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Skandal-Prozess um Baselitz 1964/65: "Nackter Mann" oder Zombie mit erigier­tem Phallus

von Martin Rath

05.07.2015

Baselitz mit Bild

JOHN MACDOUGALL / AFP

"I know it when I see it", sagte mal ein Richter zu seiner Expertise für Pornografie. Der BGH hat sich Baselitz' skandalöse Werke wohl nie angeschaut. Martin Rath über einen vielleicht inszenierten Skandal, der den Künstler berühmt machte.

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Ein großer Skandal um einen Zombie-Phallus

Zwei Bilder boten der Staatsanwaltschaft Berlin (West) 1964 Anlass, gegen den Maler Georg Baselitz (bürgerlich: Hans-Georg Kern) sowie die Galeristen Hans-Michael Werner und Benjamin Katz wegen eines Delikts nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) vorzugehen. Sie zeigen in ihr Gekröse zerlegte menschliche Figuren, die jeweils mit einem riesenhaften Körperteil ausgestattet sind, das sich mit etwas gutem Willen als Phallus erkennen lässt: "Nackter Mann" und "Die große Nacht im Eimer" (hier mittig als "Best of" des Museums Ludwig).

Der damals geltende Straftatbestand, den das Trio, damals junge Männer von Mitte 20, erfüllt haben sollen, lautete: "Mit Gefängniß bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer 1. unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, vertheilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet, sie zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder zu demselben Zwecke vorräthig hält, ankündigt oder anpreist […]".

Wen erregt denn Zombie-Gekröse?

Es fällt schwer, in den beiden Bildern von menschlichem Gekröse nebst potenziellem Phallus eine sexuelle Komponente zu entdecken, die sich unter "Unzucht" subsumieren ließe. Allenfalls würde man heute vielleicht erwarten, dass sich Liebhaber von Zombie-Filmen über die anatomisch inkorrekte Darstellung ihrer Lieblinge aufregten, schwerlich, dass Strafverfolgungsbehörden auf den Plan träten, um die Öffentlichkeit vor dem erotischen Hauch der Gemälde zu schützen. 1964/65 ging die Sache jedoch bis zum Bundesgerichtshof (BGH), der das am 30. Juni 1964 gegen Baselitz und Tatgenossen ergangene Urteil des Landgerichts Berlin (LG) aufhob (Urt. v. 23.3.1965, Az. 5 StR 620/64).

In seinem Urteil merkt der BGH zunächst recht unfreundlich an, dass das LG die zwingende Norm des § 41 StGB übersehen habe, der im damaligen Wortlaut anordnete, den inkriminierten Gegenstand "unbrauchbar" zu machen. Ob die Vernichtung eines Bildes, das möglicherweise ein Kunstwerk sei, allerdings dem Grundrecht der Kunstfreiheit aus Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz (GG) entspreche, stehe dann in Frage und sei weiter zu bedenken.

Fritz Bauer, der bekannte hessische Generalstaatsanwalt, kritisierte hier sogleich den BGH, der sich im Baselitz-Urteil auf die grundrechtsdogmatische Position festlegte, auch die Kunstfreiheit sei nach Artikel 2 GG der Schranke des "allgemeinen Sittengesetzes" unterworfen (Anm. Bauer, Juristenzeitung 1965, S. 491).

Unzucht: "I know it, when I see it"

Dazu, ob es sich bei den Baselitz-Arbeiten überhaupt um unzüchtiges Bildgut handele, wollten die BGH-Richter allerdings kein Urteil abgeben. Die Redaktion der "Juristenzeitung" kürzte 1965 gnädig den zwischen den Zeilen geäußerten Wunsch nach einer höchstrichterlichen Inaugenscheinnahme aus ihrem Abdruck heraus: Die Berliner Richter hätten Feststellungen zum pornografischen Wesen treffen müssen, "die übrigens durch die Aufnahme verkleinerter farbiger Reproduktionen in die Urteilsgründe hätten ergänzt und anschaulich gemacht werden können".

Dem berühmt-berüchtigten Statement "I know it, when I see it", das der US-Richter Potter Steward 1964 für juristische Werturteile in Sachen Obszönität kundtat (Jacobellis v. Ohio, 378 U.S. 184), hätten sich seine BGH-Kollegen hier gut anschließen können, denn offensichtlich hatten sie die Machinationen des Georg Baselitz gar nicht zu Gesicht bekommen.

Alles nur inszeniert?

2/2: Litigation-PR als Kunstvermarktung

Zweifel daran, ob die Werke "Nackter Mann" und "Die große Nacht im Eimer" eine Leistung in der Geschichte pornografischer Erregungsbemühungen darstellen, sind recht zwingend, sobald man sie in Augenschein genommen hat. Nicht, dass hier Vergleichsstudien erforderlich wären. Nach der Potter-Steward-Formel und dem mürrischen Zwischenton des BGH-Senats zielt hier ja alles auf das unmittelbare richterliche Gefühlsurteil beziehungsweise den erotischen Teil des Juristenverstands.

Es drängt sich die Frage auf, warum die Justiz in Berlin (West) gleichwohl so versessen war, die Baselitz’schen Bilder unter den Pornografie-Paragrafen zu subsumieren. An der Provinzialität der ehemaligen Reichshauptstadt allein sollte das kaum gelegen haben. Der "Spiegel" berichtete (in Heft 26/1964), dass Polizeipräsident Erich Duensing, der Kripo-Chef Wolfram Sangmeister sowie Generalstaatsanwalt Dr. Lothar Münn persönlich die Ausstellung besuchten, gleich eine ganze Reihe von Polizisten und Staatsanwältinnen im Schlepptau.

Michael Werner, einer der beiden Galeristen und späteren Angeklagten, heute eine zentrale Figur des deutschen Kunstmarkts, erklärte 2011 in einem Interview mit dem Magazin "artnet", dem Kunstkritiker Martin G. Buttig sei bei einem gemeinsamen Besäufnis die Idee gekommen, einen Skandal zu inszenieren. Während "viel Bier und Schnaps getrunken" wurde, sei dieser zum Telefon marschiert, um in Erfahrung zu bringen, dass eine Zeitung – Werner nennt die ostzonale (!) "Berliner Zeitung" – die Ausstellung scharf angreifen würde. Am nächsten Morgen soll das Blatt von einer Beschlagnahmeaktion in der Galerie berichtet haben.

"Das war eine Erfindung", erinnerte sich Werner 2011 weiter. Was die Zeitungsmeldung bewirkt haben soll: "Ich gehe zur Galerie, der Staatsanwalt steht schon vor der Tür und nimmt pflichterfüllt zwei Bilder mit, eines war Die große Nacht im Eimer."

Strafverfolgung als Ritterschlag zum Staatsrebellen

Unabhängig davon, welche der widersprüchlichen Erzählungen vom Beginn und Verlauf der Ermittlungen gegen Baselitz und die Galeristen zutraf – der "Spiegel" berichtete von ersten guten Abverkäufen in Folge der Skandalberichterstattung, Baselitz erinnerte sich später gegenüber der "Bild"-Zeitung an prozessbedingte Zahlungsunfähigkeit – die Strafsache erlaubte es dem Künstler in den folgenden Jahrzehnten, sich als rebellischen Kopf zu inszenieren. Kaum eine öffentliche Auskunft zu Baselitz kommt ohne den Hinweis auf den etwas obskuren Prozess von 1964/65 aus.

Sicher nicht von Nachteil für die Legendenbildung ist, dass der durchaus meinungsstarke Anwalt Paul Ronge als mögliches Korrektiv ausfiel. Der seinerzeit in Westdeutschland und Berlin (West) weltberühmte Strafverteidiger starb im November 1965 überraschend kurz vor seinem 65. Geburtstag an den Folgen eines Unfalls.

Legende wird zum Staatskünstler

Seit den 1990er Jahren erzielen Werke von Baselitz Auktionspreise von mehr als einer Million US-Dollar. Mindestens zwei der Angeklagten von 1964/65 sind seit Jahrzehnten Leitfiguren des deutschen und internationalen Kunstmarkts und äußerst wohlhabende Männer geworden.

Der mehr oder minder inszenierte Skandal half dabei, das Image zu erwerben, ein rebellischer Künstler zu sein und damit gute Geschäfte zu machen, natürlich nicht zuletzt mit jenen Unternehmen, die im Zweifel stets viel Geld anzulegen, mitunter schlicht zu verbrennen haben, also mit Firmen der Finanzbranche.

Als die englische Königin anlässlich ihres Deutschlandbesuchs im Juni das Gemälde "Pferd in Royalblau" der Künstlerin Nicole Leidenfrost als Staatsgeschenk erhielt, wurde viel gespottet, Bundespräsident Gauck habe den Wert der Kunst im Staatsbetrieb aufs Kunsthandwerkliche absinken lassen. Diesen Vorwurf kann man dem ehemaligen Inhaber eines anderen Amts von Verfassungsrang nicht machen: Bundeskanzler Gerhard Schröder ließ sich einen abstürzenden Adler, ausgeführt von Georg Baselitz, ins Dienstzimmer hängen.

Ein Staatsmann, der sich in seinen jüngeren Jahren durch sozialistische Phrasen als rebellischer Kopf empfahl, machte einen Maler zum Staatskunstlieferanten, der eine ganz ähnliche biografische Strategie verfolgte. Man kann das für eine eigentliche Obszönität halten oder auch für einen Akt ausnahmsweiser Ehrlichkeit.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

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Martin Rath, Skandal-Prozess um Baselitz 1964/65: "Nackter Mann" oder Zombie mit erigiertem Phallus . In: Legal Tribune Online, 05.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16089/ (abgerufen am: 09.06.2023 )

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