen Verschwinden in einem Meer aus vollkommen beliebigen Pseudolehren, Privattheorien und Scheinswissenschaften" sieht.  

Auch wenn die staatlichen Bedrohungen nicht völlig geleugnet werden, erweist sich das vor dem Hintergrund der Vorgänge in Polen und Ungarn aber auch der hiesigen Diskussionen um eine angemessene Finanzierung und Organisation der Hochschulen als gewagte These, hat aber jedenfalls mit Art. 5 Abs. 3 GG wenig zu tun. Nicht minder fragwürdig ist es, wenn Eva Menasse das Briefgeheimnis angesichts der im digitalen Zeitalter ausufernden Öffentlichkeit privater Kommunikation zu einem "Relikt aus alter Zeit" erklärt. Hier offenbart sich dann doch ein grundlegendes Missverständnis. Vermeiden ließe sich das möglicherweise, wenn man jeden Artikel doppelt kommentierte: Einmal "literarisch" und einmal juristisch. Das wäre indes ein völlig anderes Buch. 

Die bisweilen befremdliche Wahrnehmung auf sich wirken lassen – gerade als Jurist 

Gleichwohl: Das Buch ermuntert, sich mit der deutschen Verfassung zu beschäftigen und über ihren Inhalt nachzudenken (für eine zweite Auflage sei angeregt, den gesamten Text des Grundgesetzes im Anhang abzudrucken).  

Seine eigentliche Leistung liegt aber möglicherweise woanders: Juristinnen und Juristen wird eine gänzlich andere Perspektive auf das Grundgesetz eröffnet. Diese, von Oswald vermutlich nicht primär adressierte Personengruppe sollte das Buch daher lesen und die aus juristischer Sicht bisweilen befremdliche Wahrnehmung der Verfassung ein- und auf sich wirken lassen.  

Der "literarische Kommentar" fungiert dadurch als "Alternativkommentar" für Juristen und Juristinnen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht vergessen sollten, dass das Grundgesetz weit mehr ist als ein schnöder juristischer Text.  

 

Prof. Dr. Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der Business & Law School Hochschule für Management und Recht in Berlin.

Das Grundgesetz - Ein literarischer Kommentar, herausgegeben von Georg M. Oswald, C.H. Beck-Verlag, erschienen am 25. August 2022, 2. Auflage, 2022, 381 S., Hardcover, 978-3-406-79032-4.

*geändert 16.10.2022, 15.30 Uhr

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Buchrezension: Ein literarischer Kommentar zum Grundgesetz: Die Unverletzlichkeit der Wohnung in Versen . In: Legal Tribune Online, 16.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49897/ (abgerufen am: 22.03.2023 )

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