Die Stadt Hamburg muss das Protestcamp mit rund 3.000 Zelten zum G20-Gipfel nicht dulden. Der Fehler liegt auch bei den Veranstaltern, die zu wenig Protest und zu viel Infrastruktur bieten wollen, meint Eike Michael Frenzel.
Die Stadt Hamburg muss die Veranstaltung "Antikapitalistisches Camp – Alternativen zum Kapitalismus leben und sichtbar machen" im Stadtpark Hamburg im Zusammenhang mit dem G20-Gipfeltreffen nicht dulden. Das hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (OVG) beschlossen (Beschl. v. 22.06.2017, Az. 4 Bs 125/17). Das Camp soll vom 30. Juni bis zum 9. Juli 2017 stattfinden, der Aufbau am 23. Juni beginnen, der Abbau am 11. Juli abgeschlossen sein.
Zuvor hatte das Verwaltungsgericht (VG) Hamburg im Eilverfahren nach § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) im Sinne des Antragstellers entschieden. Auf die Beschwerde der Stadt hin stellte das OVG fest, dass der Antragsteller den Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht habe.
Aushöhlung der Grundrechte
Der Beschluss ist sichtlich getragen von dem Bemühen, dem Fall in alle Richtungen gerecht zu werden und das Rechtsschutzbegehren des Veranstalters zu bedienen, gerade weil es in der Sache ohne Erfolg bleibt.
Der Senat differenziert hierfür zwischen den Merkmalen des Protestcamps, die für die Versammlungseigenschaft, und denjenigen, die dagegen sprechen. Konsequenterweise stellt der Senat nicht darauf ab, dass das Camp als Rückzugsort für Gewalttäter dienen könnte, dass es der üblichen Nutzung des Parks widerspreche oder dass der Schutz einer solchen Veranstaltung problematisch sei. Dennoch fällt die "wertende Gesamtschau" der einzelnen Elemente und des "Gesamtgepräges" der Veranstaltung zu Ungunsten des Antragstellers aus.
Dazu verweist der Senat darauf, dass das Campieren "wegen der damit verbundenen Beeinträchtigung öffentlicher Belange nicht mehr von dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Grundgesetz (GG) erfasst" werde. Damit stellt der Senat den Schutzbereich unter einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorbehalt. Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten: Der Schutzbereich des Art. 8 GG ist definiert, ohne dass eine solche Schutzbereichsbeschränkung vorgesehen wäre. Gefährdet eine Versammlung die öffentliche Sicherheit, wird sie vom Schutzbereich weiterhin erfasst. Sie kann aber Auflagen unterworfen oder verboten werden; dafür reicht eine bloße Beeinträchtigung öffentlicher Belange nicht.
Grundrechte sind keine Verhandlungsmasse
Zudem nehmen die Richter eine eigene Deutungshoheit für das Grundrecht in Anspruch, wenn sie sagen, "der Versammlungsbegriff bzw. dessen Schutzbereich" sei nicht weiter auszudehnen, "als dies zur Schutzgewährung nach Art. 8 GG erforderlich ist". Dies geht zu Lasten der Unverfügbarkeit von Grundrechtspositionen. Grundrechtsschutz muss wirksam und daher phasenorientiert sein: Es reicht nicht, ein Recht zu haben, man muss seine Inanspruchnahme auch vorbereiten und es durchsetzen können. Spezifisches Vor- und Nachverhalten wird geschützt. Bei der Versammlung gehören dazu insbesondere die Anreise zur Versammlung und das Entfernen nach deren Ende. Was für ein Grundrecht erforderlich ist, kann nicht zirkulär begründet werden – insofern macht sich der Senat die Argumentation zu leicht.
Die Begutachtung der einzelnen Programmangebote im Camp, die teilweise für den Charakter einer Versammlung sprechen und dennoch vom Senat nicht als Indizien für die Versammlung anerkannt werden, ist kleinlich. Der Senat verkennt, dass auch "idealtypische" Versammlungen von Motivbündeln der Veranstalter und Teilnehmer getragen werden können. Es ist gerade Stärke des Rechtsstaats, auch mit atypischen Konstellationen und Schwierigkeiten umgehen zu können.
2/2: Vergleich mit "Fuckparade"-Urteil unpassend
So könnten im Sinne des demokratischen Staates Meinungsvielfalt und Integration zur gleichen Zeit gewährleistet werden. Der Rechtsstaat darf sich dabei nicht auf das Niveau begeben, welches von einigen Gipfelgegnern mit einem eng verstandenen Motto wie "G20 verhindern" bedient wird: Es ist dem Staat verwehrt, das Ziel auszurufen und anzustreben, Gegenveranstaltungen "um jeden Preis" zu verhindern.
Ausgerechnet den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Sachen "Fuckparade" anzuführen, ist heikel (BVerfG, Beschl. v. 12.07.2001, Az. 1 BvQ 28/01): Denn damals war über Anträge auf einstweilige Anordnungen entschieden worden (zugleich über den zur "Love Parade"). Später entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass es von Verfassung wegen geboten gewesen sei, die "Fuckparade" als Versammlung zu behandeln, weil sich das Gesamtgepräge nicht zweifelsfrei feststellen ließ (Urteil v. 16.05.2007, Az. 6 C 23.06).
Auch der Hinweis des OVG, dass die rechtliche Einordnung des Protestcamps den Gerichten vorbehalten sei, überzeugt nicht, denn er bringt nur die Zuständigkeit des Gerichts und dessen Verpflichtung auf das Recht zum Ausdruck.
Camps als Protest durchaus möglich
Dass Demonstranten ihre Meinung an mehreren Tagen oder gar Wochen mitten in einer Großstadt zum Ausdruck bringen, ist weltweit üblich – und verfassungsrechtlich anzuerkennen. Seien es die Bürgerproteste gegen die Regierung auf dem Platz der Unabhängigkeit, dem Majdan Nesaleschnosti in Kiew, die Proteste auf dem Taksim Meydanı in Istanbul oder auf dem Maidān at-Taḥrīr in Kairo. Im Sommer 2013 traten mehrere Menschen auf dem Rindermarkt in München in den Hungerstreik. Das Ausharren der Menschen mit einer bestimmten Botschaft, auf die sie aufmerksam machen, ist die Versammlung.
Bei anderen Gelegenheiten – etwa gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm und den G7-Gipfel in Garmisch – mussten die Demonstranten aus Platzgründen vor den Toren der Städte untergebracht und geduldet werden. Weder der genaue Ort des Protestes noch die Dauer sprechen gegen die Planung und Anmeldung einer Versammlung: Art. 8 Abs. 1 GG sieht keine zeitliche Beschränkung vor. Entscheidend ist der gemeinschaftliche Zweck der Meinungsbildung und Meinungskundgabe.
Fehler im Hamburger Konzept
Hier liegt beim Hamburger Protestcamp zweifelsfrei der Fehler in der Konzeption: Zwar erscheint es seiner Bezeichnung und seinem Programm nach als ganzheitliches Projekt mit Versammlungscharakter. Es soll aber auch vielen Menschen einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen, die außerhalb des Programms des Camps gegen das Gipfeltreffen protestieren wollen.
Die Bezeichnung als Mahnwache hätte funktionieren können – eine Art Campingplatz mit entsprechender Infrastruktur darf das Camp nicht sein, dann ist es keine Versammlung mehr. Doch genau diese Infrastruktur stellen die Veranstalter zu sehr in den Vordergrund – und damit ist das Camp nicht mehr vom Versammlungsrecht gedeckt. Das OVG konnte daher so entscheiden. Auch wenn man es sich – allein als Zeichen einer klugen Politik, für die ein OVG aber nicht zuständig ist – anders gewünscht hätte.
Die G20-Gegener haben indes am Montagmorgen mit einer Mahnwache für ihr verbotenes Camp demonstriert. Eine Sprecherin der Vorbereitungsgruppe des antikapitalistischen Camps hatte bereits am Sonntag erklärt, sie hätten per Fax Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Zudem gibt es auch ein juristisches Tauziehen um ein G20-Camp im Hamburger Volkspark im Westen der Stadt. Auch in diesem Fall rechnen die Aktivisten damit, dass in dieser Woche die Karlsruher Richter endgültig entscheiden werden, ob das Camp zuzulassen ist oder nicht.
Der Autor Dr. Eike Michael Frenzel ist Privatdozent am Institut für Öffentliches Recht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Beitrag ergänzt mit Material von dpa
Dr. Eike Michael Frenzel, OVG zu G20-Protestcamp im Hamburger Stadtpark: Fehler im Konzept . In: Legal Tribune Online, 26.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23286/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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