Mit einer Grundsatzentscheidung haben die BVerfG-Richter die Verantwortung von Inhalteanbietern im Netz eingerahmt. Verlage und Co werden über intelligente Lösungen zum abgestuften Schutz von Persönlichkeitsrechten nachdenken müssen.
Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2014 eine grundlegende Entscheidung zum sogenannten Recht auf Vergessen vorgelegt hatte, wurde mit Spannung erwartet, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich dazu verhält.
Und zwar nicht nur, weil es um die hochaktuelle Frage geht, wie der Einzelne beeinflussen kann, was nach Ablauf einer gewissen Zeit an Berichten zu seiner Person über ihn im Internet zu finden ist. Daneben betrifft die Entscheidung auch ganz grundsätzliche Fragen zur Abgrenzung zwischen dem Grundrechteschutz durch die Unionsgrundrechte und dem des deutschen Grundgesetzes (GG). Letztlich ging es also auch darum, wer wieweit über den Schutz der Grundrechte von deutschen Europäern wacht.
Gelegenheitsich dazu zu äußern, bot sich den Verfassungsrichtern nun mit zwei Verfassungsbeschwerden. In einem Fall, genannt "Recht auf Vergessen I", ging es um einen Mord auf hoher See – vor bald 40 Jahren. Der Täter ist längst wieder frei und will ein normales Leben führen. Der damals Anfang 40-Jährige gehörte zur Besatzung des Segelschiffes "Apollonia" auf dem Weg von den Kanaren in die Karibik. An Bord kam es nach der Beweiserhebung des Landgerichts Bremen im Dezember 1981 zu einem Streit. Der frühere Soldat erschoss zwei Menschen und verletzte einen weiteren schwer.
Die Geschehnisse wurden zu einem Buch verarbeitet und verfilmt. Der verurteilte Mörder kam 2002 aus der Haft frei und verlangte 2009 vom Spiegel, seinen Nachnamen für Suchen im Online-Archiv zu tilgen. Dass zum Veröffentlichungszeitpunkt die Berichterstattung rechtmäßig war, steht in diesem Fall außer Frage. Der Mann wehrt sich dagegen, dass Berichte des Nachrichtenmagazins bei einer Internetsuche mit seinem Namen immer noch unter den ersten Treffern angezeigt werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) wies die Revision im Jahr 2012 ab.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde hatte der Mann nun Erfolg. Der Erste Senat gab seiner Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil mit einem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss statt (Beschl. v. 6. November 2019, Az: 1 BvR 16/13).
"Seit jeher" deutsche Grundrechte primär geprüft
Das BVerfG erklärte, dass es in Fällen, in denen zu den Grundrechten auch noch nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 der EU-Grundrechtecharta Unionsgrundrechte hinzutreten, seine Prüfungskompetenz primär am Maßstab des Grundgesetzes ausführt. Und die Karlsruher Richter betonen: "wie entsprechende Fälle seit jeher".
In dem vorliegenden Fall kommt der europarechtliche Einfluss auf den Fall aus der zum damaligen Zeitpunkt maßgeblichen Datenschutzrichtlinie 95/46. Die Richtlinie ließ aber den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielraum. Es handelte sich um einen Fall, zu dem das einschlägige Fachrecht unionsrechtlich nicht vollständig vereinheitlicht und in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet ist.
Für den Rechtstreit des verurteilten Mörders um sein Recht auf Vergessen richtet sich der Fall nach §§ 823, 1004 BGB analog – und seine verfassungsgerichtliche Überprüfung nach dem GG. Über die mittelbare Drittwirkung strahlt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf das Verhältnis zwischen dem Mann und dem Spiegel-Verlag aus.
Eine klassische äußerungsrechtliche Abwägung: Persönlichkeitsrecht vs. Presse-/Meinungsfreiheit
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt eine Ausformung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG dar. Die Richter sehen die grundrechtlichen Schutzwirkung für den Recht-auf-Vergessen-Fall aber nicht in der informationellen Selbstbestimmung, sondern im äußerungsrechtlichen Schutzgehalt des Persönlichkeitsrechts. Sie führen dazu aus: "Der Beschwerdeführer wendet sich nicht gegen eine Pflicht zur Preisgabe von Daten oder gegen eine intransparente Nutzung seiner Daten, sondern gegen Berichte über ihn, die der Information der Öffentlichkeit dienen und ihm selbst ohne weiteres zugänglich sind." Es geht also zugespitzt nicht um Datenschutz – sondern um das Persönlichkeitsrecht und seine Gefahren im Kontext des Äußerungsrechts.
Damit landet das BVerfG bei der Prüfung des Rechtstreitsauf vertrautem Terrain: So stehen nun – geradezu klassisch – die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers den Grundrechten auf Meinungs- und Pressefreiheit des Verlags gegenüber. Es entscheidet die Abwägung.
Als neuer Faktor in der Entscheidung des BVerfG kommt die grundsätzlich langfristige Verfügbarkeit von Informationen im Internet ins Spiel. Bisher hatte das BVerfG ähnliche Fälle entschieden, in denen es um die Frage des Wiederaufgreifens von vergangenen Ereignissen durch neue Berichterstattung gegangen war.
Wie müssen Verlage und Co im Zusammenspiel mit Suchmaschinen schützen?
Auch wenn es in dem Verfahren "nur" um die Überprüfung des BGH-Urteils auf die Vereinbarkeit mit dem GG im Einzelfall ging, stellten die BVerfG-Richter mit ihrem Beschluss auch neue Anforderungen für Inhalteanbieter wie etwa Verlage im Wechselspiel mit Internetsuchmaschinen in den Raum.
Die Richter nehmen explizit auch die Inhalteanbieter in die Pflicht: "Indem ein Presseunternehmen seine Artikel auf eine allgemein zugängliche Plattform im Internet einstellt, trägt es für die Zugangsmöglichkeiten auch selbst eine Verantwortung. Dass auf diese Artikel über das Netz und insbesondere auch mittels Suchmaschinen Zugriff genommen wird, wird mit der Bereitstellung im Netz gewollt und verantwortet." Mit neuen Verbreitungsmöglichkeiten können auch neue Schutzverantwortungen einhergehen – die möglicherweise auch Lasten für die Anbieter nach sich ziehen, so die Richter.
Ein Verlag dürfe zunächst davon ausgehen, dass ein anfänglich rechtmäßig veröffentlichter Bericht bis auf weiteres auch in ein Onlinearchiv eingestellt und bis zu einer qualifizierten Beanstandung durch Betroffene für die Öffentlichkeit bereitgehalten werden darf. "Verpflichtende Schutzmaßnahmen sind der Presse erst dann zumutbar, wenn Betroffene sich an sie gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt haben", so die Richter des Ersten Senats.
Die Lösung soll zwischen Löschen und uneingeschränkt Veröffentlichen liegen
Für den Ausgleich der Interessen von Medien und des Betroffenen regen die Richter eine abgestufte Lösungen zwischen den Extremen von vollständiger Löschung des individualisierenden Beitrags und der uneingeschränkten Hinnahme des Betroffenen an.
Dabei nehmen die Richter vor allem in den Blick, dass es für Betreiber eines Online-Archivs technische Möglichkeiten gibt, die Auffindbarkeit der Inhalte für Suchmaschinen einzuschränken – vollständig oder eben abgestuft.
"Berichte, die in diesen Bereichen abgelegt werden, werden damit von Suchmaschinen grundsätzlich nicht erschlossen. Demgegenüber bleiben sie jedoch – etwa bei gezieltem Aufruf des Internetportals des Onlinearchivs – über das Internet zugänglich und können intern auch durch Suchprogramme erschlossen werden." Diese Lösung sorgt allerdings dafür, dass der so "eingesperrte" Text quasi überhaupt nicht mehr auffindbar sein wird. Als Faustregel dürfte im Internet gelten: Was eine große Suchmaschine nicht mehr listet, wird von den Benutzern auch nicht mehr gefunden.
Deshalb werden, worauf die Richter ausdrücklich hinweisen, in der Literatur zu dem Problemkreis andere Lösungen vorgeschlagen: Der Suchmaschinen-Crawler fährt sozusagen dabei die Nachrichtenseite oder das Online-Archiv ab, auf der der Artikel zwar grundsätzlich zugänglich ist und durchsucht werden kann, der zu schützende Name – etwa durch Löschung oder möglicherweise auch den Einsatz von Bilddateien – für sie aber nicht mehr auffindbar ist. Welche genauen Anforderungen innerhalb dieses Rahmens aber an die Betreiber eines Onlinearchivs zu stellen seien, obliege in erster Linie der Entscheidung der Fachgerichte.
BVerfG vermisst beim BGH Auseinandersetzung mit Zwischenlösungen
Der BGH habe sich mit der Situation des Beschwerdeführers nicht hinreichend auseinandergesetzt, beanstanden die Verfassungsrichter Einerseits sei zu berücksichtigen, dass die Eingabe des Namens des Beschwerdeführers in das Suchfeld einer Suchmaschine immer noch zu den Berichten führe. "Dies wiegt umso schwerer, als der Beschwerdeführer sich nach der Verbüßung einer langjährigen Haftstrafe in ein neues soziales Umfeld einfinden muss", heißt es in dem Beschluss.
Andererseits sei auch das Verhalten des Beschwerdeführers nach seiner Haftentlassung zu berücksichtigen. Der Mann sei danach mit seiner Tat nicht wieder an die Öffentlichkeit gegangen. Ausdrücklich grenzen die Richter den vorliegenden Fall damit von dem der sog. Sedlmayr-Mörder ab. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte 2018 entschieden, dass den Mördern des Schauspielers Walter Sedlmayr kein Recht auf Vergessenwerden zustehe. Denn sie seien einst selbst an die Öffentlichkeit getreten.
Im Ergebnis stellen die Richter fest, dass der BGH abgestufte Zwischenlösungen hätte erwägen müssen, um den gewichtigen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers im Ausgleich mit den Interessen des Verlags Rechnung zu tragen.
Ebenfalls am Mittwoch veröffentlichte der Erste Senats eine zweite Entscheidung zum "Rechts auf Vergessen". Dabei geht es um die Verantwortung eines Internetsuchmaschinenbetreibers.
BVerfG zu Recht auf Vergessen bei Online-Archiven: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38911 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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