Fixe Ideen in Raum und Zeit – ein Aufsatz in der Zeitschrift "Der Staat" erinnert an einen ebenso scheußlichen wie idiotischen Horrorfilm. Die weitere Zeitschriftenlektüre überfliegt das Gesetzgebungsoutsourcing an Linklaters, die Ökonomie der Normsetzerei und erklärt, wieso britische Herrenclubs als Bürgerwehren kein Erfolgsmodell waren. Fremde Gedankengänge, nachgeschritten von Martin Rath.
Der Polizeibeamte John Hobbes, gespielt von Denzel Washington, gerät im Film "Fallen" von 1998 ("Dämon – Trau keiner Seele") mit dem bösen Geist "Azazel" aneinander. Azazel entweicht anlässlich einer Hinrichtung dem Körper eines Serienmörders und springt nun – durch Körperkontakt übertragen – von einem Menschen zum anderen. Detective Hobbes findet heraus, dass der böse Dämon außerhalb eines Körpers nicht lange überleben kann und wird schließlich selbst in einer einsamen Waldhütte von Azazel ergriffen, wo er versucht, dem Dämon durch Suizid die materielle Grundlage zu entziehen.
Horrorfilme sind dämlich, der Gegenbeweis ist nicht geführt. Man wird die Analogie nicht zu weit treiben dürfen, aber die Lektüre eines Essays in der rechtswissenschaftlichen Zeitschrift "Der Staat" (2012, S. 417-445) weckt eine ähnliche Gefühlsmischung wie der sarkastisch-distanzierte "Genuss" des Mainstream-Horrorfilms.
Göttlicher Staatsgedanke durchweht Juristenkörper?
Für ein juristisches Vierteljahresmagazin recht ungewöhnlich, singt der emeritierte Staatsrechtler Walter Leisner ein Loblied auf die Dichtung des römischen Staatspoeten Publius Vergilius Maro, kurz Vergil.
Leisners Tonfall als "Singen" zu bezeichnen, ist nicht polemisch: Die "Aeneis" des Vergil (70 bis 19 v. Chr.), das Epos erzählt von der Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja, der zum mythologischen Stammvater der antiken Römer wird. Die "Aenis" beginnt mit den Worten "Arma virumque cano…" – "Ich besinge die Waffen und den Mann…", der dann Rom erbauen kann. Leisner schwärmt über "(d)iese wunderbare Vokalkombination, die jedem Laut seinen Wert lässt, seine Kraft gibt – das ist vom römischen Befehl zur imperialen Musik geworden, für viele Generationen. Nicht Zorn und List ist da wie an homerischen Anfängen, Ordnung wird verkündet, der kommende Staat."
Dieser vom römischen Dichter besungene "Staat" steht, um Leisner weiter zu zitieren, in einer "Dimension der Zeitlosigkeit, wie sie auch heute noch 'stillschweigend' – Schweigen ist zeitlos – aller Dogmatik des Öffentlichen Rechts, des Rechts überhaupt, zugrunde liegt. Der Staat kann nicht sterben, da die Ordnung nicht aufhören kann."
Leisner schreibt der Dichtung des Vergil, animiert wohl durch die Herrschaft des ersten römischen Princeps Augustus (63 v. Chr.- 14 n. Chr.) nach Jahren des Bürgerkriegs, eine "geistige Wirkmächtigkeit" zu, die "bis in ein Jenseits [stieg]", das alles erfasste, "vor allem den Staat auf Erden – das Reich".
Der Geist durchwehte im Lauf der Geschichte dann so manchen Juristenknochen. Versteht man Leisner richtig, haben sich 1948/49 etwa die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats nicht nur zusammengesetzt, dem Land eine provisorische Verfassung zu geben, nein: Wird der "Staat des Vergil", diese "Fluchtburg aus der Not" durch "teuflische List und aus Sorglosigkeit" zerstört, so wird er neu aufgebaut, "so haben die Deutschen ihre alten Götter mitnehmen wollen, nicht nur Götzen, aus dem Brand von Berlin hinüber in ihren neuen Staat".
Staatsbildungsprozesse ohne Gesang
Wahrscheinlich ohne Gesang und hoffentlich mit weit weniger Schwülstigkeit ging es wohl wirklich zu, als die Leute in grauer Vorzeit ihre Verhältnisse juristisch zu regeln begannen. In der "Historischen Zeitschrift" (2012, S. 62-77) berichtet der Greifswalder Historiker Karl-Heinz Spieß aus einer Epoche, die man sich gemeinhin lieber mit Minne-Gesang und Ivanhoe-Kostümen ausmalt als in ihren juristischen Dimensionen.
Gegenwärtig wird ja oft über eine "Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse" geklagt. Betrauert wird dabei, dass Nachbarn heutzutage bei Streitigkeiten lieber zum Rechtsanwalt laufen, statt sich nach der Sitte ihrer Großväter im Wirtshaus zu prügeln. Oder dass Schüler wegen schlechter Noten vors Verwaltungsgericht ziehen.
Unter dem Titel "Formalisierte Autorität" betrachtet Spieß "Entwicklungen im Lehnsrecht des 13. Jahrhunderts". Vor der "Verrechtlichung" stand damals erst noch die "Verschriftlichung" und auch mit den "Berufsträgern" war es noch nicht weit her: "Juristen als Berufsstand gab es nicht und konnte es der Sache nach gar nicht geben, weil prinzipiell jeder erwachsene Mann rechtskundig war."
Wie Textbausteine und Juristen das Lehensrecht verkrusteten
Zu diesem Zweck sangen die erwachsenen, freien Männer des Mittelalters offenbar nicht die "Aenis" des Vergil, sondern fragten ihre "Dorf-, Standes- oder Lehnsgenossen" danach, was "Recht" ist. Im Lehensrecht zum Beispiel waren die Fragen auch ohne Gesang farbenfroh genug: "Wann musste der Vasall beim Lehnsempfang knien, wann durfte er stehenbleiben, was passierte bei dem Versäumnis der Mutungsfrist, wen durfte der Lehnsherr in das Lehnsgericht berufen, wer folgte beim Fehlen von Söhnen in das Lehen nach, was passierte bei der Minderjährigkeit des Nachfolgers u.s.w.?"
Im 13. Jahrhundert war, so Spieß, das mündlich von Fall zu Fall rekonstruierte Lehnsrecht noch nicht durch schriftliches Fixieren erstarrt – auch wenn berühmte Rechtstexte wie der Schwabenspiegel das vielleicht nahelegen. Allerdings begann wohl die "im 12. Jahrhundert einsetzende schriftliche Fixierung lehnsrechtlicher Sachverhalte die Machtbalance zwischen Lehnsherr und Vasall" zu verändern. Lehnsherren gaben nicht nur Urkunden heraus, in denen sie ihren Vasallen etwa den Besitz über Land und Leute zusprachen – sie behielten auch eine Kopie bei ihren Akten.
Erst diese Akten ließen die Juristen wachsen: "Was die gewohnheitsrechtliche Tradition des Lehnsrechts im 15. und 16. Jahrhundert schließlich verkrusten oder versteinern ließ, waren nicht etwa das schriftliche Recht, sondern zum einen die stereotype Formulierung der zur Regel gewordenen Lehnsbriefe und Lehnsreverse, die in den regelmäßig geführten Lehnsbüchern zusätzlich kopiert wurden, zum anderen die zunehmende Unterwanderung der Mannengerichte durch Beamte und Juristen. Der Endpunkt war in den Territorien meist im 16. Jahrhundert erreicht, als das Lehnsgericht in eine zentrale Landesbehörde umgewandelt war."
Gesetzgebungsoutsourcing: "Schlanke Staaten" zurück auf dem Weg ins Vasallentum?
Angesichts der Promotionsaffäre des fränkischen Freiherrn ging in der öffentlichen Wahrnehmung fast völlig verloren, dass Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner kurzen Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister auch für einen Vorgang verantwortlich zeichnete, der einen leicht feudalen Beigeschmack hatte: Er legte dem Bundeskabinett einen Entwurf zur Änderung des Kreditwesengesetzes vor, der nicht allein von Linklaters-Anwälten "betreut", sondern gleich auf dem Briefpapier der Lawfirm gedruckt worden war, stammte er doch vollständig aus einem "Gesetzgebungsoutsourcing".
Dem Nürnberger Professor für öffentliches Recht Klaus Meßerschmidt ist nun eine ausführliche Kritik aus politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive zu verdanken: "Private Gesetzgebungshelfer – Gesetzgebungsoutsourcing als privatisiertes Regulierungsmanagement in der Kanzleiendemokratie?" (in: "Der Staat" 2012, S. 387-415).
Wegen der zunehmenden Bedeutung von "Think Tanks" außerhalb des engeren Parteien- und Parlamentsbetriebs, des liberalen Dogmas vom "schlanken Staat" und der allgemeinen Präferenz für wirtschaftliche "Kooperation" zwischen Verwaltung und privaten Unternehmen ("Public Private Partnership") ergibt sich eine nüchterne Haltung der Politikwissenschaftler. Aus ihrer "Sicht der Rolle des Staates bietet die Substitution von Teilen des tradierten Gesetzgebungsprozesses durch die Vergabe von Werkverträgen an privatwirtschaftliche Regulierungsdienstleister keine Überraschung".
Neofeudale Normgebungspraxis statt des guten alten Gesetzgebungsstaats
Die Rechtswissenschaft habe hingegen am "Gesetzgebungsoutsourcing" nach Art des Guttenberg-Linklaters-Vorgangs einiges auszusetzen. Nicht nur, dass der Vorgang noch nicht einmal auf der Ebene des Geschäftsordnungsrechts geregelt sei. Auch führe das Outsourcing zur Verletzung materieller Grenzen, denn: "Eine dem Gemeinwohl verpflichtete Ministerialbürokratie wird aus solchen Kontakten nützliche Informationen für die Gesetzgebung gewinnen, sich jedoch nicht die Federführung aus der Hand nehmen lassen. Gleiches gilt für die Einberufung von Sachverständigengremien für die Erarbeitung von Gesetzentwürfen."
Dem Staatsvolk sei es, so Meßerschmidt, bereits schwer zu vermitteln, dass die Ministerialbürokratie statt des Parlaments die Hauptarbeitslast des Gesetzgebungsprozesses trage – nicht mehr nachvollziehbar wäre es aber, wenn "eine tausende von Mitarbeitern zählende Verwaltung quantitativ oder qualitativ hierfür ebenfalls nicht ausreiche". Für das demokratische Publikum würde damit das "alteuropäische Stück Gesetzgebungsstaat aufgeführt, während hinter den Kulissen private Regulierungsmanager interessengeleitete Transfergesetzgebungen auf den Weg bringen".
Derzeit versuchen sich die zentralen politischen Akteure durch Selbstregulierung etwaig beteiligter Lobbyisten ("Governance") und mittels Transparenzpflichten aus der Gefahrenzone einer neofeudalen Normsetzungspraxis zu bewegen.
Gut möglich, dass Experten für das mittelalterliche Lehnsrecht bei der Pflege der neu entstehenden Lobbyistenregister der Demokratie einen Dienst erweisen könnten. Schließlich sollten sie, wie es der Bericht des Greifswalder Historikers Spieß andeutet, eine Spürnase dafür haben, wann eine Dokumentation von Machtverhältnissen in reinem Formalismus erstarrt – während die Musik ganz woanders spielt.
Straftäter verurteilen? Viel zu teuer für das Opfer im 19. Jahrhundert in England
Der "Warnruf" des Ö-Rechtlers Meßerschmidt vor dem möglichen "Hoflieferantentum" in einer outgesourcten Gesetzgebung wird ein wenig relativiert durch ein schönes historisches Beispiel, in dem der junge US-amerikanische Ökonomieprofessor Mark Koyama zeigt, wie sich gleichsam feudale Verhältnisse im Rechtssystem in moderne Verwaltungsstrukturen transformierten – dank der Kraft von Marktmechanismen.
Unter dem Titel "Prosecution Associations in Industrial Revolution England: Private Providers of Public Goods?" stellt der Ökonom Koyama rechtshistorische Recherchen in englischen Archiven vor (The Journal of Legal Studies 2012, S. 95-130). Weil staatliche Polizeibehörden weitgehend fehlten, war es im englischen System den Opfern von Straftaten bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum möglich, zu vertretbaren Kosten die Verfolgung von Kriminellen zu betreiben. Beispielsweise kostete – und dies war noch ein preiswertes Verfahren – die Verurteilung eines gewissen Thomas Mills im Jahr 1829 mehr als 6 £ 6 Shilling, die unter anderem für die Fahndung, Inhaftierung, Haft- und Prozesskosten privat vorzufinanzieren waren.
Den Verurteilungkosten von gut 6 £ stand ein Pro-Kopf-Volkseinkommen von rund 24 £ gegenüber. Teurere Verfahren waren zwischen 20 und 50 £ zu veranschlagen. Für den einzelnen Geschädigten waren solche Beträge nicht zu tragen, es entspräche grob geschätzt zwischen 8.000 und 60.000 Euro, die ein deutsches Tatopfer heute privat zu zahlen hätte, bevor ein Beschuldigter strafrechtlich abgeurteilt wäre.
Polizei erst nach dem Herrenclub in Great Britain
Die britische Lösung bestand im Herrenclub, genauer gesagt in "Prosecution Associations" – einer Mischung aus Wach- und Schließgesellschaft und Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Zwischen 1750 und 1850, die Industrialisierung schuf viel armes Stadtproletariat und die standardisierten Produkte ließen sich leichter stehlen und hehlen, existierten schätzungsweise rund 4.000 Prosecution Associations.
Wegen der ökonomischen Rahmenbedingungen von Kriminalitätsbekämpfung waren diese Gesellschaften allerdings nicht unbedingt langlebig: Wenn Geschäftsleute für teures Geld Wachleute anheuerten, schufen diese ja nicht nur Sicherheit für ihre Auftraggeber, sondern gleich für den ganzen Straßenzug. Ökonomen sprechen hier von Trittbrettfahrer-Effekten: Wer nicht in die Kasse der Prosecution Association einzahlte, kam dennoch in den Genuss ihrer Leistungen.
Schließlich legten die Gesellschaften bei allem – philanthropischen, am Gemeinwohl orientierten – Strafverfolgungsinteresse stets großen Wert darauf, dass ihre Mitglieder unbedingt die gerichtliche Aburteilung gefasster Täter betrieben: Einzelne Geschädigte waren natürlich stets der Versuchung ausgesetzt, es bei der Rückübertragung von Raub- und Diebesgut zu belassen, hatte man den Täter erst.
Ökonomische Gesetzmäßigkeiten wie diese waren es schließlich, die in Großbritannien dazu führten, ab den 1830er-Jahren eine moderne Polizei mit öffentlichem Strafverfolgungsauftrag zu etablieren, während die englische Gerichtsverfassung lange in mittelalterlich-feudalen Strukturen verharrte.
Von Staatlichkeit singen oder sie durchrechnen?
Die eingangs herbeigerufene Horrorgeschichte ist unter anderem deshalb etwas idiotisch, weil der scheinbar allmächtige böse Geist "Azazel" ausgerechnet in Alt-Aramäisch spricht. Da versteht ihn doch heutzutage kaum jemand.
Es mag sein, dass der von Leisner beschworene Staats-Geist durch Zeit und Raum schwebt. Unwahrscheinlich ist es aber, dass er sich in der lateinischen Dichtung des Vergil äußert. Denn Latein dürfte auch unter Juristen bald so flüssig verstanden werden wie Alt-Aramäisch.
Viel wahrscheinlicher regelt sich die "geheime" Mechanik von Staat und Gesellschaft nach ökonomischen Regeln. Das hätte wenigstens den Vorteil, dass sich derzeit viele jedenfalls bemühen, sie zu verstehen.
Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: Ein singender Staatsrechtler, Linklaters-Gesetze und Herrenclubs . In: Legal Tribune Online, 11.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7511/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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