Jeder in der Arbeitsrechtswelt hat auf die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung gewartet. Aber auch Verjährung von Urlaub, Versetzungen und Corona-Maßnahmen haben das BAG im Jahr 2022 beschäftigt. Hier die wichtigen Entscheidungen:
Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) waren revolutionär für das Arbeitsrecht in Deutschland – und doch oft weniger aus Erfurt geprägt als vielmehr vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Das hält große Stücke darauf, dass Beschäftigte ihren Urlaub nehmen und ihre Arbeitszeit erfasst wird. Kritiker könnten sagen, das sei arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung, doch mit etwas good-will geht es ja auch darum, den Unternehmen die Arbeitskräfte zu erhalten.
Damit es zu dieser BAG-Rechtsprechung kommt, müssen die Erfurter Richter:innen ohnehin die Fälle vorlegen, und das tun sie. So hält das Unionrecht dann tatsächlich und ganz praktisch Einzug in das nationale Arbeitsrecht – und da sind noch längst nicht alle Fragen geklärt.
1/10 Erfassen der Arbeitszeit
Wer muss wie welche Arbeitszeit dokumentieren? Das hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) zu entscheiden, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits im Jahr 2019 zum "Ob" der Arbeitszeiterfassung geurteilt hatte (Urt. v. 14.05.2019, Az. C-55/18).
Zugrunde lag dem BAG-Beschluss der Antrag eines Betriebsrates auf Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung. Einen solchen Anspruch hat der Betriebsrat allerdings nicht, entschied das BAG, denn es bestehe eben eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Eine gesetzliche Pflicht schließe dann jedoch ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus, so das BAG.
In den Entscheidungsgründen legten die Erfurter Richter:innen dar, dass das Zeiterfassungssystem nicht elektronisch sein muss. Erforderlich sei aber, dass die Arbeitgeber "die Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit" tatsächlich erfassen, die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems sei nicht ausreichend (Beschl. v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21).
2/10 Verjährung von Urlaub
Erwartet und dennoch spektakulär – so lässt sich die Entscheidung des BAG zur Verjährung von Urlaub zusammenfassen. Danach verjährt Urlaub nur, wenn die Unternehmen ihre Beschäftigten darauf hingewiesen haben, dass ihnen Urlaub zusteht, der bei fehlender Inanspruchnahme verfällt. Fehlt es an diesem Hinweis, können sich die Arbeitgeber nicht auf die dreijährige Verjährung nach nationalem Recht (§§ 195, 199 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) berufen (Urt. v. 20.12.2022, Az. 9 AZR 266/20). Überraschend ist die Entscheidung nicht, das BAG musste umsetzen, was der EuGH vorgegeben hatte (Urt. v. 22.9.2022, Az. C-120/21).
Geklagt hatte eine Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin, die viele Jahre in einer Kanzlei beschäftigt war und ihren Urlaub nie vollständig nehmen konnte. Als sie schließlich kündigte, standen 101 offene Urlaubstage an. Die Kanzlei erhob die Einrede der Verjährung – und blieb damit erfolglos. Denn der Arbeitnehmer muss von seinem Arbeitgeber "durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt" werden, den Urlaub zu nehmen, entschied der EuGH schon längst (Urt. v. 6.11.2018, Az.: C-684/16) – und diese europäische Rechtsprechung ist auch maßgeblich für das nationale Urlaubsrecht. Nur wenn der Arbeitgeber seine diesbezügliche Hinweis- und Aufklärungsobliegenheit erfüllt, kann also der Urlaub verfallen.
3/10 Verfall von Urlaub bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit
Auch der Umgang mit dem Anspruch auf Urlaub bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit war Gegenstand einer Grundsatzentscheidung des BAG (Urt. v. 20.12.2022, Az. 9 AZR 245/19), mit der das Gericht die bisherige Rechtsprechung weiterentwickelte.
Wie bisher verfällt in solchen Fällen der Urlaubsanspruch ohne weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres, also innerhalb einer 15-Monatsfrist. Dieser Verfall von Urlaub bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit steht im Einklang mit dem Unionsrecht. Das gilt allerdings nur, wenn der Arbeitnehmer in dieser Zeit durchgängig den Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten konnte.
Wenn aber der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden ist, gilt hingegen der Grundsatz der Hinweispflichten: Dann verfällt der Urlaubsanspruch nur, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage zu versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Dies folgt wiederum aus der richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BurlG, wie seinerzeit schon der Generalanwalt am EuGH vorschlug.
4/10 Aufhebungsvertrag unter Druck
Wie sinnvoll ein Aufhebungsvertrag für Arbeitnehmer ist, lässt sich diskutieren –üblich ist er zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses durchaus. Bei seinem Abschluss ist das Gebot des fairen Verhandelns zu beachten, die Grundsätze dazu hat das BAG bereits im Jahr 2019 festgelegt (Urt. v. 07.02.2019, Az. 6 AZR 75/18).
Nun hatten die Richter:innen aus Erfurt den Fall einer Teamkoordinatorin Verkauf im Bereich Haustechnik zu entscheiden. Gemeinsam mit einem Anwalt hatte der Arbeitgeber der Frau – für sie unerwartet – bei einem Gespräch in seinem Büro vorgeworfen, sie habe unberechtigt Einkaufspreise für Waren in der EDV des Unternehmens abgeändert bzw. absprachewidrig vor dem Verkauf reduziert. Die Männer hatten bereits einen Aufhebungsvertrag zum Ende desselben Monats vorbereitet, den die Frau nach zehn Minuten des gemeinsamen Schweigens unterzeichnete.
Auch auf die Klage der Frau hatte dieser Bestand, das Gebot des fairen Verhandelns sei nicht verletzt, entschied der sechste Senat (Urt. v. 24.02.2022, Az. 6 AZR 333/21). Denn selbst wenn der Arbeitgeber den Abschluss des Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig gemacht hätte – was streitig blieb – stelle dies für sich genommen keine Pflichtverletzung gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 1 iVm. § 241 Abs. 2 BGB dar. Das gelte auch, wenn dem Arbeitnehmer keine Bedenkzeit verbleibe und er auch keinen erbetenen Rechtsrat einholen könne.
5/10 Versetzung in Ausland aus Weisungsrecht
Piloten einer Ryanair-Tochter hatten sehr lukrative Arbeitsverträge in Deutschland, doch mit der Schließung der hiesigen Standorte versetzte die Fluglinie die Männer nach Italien – zu erheblich schlechteren Konditionen. Ein Pilot klagte, und unterlag. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers aus § 106 Gewerbeordnung (GewO) sei nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland begrenzt, entschieden die Erfurter Richter:innen des 5. Senats (Urt. v. 30.11.2022, Az. 5 AZR 336/21).
Eine Begrenzung auf Arbeitsorte in der Bundesrepublik Deutschland sei dem Gesetz nicht zu entnehmen. Die Ausübung des Weisungsrechts im Einzelfall unterliege allerdings einer Billigkeitskontrolle. Sei jedoch im Arbeitsvertrag kein bestimmter Arbeitsort im Inland fest vereinbart, sondern ausdrücklich eine unternehmensweite Versetzungsmöglichkeit vorgesehen, umfasse das Weisungsrecht des Arbeitgebers aber eben auch die Versetzung ins Ausland.
6/10: Geringerer Kündigungsschutz bei Rentennähe
Bei Kündigungen ist das Lebensalter der Beschäftigten zu berücksichtigen – das ist klar in § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) geregelt. Bisher hieß das: je älter der Beschäftigte, desto höher der Kündigungsschutz bei der Sozialauswahl.
Der sechste Senat hat nun ein Umdenken eingeleitet und entschieden, dass auch die Rentennähe eine Rolle spielen kann – damit entschied er anders als zuvor noch beide Vorinstanzen. Könne der Arbeitnehmer eine abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen, könne das Lebensalter zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden. Das gelte auch, wenn er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen dürfe nicht berücksichtigt werden (Urt. v. 08.12.2022, Az. 6 AZR 31/22).
Allerdings sind nach dem KSchG bei der Sozialauswahl weiterhin auch Kriterien wie Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen.
7/10: Fortbestand der Schwerbehindertenvertretung
Auch wenn die Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten in einem Unternehmen unter fünf Personen sinkt, ändert dies nichts am Bestand der Schwerbehindertenvertretung. Die reguläre Amtszeit von vier Jahren läuft unverändert weiter (BAG, Beschl. v. 19.10.2022, Az. 7 ABR 27/21).
Damit entschied das BAG anders als die Vorinstanzen. Diese hatten den Antrag der durch das Unternehmen vermeintlich aufgelösten Interessenvertretung abgelehnt.
Beim Betriebsrat habe das BAG dies bisher anders gesehen, betonte die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen. Dessen Amtszeit ende, wenn die Zahl der ständig beschäftigten Arbeitnehmer des Betriebs nicht nur vorübergehend auf unter fünf Arbeitnehmer absinkt und damit die Voraussetzungen für die Bildung eines Betriebsrats entfallen (BAG, Beschl. v. 07.04.2004, Az. 7 ABR 41/03).
8/10 Altersangabe bei Massenentlassung
Bei Massenentlassungsanzeigen sind Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, gegenüber der Arbeitsagentur Alter oder Geschlecht der Betroffenen anzugeben. Es handele sich lediglich um "Soll-Angaben", die nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verpflichtend seien, so das BAG (Urt. v. 19.05.2022, Az. 2 AZR 467/21). Untere Instanzen haben dies bisher unterschiedlich entschieden.
In diesem Fall hatten die Vorinstanzen die Kündigung einer Frau für unwirksam erklärt. Diese Entscheidung hat das BAG nun mit der Begründung aufgehoben, dass das Fehlen der Soll-Angaben für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige des Arbeitsgebers gegenüber der Agentur für Arbeit führe. Eine andere Auslegung sei nicht geboten, weil der EuGH bereits geklärt habe, dass Angaben wie Alter oder Geschlecht in der Anzeige nicht enthalten sein müssen.
9/10 Kein Mindestlohn bei Pflichtpraktika
Wenn ein Praktikum zwingende Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums ist, haben die Praktikanten keinen Anspruch auf den Mindestlohn, entschied das BAG (Urt. v. 19.01.2022, Az. 5 AZR 217/21). In dem zugrunde liegenden Fall ging es ein sechsmonatiges Praktikum vor Aufnahme des Studiums der Humanmedizin an einer privaten, staatlich anerkannten Universität.
Die Richter:innen in Erfurt entschieden, dass die Person in diesem Fall nicht in den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fiele. Denn sowohl bei Praktika, die in Studienordnungen als Voraussetzung zur Aufnahme eines Studiums verpflichtend sind, als auch bei obligatorischen Praktika während des Studiums bestehe kein Anspruch auf den Mindestlohn.
10/10 Corona und das Arbeitsrecht
Auch die Corona-Pandemie hat das BAG kräftig beschäftigt. Es gibt keinen Erschwerniszuschlag für das Tragen einer OP-Maske bei der Arbeit (Urt. v. 20.07.2022, Az. 10 AZR 41/22), anlasslose PCR-Tests von den Beschäftigten der Bayerischen Staatsoper waren rechtmäßig, daher erhielt eine Flötistin keinen Lohn (Urt. v. 01.06.2022, Az. 5 AZR 28/22).
Hingegen durfte ein Arbeitgeber kein generelles Betretungsverbot für Angestellte aussprechen, die aus einem Risikogebiet zurückkehren. Vielmehr musste er seine Arbeitnehmer bei Vorlage eines negativen PCR-Tests arbeiten lassen (Urt. v. 10.08.2022, Az. 5 AZR 154/22).
Und wer die Corona-Prämie erhalten hat, konnte sich dieser ziemlich sicher sein: Das BAG entschied, dass sie als Erschwerniszulage nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar ist. Eine Küchenhilfe, die eine Sonderzahlung von 400 Euro erhielt, durfte die Prämie daher trotz eröffneten Insolvenzverfahrens behalten (Urt. v. 25.08.2022, Az. 8 AZR 14/22).
Sollte man kennen: Zehn wichtige BAG-Entscheidungen 2022 . In: Legal Tribune Online, 04.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50612/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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