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Das zweite Pflegestärkungsgesetz: Großer Wurf für humane Pflege

von Jana Schlipf und Franz Dillmann

17.08.2015

Die Betreuung kognitiv eingeschränkter und psychisch kranker Menschen soll verbessert werden.

© Robert Kneschke - Fotolia.com

Reform der Pflegeversicherung: 2,5 Milliarden Euro jährlich für mehr Leistungen. 500.000 neue Berechtigte. Beiträge steigen auf 2,55 %. Glückt so die Rettung 1,5 Millionen Demenzkranker? Einer Antwort gehen Jana Schlipf und Franz Dillmann nach.

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Das zweite Pflegestärkungsgesetz… 

Am 12. August 2015 hat das Bundeskabinett beschlossen, das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) in den Bundestag einzubringen. Damit soll die Betreuung kognitiv eingeschränkter und psychisch kranker Menschen verbessert werden.

Der Begriff der Pflegebedürftigkeit soll neu definiert, ein "Neues Begutachtungsassessment" eingeführt und die bisher drei Pflegestufen sollen durch fünf Pflegegrade (PG) ersetzt werden. Zudem ist geplant, die Pflegeberatung auszuweiten und die Qualitätssicherung einschließlich des sogenannten Pflege-TÜVs wissenschaftlich begleitet zu überarbeiteten. Pflegende Angehörige sollen zusätzliche Rentenbeiträge erhalten.

Neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit

Im Zentrum der Reform steht indes die Frage, wen das Gesetz als pflegebedürftig ansieht. Nach heutigem Recht ist pflegebedürftig, wer wegen Krankheit oder Behinderung bei alltäglichen Verrichtungen Hilfe benötigt, etwa bei Körperpflege, Mobilität, Ernährung oder hauswirtschaftlicher Versorgung. Die Einstufung hängt von der hierfür aufgewendeten Zeit ab.

Künftig wird der nach Punkten bewertete Grad der Selbstständigkeit in folgenden Bereichen maßgeblich: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung bei Körperpflege und Ernährung, die Bewältigung mit krankheitsbedingten Anforderungen, wozu etwa die Medikamenteneinnahme und der Arztbesuch gehörten, und schließlich die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Begutachtet werden in diesen unterschiedlich gewichteten Bereichen jeweils fünf Grade der Selbstständigkeit – von geringer bis schwerster Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen. Die Gesamtpunktzahl bestimmt die Einordnung in die Pflegegrade.

Ende der unwürdigen Minutenpflege

Ist mit diesem "Pflegeupgrade" und der Beseitigung teils unwürdiger "Minutenpflege" eine humane Pflege sichergestellt? Auf den ersten Blick machen die Leistungsbeträge einen guten Eindruck: Die ambulanten Zuschüsse wegen eingeschränkter Alltagskompetenz gehen im PG 1 auf (125 Euro), Geld- beziehungsweise bzw. Sachleistungen für die häusliche Betreuung sollen von 316 beziehungsweise bzw. 689 Euro in PG 2 auf 901 bzw. 1.995 Euro im PG 5 steigen. Der Leistungsbetrag im Pflegeheim soll von 125 Euro im PG 1 auf 2.005 Euro im PG 5 klettern.

Bundesgesundheitsminister Gröhe versichert, kein Pflegebedürftiger werde schlechter gestellt. Regelungen sorgen nach seiner Prognose für eine geräuschlose Überleitung, neue Anträge müssten nicht gestellt werden. Menschen mit nur körperlichen Beeinträchtigungen kommen von ihrer Pflegestufe in den nächsthöheren Pflegegrad, solche mit geistigen und/oder seelischen Einschränkungen springen vom Status quo in den übernächsten Pflegegrad (z.B. von Pflegestufe II auf Pflegegrad 4).

Mit der Einführung des PG I wird auch der Kreis der Berechtigten erweitert.  Für 125 Euro monatlich können künftig ambulante Hilfen eingekauft werden, um die Wohnsituation zu verbessern oder Freizeitaktivitäten zu begleiten. Ob diese Leistung, wie das Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) schätzt, 500.000 Menschen in Anspruch nehmen, erscheint jedoch spekulativ.

Mehrkosten in Milliardenhöhe

Das BMG rechnet mit Mehrausgaben von anfangs etwa 3,7 und später circa ca. 2,5 Milliarden Euro jährlich. Um diese zu finanzieren, wird der Beitrag für die Pflegeversicherung mit der Einführung der PG zum 1. Januar 2017 um 0,2 % auf 2,55 % beziehungsweise bzw. 2,8 % für kinderlose Versicherte erhöht.

Der festgeschriebene Bestandsschutz wird zusätzlich in den nächsten fünf Jahren mit 4 vier Milliarden Euro aus dem Vorsorgefonds finanziert. Der Beitragssatz soll somit bis 2022 stabil bleiben, was allerdings angesichts der sich stetig nach unten verschlankenden Bevölkerungspyramide als Wunschdenken erscheint.

Die Beiträge für eine stationäre Pflege werden festgefroren: Der Eigenanteil an den Gesamtheimkosten wird für jeden – einrichtungseinheitlich – festgesetzt und verändert sich nicht mehr, selbst wenn der Pflegebedürftige später nach Aufnahme ins Heim in einen höheren PG eingestuft wird. Bislang stieg das Heimentgelt bei einem Wechsel in die höhere Stufe im Vergleich höher als der Zuschuss der Pflegeversicherung, damit auch der vom Heimbewohner selbst oder vom Sozialamt zu übernehmende Anteil.

Die Festlegung des Eigenanteils wird in der Praxis allerdings problematisch; besteht doch die Gefahr der "Quersubventionierung", da der pflegerische Aufwand mit der Eingruppierung in einen höheren PG wächst. Der notwendige Pflegeaufwand würde sich dann womöglich nicht immer konform im Eigenanteil wiederspiegeln.

… ist so nicht ausreichend

Änderungen nicht ganz stimmig

Mit den neuen Leistungen im Gesetz zur sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) ist die verbesserte Pflege zudem noch nicht automatisch bei den Betroffenen angekommen. Ambulante Dienste müssen entsprechende Betreuung anbieten. In der stationären Pflege muss sich eine gestärkte Personalausstattung im täglichen Pflegesatz niederschlagen, mit dem die Pflegemaßnahmen vergütet sowie die sogenannten sogenannte Hotel- und Investitionskosten bezahlt werden.

Die Pflegebedürftigen haben künftig Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung (Vorlesen, Gespräche etc.) durch sogenannte Alltagsbegleiter. Deren Vergütung wird durch Zuschläge im Pflegesatz abgegolten.

Die zu ändernden Pflegesätze sollen nach Vorstellung des Gesetzgebers in den 2016 vorgezogenen Vertragsverhandlungen der Pflegekassen und Sozialhilfeträger mit den Heimträgern vereinbart werden. Die Sozialhilfeträger müssten dabei durch weitere Regelungen als Partner noch weiter gestärkt werden, da sie neben den Pflegekassen einen erheblichen Teil der Kosten tragen. Einigen sich die Vertragsparteien in 2016 nicht, legt das Gesetz ab 1. August 2017 nach einer nobelpreisverdächtigen Formel Mindestpflegesätze fest.

Die neuen Leistungen sind schließlich nicht mit den Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen im Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) abgestimmt. Mit dem erweiterten Pflegebegriff, der selbstbestimmte soziale Teilhabe mit umfasst, vergrößert sich die Schnittmenge zwischen SGB XI und SGB XII erheblich. Dass Sozialhilfe nach § 2 SGB XII nur nachrangig gewährt werden darf, ignoriert aber das PSG II. Ferner sind Pflegebedürftige in Behinderteneinrichtungen, Schulen und Kindertageseinrichtungen nach wie vor ohne erkennbaren sachlichen Grund, mithin den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz verletzend, weitgehend von Zuschüssen des SGB XI ausgeschlossen.

Sozialhilfe könnte entlastet werden

Das PSG I startete 2013 mit der Förderung der Tagespflege und den neuen häuslichen Betreuungsleistungen hoffnungsvoll. Das PSG II räumt mächtig auf. Den Nachfolger PSG III hat das BMG schon angekündigt: Die Hilfe zur Pflege im SGB XII als ergänzende, individuell am Bedarf orientierte Leistung muss den Änderungen im SGB XI noch angepasst werden. Spannende Frage ist, ob die aus Steuermitteln finanzierte Sozialhilfe wie angekündigt entlastet wird.

Weitere Änderungen sind wahrscheinlich. Die Regelungen zu den Pflegeberufen müssen reformiert werden. Zigtausende neue Pfleger werden benötigt. Um einen Pflegenotstand zu vermeiden, könnte beispielsweise die Pflegeausbildung vereinheitlicht und geöffnet werden.

Das PSG II ist ein großer Wurf, wenn es vom Bundestag Ende 2015 ohne große Änderungen beschlossen wird. Es sichert gerade demenziell Erkrankten eine menschenwürdige Pflege, die sich in der Praxis jedoch noch beweisen muss. Das Ziel des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB XI ist es, die Führung eines selbständigen und selbstbestimmten Leben aller 2,8 Millionen Pflegebedürftiger zu gewährleisten, das der Würde des Menschen entspricht. Dafür muss noch mehr geschehen.

Die Autorin Jana Schlipf ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und derzeit Praktikantin beim Landschaftsverband Rheinland. Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsdirektor und Leiter der Rechtsabteilung im Sozialdezernat des Landschaftsverbandes Rheinland.

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Franz Dillmann, Das zweite Pflegestärkungsgesetz: Großer Wurf für humane Pflege . In: Legal Tribune Online, 17.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16627/ (abgerufen am: 25.09.2023 )

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