Ein einst gesunder Mann stirbt nach einer Impfung. Hier kann ein Bündel von Indizien ausreichen, damit der Pharmakonzern haftet, so der EuGH. Die nationalen Gerichte können die Beweise frei würdigen. Das Urteil erklärt Dr. Boris Handorn.
Nationale Gesetze dürfen Patienten die Beweisführung gegen Pharmakonzerne erleichtern. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Produkthaftungsprozess entschieden. Ein Bündel von Indizien könne ausreichen, um die Haftung der von Arzneimittelherstellern zu begründen. Ein auf der wissenschaftlichen Forschung beruhender sicherer Nachweis sei nicht erforderlich, urteilten die Richter (Urt. v. 21.06.2017, Az. C-621/15).
Die Frage, wann ein Bündel von Indizien genügt, müsse im Einzelfall jeweils von den mitgliedstaatlichen Gerichten entschieden werden. Die Beweiswürdigung dürfe allerdings in keinem Fall zu einer faktischen Beweislastumkehr führen. Dies wäre nach Ansicht des EuGH nicht mehr mit dem Gedanken der Beweislastregelung im europäischen Produkthaftungsrecht zu vereinbaren und daher rechtswidrig.
Der Entscheidung des EuGH lag ein französischer Ausgangsfall zugrunde: Der im Jahr 2006 verstorbene Geschädigte und seine Familie hatten gegen den Pharmakonzern Sanofi geklagt, weil der Geschädigte kurze Zeit nach einer Impfung gegen Hepatitis B mit dem von Sanofi hergestellten Impfstoff an Multipler Sklerose erkrankte. Den wissenschaftlichen Nachweis, dass der Impfstoff zum Ausbruch Multipler Sklerose und letztlich auch zum Tod des Patienten führte, konnte der Geschädigte jedoch nicht führen.
Stattdessen konnten lediglich verschiedene Indizien wie der ausgezeichneter frühere Gesundheitszustand, fehlende Vorerkrankungen in der Familie sowie der zeitlicher Zusammenhang vorgebracht werden, die für einen solchen Kausalzusammenhang sprechen.
Erfordernis des wissenschaftlichen Nachweises
In mehreren Instanzen hatten die Parteien über die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Nachweises gestritten. Zwar legt Art. 4 der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG (ProdHaftRL) dem Anspruchsteller die Pflicht auf, Fehler eines Produktes, den Schadenseintritt und die Kausalität zwischen den beiden Kriterien nachzuweisen. Zur Art und zum Umfang des Beweises schweigt Art. 4 der ProdHaftRL jedoch. Welche Auswirkungen hat also die Auslegung zu Art. 4 der ProdHaftRL auf nationale prozessuale und materielle Beweisregeln?
Ganz grundsätzlich gilt: Ein Gericht ist frei in der Würdigung der vorgelegten Beweise. Dem Richter steht es prinzipiell frei, bestimmte vorgebrachte Tatsachen und Indizien derart zu würdigen, dass er den vorgetragenen Sachverhalt als erwiesen ansieht.
Unter Berücksichtigung von Art. 4 der ProdHaftRL ging der mit der Rechtssache befasste Cour d’appel de Paris, das Berufungsgericht Paris, jedoch davon aus, dass ein wissenschaftlicher Nachweis der Kausalität zwischen der Impfung und dem Ausbruch der Multiplen Sklerose geführt werden muss. Da dieser nicht geführt werden konnte, wies er die Klage ab.
Der anschließend mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil befasste französischer Kassationsgerichtshof, der Cour de cassation, legte die streitentscheidende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Der Kassationsgerichtshof wollte vom EuGH wissen, ob sich der Kläger auf klare und übereinstimmende Indizien stützen kann, um den erforderlichen Kausalitätsnachweis zu führen.
Urteil des EuGH zu nationalen Beweisregelungen: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23253 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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