Wer in Großbritannien Kindergeld haben will, muss sich rechtmäßig im Land aufhalten – auch als EU-Bürger. Das ist zwar eine mittelbare Diskriminierung, sie ist aber gerechtfertigt, entschied der EuGH.
Das Vereinigte Königreich kann verlangen, dass Bezieher von Kindergeld und der Steuergutschrift für Kinder ein Recht auf Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet haben. Diese Voraussetzung stellt zwar eine mittelbare Diskriminierung dar, ist aber durch die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, gerechtfertigt. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag entschieden (Urt. v. 14.06.2016, Az. C-308/14).
Der Gerichtshof wies damit eine Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen den Inselstaat ab. Bei der Kommission waren zahlreiche Beschwerden von nicht britischen EU-Bürgern eingegangen, die sich im Vereinigten Königreich aufhalten. Diese beschwerten sich darüber, dass sich die zuständigen britischen Behörden weigerten, ihnen bestimmte soziale Leistungen zu gewähren, weil sie kein Aufenthaltsrecht im Land besäßen.
Nach Auffassung der Kommission entsprechen die britischen Rechtsvorschriften nicht den Bestimmungen der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ((EG) Nr. 883/2004). Diese sieht eine Reihe von gemeinsamen Grundsätzen vor, die die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet einhalten müssen, so dass die einzelnen nationalen Systeme niemanden, der von seinem Recht auf Freizügigkeit und seinem Aufenthaltsrecht in der Union Gebrauch macht, benachteiligen.
Voraussetzung: Rechtmäßiger Aufenthalt
Die britischen Vorschriften sehen bei bestimmten Anträgen auf soziale Leistungen – vor dem EuGH ging es um Kindergeld und Steuergutschriften für Kinder – eine Prüfung vor, ob sich der jeweilige Antragsteller rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhält. Die Kommission hält diese Bedingung für diskriminierend und für mit dem Geist der Verordnung unvereinbar, die lediglich auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antragstellers abstelle.
Großbritannien räumte zwar ein, dass seine eigenen Staatsangehörigen leichter die Voraussetzungen für die Gewährung der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Sozialleistungen erfüllen könnten, da sie grundsätzlich aufenthaltsberechtigt sind. Das Erfordernis eines Aufenthaltsrechts stelle aber eine verhältnismäßige Maßnahme dar, um sicherzustellen, dass die Leistungen nur an Personen gezahlt würden, die im Land ausreichend integriert seien. Die Briten beriefen sich dabei auf ein früheres Urteil des Gerichtshofs, wonach der Aufnahmemitgliedstaat die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger von dem Erfordernis abhängig machen können, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (Urt. v. 19.09.2013, Az. C-140/12 – "Brey").
Nationale Sicherungssysteme bleiben bestehen
Die in Rede stehenden Leistungen seien zwar solche der sozialen Sicherheit und fielen damit in den Geltungsbereich der Verordnung - das Hauptargument der Kommission, wonach die britischen Rechtsvorschriften eine zusätzliche Voraussetzung zu der in der Verordnung vorgesehenen des gewöhnlichen Aufenthalts aufstellten, wies der Gerichtshof aber zurück.
Das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung sei keine notwendige Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen, sondern eine "Kollisionsnorm". Diese soll laut EuGH die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte vermeiden und verhindern, dass Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, der Schutz vorenthalten wird.
Die Verordnung schaffe darüber hinaus kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lasse unterschiedliche nationale Systeme bestehen. Sie lege nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf die Leistungen fest. Die Festlegung der Voraussetzungen sei Sache der Gesetze der Mitgliedsstaaten. In diesem Rahmen spreche laut EuGH nichts dagegen, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die nicht erwerbstätig sind, von dem Erfordernis abhängig gemacht wird, dass sich diese rechtmäßig im Land aufhalten.
Schutz der Finanzen ist legitimes Ziel
Zu dem von der Kommission hilfsweise vorgetragenen Argument, dass die Prüfung des Aufenthaltsrechts eine Diskriminierung darstelle, stellt der EuGH fest, dass die Voraussetzung des Rechts auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich zwar eine Ungleichbehandlung bewirkt, weil Briten sie leichter erfüllen können als andere EU-Bürger. Diese Ungleichbehandlung sei aber durch ein legitimes Ziel wie etwa die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, gerechtfertigt, sofern sie nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Das sei in Großbritannien auch der Fall, befand der EuGH. Die britischen Behörden prüfen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Einklang mit den in der Richtlinie über Freizügigkeit (Rli. 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen. Die Prüfung erfolge nicht systematisch bei jedem Antrag, sondern nur im Zweifelsfall und gehe damit nicht über die für den Schutz der Finanzen erforderliche Prüfung hinaus.
Auch der Generalanwalt hatte vorgeschlagen, die Klage der Kommission abzuweisen. Es gehe im Kern schließlich nur darum, im Rahmen der Gewährung bestimmter Sozialleistungen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach dem Unionsrecht zu prüfen. Zusätzliche Anforderungen gebe es nicht. Zudem hatte er betont, dass das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nur unter den in Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzungen bestehe.
acr/LTO-Redaktion
EuGH zu Sozialleistungen für Unionsbürger in Großbritannien: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19652 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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