Ab April wird es Kameras bei den Bundesgerichten geben. Es war ein weiter Weg bis zu dieser moderaten Erweiterung der Medienöffentlichkeit vor Gericht, zeigt Christian Schrader. Und kommentiert: Nach der Reform ist vor der Reform.
Zur Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen gibt es ein weites Spektrum: irgendwo zwischen einer Geheimjustiz und Court-TV à la O. J. Simpson. Deutschland hat nun eine neue Regelung: Das Gesetz über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren (EMöGG), das in dieser Woche im Bundgesetzblatt verkündet wurde, ermöglicht zaghaft mehr Medien im Gericht.
§ 169 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) führte bislang aus, dass die Verhandlung vor dem Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich ist. Geboten ist die unmittelbare Öffentlichkeit im Gerichtssaal, die sog. Saalöffentlichkeit.
Erstmals mit den Möglichkeiten des Fernsehens tauchte die Frage auf, ob die räumliche Beschränkung der Saalöffentlichkeit durch Medienübertragungen aufgehoben werden kann. Deutschland hat damit sehr spezielle Erfahrungen. Die schneidende Verhandlungsführung von Roland Freisler im Volksgerichtshof und die Nürnberger Prozesse sind in tiefer Erinnerung. Vom Auschwitz-Prozess 1963 sind Tonaufnahmen zugänglich.
Im Jahr 1964 aber wurde § 169 GVG so ergänzt, dass während der Verhandlung keine Ton- und Fernsehaufnahmen zulässig sind. Erlaubt sind Fernsehaufnahmen gemäß S. 2 der Vorschrift seitdem nur vor und nach der Verhandlung, in den Pausen oder außerhalb des Gerichtssaals. Nur beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kann das Fernsehen den Beginn der mündlichen Verhandlung und die öffentliche Verkündung von Entscheidungen senden. Das BVerfG lässt auch Übertragungen in gerichtliche Medienarbeitsräume zu.
Zankapfel Gerichtsöffentlichkeit
Bei zwei spektakulären Strafprozessen wurde um die so eingeschränkte Gerichtsöffentlichkeit bis zum Verfassungsgericht gerungen. 1995 konnte der Sender n-tv nicht aus dem Politbüro-Prozess übertragen. Auf seine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Grundrechts der Pressefreiheit hin erklärte das BVerfG das Verbot von Aufnahmen aus der Verhandlung für gerechtfertigt (Urt. v. 24.01.2001, Az. 1 BvR 2623/95).
Die Presse berichte häufig nur über das Besondere, das Sensationelle und Skandalöse. Eine Fernsehberichterstattung würde diesen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten verstärken, unter durch ihre Prangerwirkung. Viele Angeklagte oder Zeugen würden sich in Anwesenheit von Kameras und Tonbändern scheuen, intime oder peinliche Umstände zu erklären. Die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung rechtfertige, so die Mehrheit des 1. Senats, ein ausnahmsloses Verbot. Drei der acht Richter hielten das allerdings bereits im Jahr 2001 angesichts der Entwicklungen der Medienlandschaft nicht mehr für zeitgemäß.
Streit um die Gerichtsöffentlichkeit gab es auch zum Anfang und gegen Ende des NSU-Prozesses. 2013 entschied das BVerfG, dass das Strafgericht eine angemessene Zahl von solchen ausländischen Medien zulassen müsse, die einen besonderen Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten haben. Darauf erhielten vier türkische Medien einen Platz.
Mitte 2017 kündigte die Staatsanwaltschaft an, dass ihr Plädoyer über 20 Stunden lang dauern werde. Die Verteidiger der Hauptangeklagten wollten das Plädoyer aufnehmen, um auf die Staatsanwaltschaft besser entgegnen zu können. Dem stand § 169 S. 2 GVG nicht entgegen, weil die Vorschrift nur Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung verbietet. Das Gericht verbot sie aber im Rahmen der Sitzungspolizei, § 176 GVG. Man darf gespannt sein, ob die Verteidigung darauf eine Revision gegen das Urteil stützen wird.
Frisch verkündet: das EMöGG
In der rechtspolitischen Diskussion um Aufnahmen aus Gerichtsverhandlungen lagen die Forderungen weit auseinander. Journalisten traten für eine Lockerung ein. Wenn man twittern, aber nicht aufnehmen dürfe, sei das nicht mehr zeitgemäß. Ein Gutachten des Deutschen Richterbundes 2013 und der Deutsche Juristentag 2016 lehnten Änderungen fast vollständig ab.
Im Sommer 2017 beschloss der Bundestag das Gesetz "über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren" (EMöGG). Nach der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten wurde es in dieser Woche im Bundesgesetzblatt verkündet, seine wesentlichen Regelungen treten aber erst nach einer Übergangsfrist von sechs Monaten in Kraft.
Tragender Grund für das Gesetz ist der Grundsatz der Zugänglichkeit von Informationen, der im Demokratieprinzip des GG verankert ist. Auf der anderen Seite steht ein möglicherweise erheblicher Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beteiligten an Gerichtsverfahren durch eine Berichterstattung in den Medien.
2/2: Medienarbeitsraum, historische Prozesse, Kameras bei Urteilen der Bundesgerichte
Inhaltlich kann nun - eingeschränkt - über die Saalöffentlichkeit hinausgegangen werden. Künftig kann der Ton der Verhandlung gerichtsintern in einen gesonderten Arbeitsraum für Medienvertreter übertragen werden. Diese Neuregelung (§ 169 Abs. 1 GVG, § 17a Abs. 1 S. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) stellt eine gegenwärtig bereits rechtlich mögliche Öffnung gesetzlich klar. Die beim BVerfG seit Jahren geübte Praxis wird auf alle Gerichte erweitert.
Zudem können künftig zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken bei Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland Tonaufnahmen der Verhandlung und der Verkündung angefertigt werden (§ 169 Abs. 2 GVG, § 17a Abs. 3 BVerfGG). Diese Möglichkeit zielt auf einen Kreis von historisch Interessierten, die später nach den Kriterien der Archivgesetze die Aufnahmen beantragen können. Sie ist begrenzt auf Fälle von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für Deutschland, die im Gesetzentwurf noch vorgesehenen Filmaufnahmen schränkte der Bundestag auf Tonaufnahmen ein.
Die wohl relevanteste Neuerung sind die Ton- und Filmaufnahmen der Verkündung von Entscheidungen des obersten Bundesgerichte, nun geregelt in § 169 Abs. 3 GVG.
In besonderen Fällen, die aber nicht von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung sein müssen, können Kameras die Entscheidungen der obersten Bundesgerichte festhalten und übertragen. Das erweitert die beim BVerfG bestehende Rechtslage auf die obersten Gerichte des Bundes.
Zaghafte Lockerungen
Alle drei Möglichkeiten greifen nicht als gesetzliche Pflicht, sondern fakultativ im Einzelfall, wenn das Gericht nach Abwägung der widerstreitenden Interessen es so beschließt (§ 169 Abs. 4 GVG). Diese Ermessensentscheidung ist unanfechtbar.
Im Ergebnis besteht das Verbot von Medienübertragungen damit weiter. Die moderaten, einzelfallbezogenen Lockerungen werden den je nach Prozess sehr unterschiedlichen Rechtsgütern, die gegeneinander abzuwägen sind, aber gerecht.
Erste Stellungnahmen greifen die Erweiterungen als zu weitgehend an. Eine Aufnahme der gesamten Verhandlung sei weder tatsächlich noch rechtlich angezeigt. Daran ist richtig, dass in Deutschland niemand eine unbeschränkte Medienöffentlichkeit will, die zum Streaming und zu Court-TV führt.
Aber davon sind die beschlossenen Änderungen weit entfernt. Ton- und Filmaufnahmen sind auch künftig nur bei den obersten Gerichten, in besonderen Fällen und nur für die Entscheidungsverkündung zulässig.
Die Saalöffentlichkeit ist eine Errungenschaft des Liberalismus, aus einer Zeit, als es die Möglichkeit direkter Medienübertragungen noch nicht gab. Es gilt, sie – ohne Rechte Beteiligter zu verletzten - moderat an die Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen.
Das Gesetz ermöglicht nun Tonaufnahmen in einen Nebenraum oder für Archivzwecke. Doch im Internetzeitalter kommt es auf Bewegtbilder an, nicht auf Tonübertragungen. Ein Historiker, der 2067 einen zeitgeschichtlich bedeutsamen Prozess auswertet, wird staunen, nur Tonaufnahmen vorzufinden.
Die Richter haben die Wahl
Der Grund für die übervorsichtige Änderung ist weniger die Austarierung der gegenläufigen Grundrechtspositionen der Presse und der Verfahrensbeteiligten. Bei vielen Verfahren, etwa vor den Verwaltungsgerichten, geht es in der Regel nicht um Persönlichkeitsrechte, sondern um staatliche Infrastruktur, Ressourcen und Machtausübung.
Richter stehen kraft ihres Amts bei öffentlichen Sitzungen im Blickfeld der Medienöffentlichkeit. Ein rechtliches Interesse, in ihrer Person nur durch die in der Sitzung Anwesenden wahrgenommen zu werden, ist angesichts der Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit für ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren regelmäßig nicht anzunehmen, so das BVerfG (Beschl. v. 21. 07. 2000, Az.1 BvQ 17/00, NJW 2000, 2890.
Dennoch liegt der Grund für die zaghafte Erweiterung in der Rücksichtnahme auf Bedenken der Richterschaft. Deutsche Richter haben ein skeptisches Medienbild und wollen nicht gezwungen werden, vor Kameras zu sprechen. Ihrer Lobby gelang es, diese Medienscheu nach vorn zu rücken. Mit unanfechtbaren Ermessenentscheidungen können Richter die Lockerungen ausbremsen - oder aber sich offen zeigen für zeitgemäße Medienpräsenz auch der Gerichte.
Nach der Reform ist vor der Reform. Die Regelungen sollen fünf Jahre nach dem Inkrafttreten evaluiert werden. Auf einer besseren empirischen Basis wird dann erneut diskutiert werden können.
Der Autor Prof. Dr. Christian Schrader ist Studiendekan des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda. Er verantwortet dort den Bachelor Sozialrecht und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Rechtsfragen der Technikentwicklung im Kontext von Verfassungs-, Umwelt- und Technikrecht, insbesondere mit dem Informationsrecht. Der Beitrag entstand anlässlich eines Gastvortrags an der Türkisch-Deutschen-Universität, Istanbul.
Prof. Dr. Christian Schrader , Mehr Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren: Nun haben es die Richter in der Hand . In: Legal Tribune Online, 21.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25159/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag