Sich im Jahre 1955 über das deutsche Recht kundig zu machen, tat dringend not. Der NS-Gesetzgeber hatte eine Unmenge an Strafgesetzen hinterlassen. Ein jüdischer Richter und Staatsanwalt gab damals den populärsten Rechtsrat. Von Matin Rath.
Wer "bettelt oder Kinder zum Betteln anleitet oder ausschickt", wird mit Haft zwischen einem Tag und sechs Wochen bestraft, sah das Strafgesetzbuch (StGB) bereits seit 1872 vor. Botho Laserstein betonte in seinem Ratgeber "Das darfst du, das darfst du nicht", der vor 60 Jahren erschien, vor allem die Schutzwürdigkeit der Kinder. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Armut in Deutschland vielerorts mit Händen zu greifen. Die Bilder vom Wirtschaftswunder verstellen hier heute ein wenig den Blick.
Doch als Laserstein in den Jahren 1953 und 1955 zwei populäre Ratgeber zum Strafrecht schrieb, einen zum Strafprozessrecht, den oben genannten zum materiellen Strafrecht, müssen Verfahren, die eine wirtschaftliche oder sexuelle Ausbeutung von Kindern, aber auch von Frauen zum Gegenstand hatten, recht tägliches Brot gewesen sein.
Der ungewöhnliche Jurist Dr. iur Botho Laserstein stand auf Zeit im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen, als Richter beziehungsweise als Staatsanwalt. Strafrechtliche Ratgeber fürs gemeine Volk zu schreiben, hat ihn bei seinen Vorgesetzten kaum beliebt machen können.
Juristischer Rat nach NS-Normenflut
Dabei tat rechtlicher Rat dringend not, denn der NS-Gesetzgeber hatte eine Flut an Änderungen des materiellen Strafrechts hinterlassen, die zum Teil tief in das Alltagsleben einschnitten und nun den Bürgern der Bundesrepublik neue, jedenfalls noch ungewohnte Pflichten auferlegten.
Zu den harmloseren Beispielen zählt der 1943 erlassene § 170a StGB: "Ein Ehegatte, der Familienhabe böswillig oder aus grobem Eigennutz veräußert, zerstört oder beiseiteschafft und dadurch den anderen Ehegatten oder einen unterhaltsberechtigten Abkömmling schädigt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Heute mag man sich den Gesetzgebungsprozess des Jahres 1943 ein bisschen wie eine Slapsticknummer vorstellen: Der oberste Gesetzgeber, gespielt von Bruno Ganz, lässt sich im Führerbunker vom Referenten aus dem Reichsjustizministerium den Sinn dieser Vorschrift erklären – ist er doch gerade dabei, das gesamte Volksvermögen durch seine moralische Verkommenheit zu vernichten.
Nach dem Krieg blieb ein Gutteil des NS-Strafrechts vom neuen Gesetzgeber unbeanstandet. Bei der zitierten Norm beseitigte man immerhin die Versuchsstrafbarkeit, doch es blieben genügend neue Delikte. Den rechtsunterworfenen Bürgern war also in den 1950er Jahren durchaus noch zu erklären, wie viel neuartigen "staatlichen Strafansprüchen" sie ausgesetzt waren.
Befremden über Hilfspflicht
Manches von dem, was heute als Selbstverständlichkeit gilt, war 1955 immer noch neu. Laserstein nennt die 20 Jahre zuvor, im durchaus nicht liebevollen Jahr 1935 ins Gesetz geratene Vorschrift des § 330c StGB ironisch den "Liebesparagraphen": "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist, insbesondere wer der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt, obwohl er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten genügen kann, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
In der ironischen Bezeichnung spiegelte sich das leise Befremden wider, das diese strafbewehrte allgemeine Hilfspflicht damals noch auslöste, während man zum heutigen § 323c bestenfalls das Prüfungsschema paukt. Laserstein erklärte seinen Lesern, dass ihnen die Staatsgewalt derweil nicht nur mit neuem Recht Freiheit und Geld beschneiden würde. Auch vor dem Überraschungspotenzial der juristischen Lehre warnte er: "Eine Tat kann … noch so fein gesponnen und noch so vorsichtig ausgeführt sein – wir Juristen werden mit unseren modernen Strafrechtstheorien immer des in ihr liegenden Verbrechensgehalts und des verbrecherischen Willens des Täters Herr. Das sollte man sich immer vor Augen halten, bevor man eine unmoralische, rechts- oder gesetzwidrige Handlung begeht."
Düsseldorf - ein Zentrum der Unzucht
Dieses ungebremste Bekenntnis zum staatlichen Strafanspruch überall dort, wo sich Menschen im moralischen Grenzgebiet bewegen mochten, setzte der Ratgeberautor Laserstein an anderer Stelle fort, nunmehr aber sicher zum Ungemach der Vorgesetzten des Richters beziehungsweise Staatsanwalts Dr. Laserstein.
In einem alltagspraktischen Strafrechtsratgeber der 1950er Jahre durfte insbesondere das Delikt der Kuppelei nicht fehlen. Machten sich beispielsweise Eltern strafbar, wenn sie den Verlobten bzw. die Verlobte ihres erwachsenen Kindes über Nacht ins Haus ließen und dem Nachwuchs damit Gelegenheit zur Unzucht gaben?
Doch nicht Lasersteins Antwort auf diese, in diesen Zeiten echter Wohnungsnot drängende Frage (es kommt darauf an: Eltern von Verlobten, die dabei das Zeugen von Kindern im Sinn haben, gehen straffrei aus) dürfte Anstoß erregt haben. Laserstein ging vielmehr auch auf die polizeilich überwachten Bordellbetriebe ein:
2/2: Doppelmoral von Ministern und Polizei angeprangert
"Selbst unsere Herren Innenminister und Finanzminister haben inzwischen davon gehört, da sie zum Teil indirekt von dem Steueraufkommen dieser Häuser und damit vom Schandlohn weiblicher und männlicher Dirnen leben. Durch diese Duldung machen sich nach meiner und maßgeblicherer Juristen Ansicht alle beteiligten Beamten der Kuppelei, mindestens der Beihilfe dazu schuldig. Die Polizei erwidert, daß ihr diese Betriebe angenehm sind, weil sie die öffentliche Prostitution eindämmen (Düsseldorf: 700.000 Einwohner = 40.000 registrierte Dirnen!) und zusammenfassen, ihre Kontrolle erleichtern und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verhindern."
Bei diesem Angriff auf die Doppelmoral der Adenauer-Republik beließ es Laserstein. Er stimme dem polizeilichen Argument zwar zu, "weil die Prostitution eine uralte Einrichtung ist, leider eine soziale Notwendigkeit, die man mit Predigten nicht ausrotten kann. Dann aber ändere man schleunigst das Gesetz, weil es unmoralischer ist, ein Strafgesetz zu schaffen und es nicht anzuwenden, und weil es ein die Staatsautorität unterminierender Grundsatz ist, daß der Staat an jedem Verbrechen teilnehmen und daraus Nutzen ziehen darf, weil wo kein Ankläger, bekanntlich auch kein Richter ist! Diesmal bin ich wohl so deutlich geworden, daß kein Mißverständnis möglich und daß der Weg für jedes Disziplinarverfahren (ich meine: gegen die wahren Schuldigen) frei ist!"
Unbequem, daher entlassen
Die Rücknahme des Strafrechts auf dem Gebiet erotischer "Verirrungen", die Ende der 1960er Jahre begann, hat Botho Laserstein nicht mehr miterlebt. Seiner jüdischen Herkunft wegen war der 1901 in Chemnitz geborene Jurist 1934 nach Frankreich emigriert, hatte in einem Kloster versteckt überlebt. Seine Frau und Tochter wurden ermordet. Das Land Nordrhein-Westfalen beschäftigte Laserstein ungern, nachdem er 1951 zurückgekehrt war. Denn seine Ansichten waren nicht nur mitunter etwas inkohärent, sie blieben in diesen restaurativen Jahren vor allem suspekt: Laserstein hatte sich bereits in den 1920ern für die Entkriminalisierung männlicher Homosexualität eingesetzt, im Nachkriegsdeutschland fiel er mit seiner ablehnenden Haltung zur Todesstrafe auf, die wiedereinzuführen ein drängendes Anliegen vor allem christlicher Rechtspolitiker war.
Und dann schrieb der Richter und Staatsanwalt in seiner Exilheimkehrer-Probezeit auch noch vorwitzige Ratgeber.
Rechtspraktische Empfehlungen für den Straftäter, zu dem jeder Bürger einmal werden kann, Forderungen nach rechtspolitischer Liberalisierung auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts, die oben zitierte Forderung, der Staat möge sich an seine eignen Gesetze halten, waren offenbar zu viel des Guten. Das Land Nordrhein-Westfalen entließ den unbequemen Juristen. Am 9. März 1955 nahm sich Laserstein in Düsseldorf das Leben.
Beim Blick in die jüngere juristische Ratgeberliteratur fragt man sich, ob ihr nicht etwas Wagemut gut zu Gesicht stünde. Er wäre heute gewiss weit weniger bedrohlich.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Historischer Ratgeber: Dr. Lasersteins nicht nur freundlicher Rechtsrat . In: Legal Tribune Online, 28.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16005/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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