BVerfG ordnet Zusatzplätze für ausländische Presse an: "Türkische Medien im NSU-Prozess sonst benachteiligt"

Interview mit Prof. Dr. Tobias Gostomzyk

15.04.2013

Das OLG München muss eine angemessene Zahl von Plätzen im Sitzungssaal an Vertreter der türkischen Presse vergeben. Das entschied das BVerfG am Freitag auf den Eilantrag der Sabah. Im LTO-Interview erklärt der Medienrechtler Tobias Gostomzyk, warum die türkische Tageszeitung damit noch keinen Platz garantiert hat und welche Rechtsfragen in der Hauptsache noch zu klären sind.

LTO: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dem Oberlandesgericht (OLG) München aufgegeben, eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern zu vergeben. Wie er dabei vorgeht, überließ das Gericht dem Vorsitzenden des 6. Strafsenats. Möglich sei, ein Zusatzkontingent von mindestens drei Plätzen zu schaffen, die nach dem Prioritätsprinzip oder etwa nach dem Losverfahren vergeben werden (Beschl. v. 12.04.2013, Az. 1 BvR 990/13). Hatten Sie mit dieser Entscheidung gerechnet?

Gostomzyk: Die einstweilige Anordnung des BVerfG war insoweit zu erwarten, als die Karlsruher Richter meist konsensorientiert entscheiden – also auf einen Interessenausgleich bedacht sind: Nun erhalten also einerseits mindestens drei Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern – also insbesondere die türkische Presse – einen Sitzplatz im Gerichtssaal. Andererseits besteht für das OLG München die Chance, den NSU-Prozess planmäßig nächste Woche zu beginnen. Gewissermaßen durch Nachbesserung der bisherigen Platzvergabe.

LTO: Halten Sie den Beschluss für richtig?

Prof. Dr. Tobias GostomzykGostomzyk: Ja. Gerade in seiner Folgenabwägung: Bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde keinen Zutritt zur mündlichen Verhandlung zu haben, hätte für türkische Medien einen schweren Nachteil im publizistischen Wettbewerb bedeutet. Ihnen wäre es nicht möglich gewesen, gleich zum Prozessbeginn Eindrücke unmittelbar aus dem Verhandlungssaal zu schildern. Also dann, wenn - neben der Entscheidungsverkündung - das öffentliche Interesse regelmäßig am größten ist.

Das heißt umgekehrt auch: Vorrangig geht es bei der einstweiligen Anordnung um die Abwehr nicht rückholbarer Nachteile. Eine grundlegende verfassungsrechtliche Prüfung steht noch aus, zumal das BVerfG die Beantwortung dieser Rechtsfragen selbst ausdrücklich als "schwierig" bezeichnet. Das ging im ersten Applaus zur Entscheidung – meine ich – ein wenig unter.

"Prioritätsprinzip ist grundsätzlich denkbar"

LTO: Wer wird von der Entscheidung profitieren? Hat die Sabah nun einen Platz garantiert?

Gostomzyk: Nein, eine Platzgarantie hat die Sabah nicht. Es heißt lediglich, dass mindestens drei ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern einen Sitzplatz bekommen müssen. Damit ist nicht abschließend geklärt, ob eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Medienvertretern zulässig oder sogar geboten sein kann. Es bleibt der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde vorbehalten, dies zu beantworten.

LTO: Welche Rechte sieht das BVerfG möglicherweise durch das Vergabeverfahren verletzt?

Gostomzyk: Die Karlsruher Richter halten eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1  in Verbindung mit der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) für denkbar. Daraus ergibt sich das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Berichterstattungschancen in gerichtlichen Verfahren, die einer "realitätsnahen Gewährleistung" bedürften. Das heißt, eine Vergabe von Akkreditierungen nach dem Prioritätsprinzip ist zwar grundsätzlich denkbar. Doch im NSU-Verfahren ist fraglich, ob das besondere Berichterstattungsinteresse ausländischer Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern ausreichend berücksichtigt worden ist.

"Hauptsache könnte verlässlichen Maßstab für Pressearbeit der Gerichte liefern"

LTO: War für die Entscheidung relevant, dass die E-Mail, mit der das OLG die Akkreditierung eröffnet hatte, zeitversetzt bei den Journalisten angekommen war, und die Pressestelle einzelnen Medienvertretern bereits vorab Informationen über das Vergabeverfahren mitgeteilt hatte?

Gostomzyk: Beide Fragen stellt das BVerfG in seiner Begründung, ohne sie abschließend zu beantworten. Aus der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde könnte sich ein verlässlicherer Maßstab für die Pressearbeit von Gerichten ergeben. Gerade für Verfahren, die bereits vorab absehbar für unterschiedliche Öffentlichkeiten – hier zum Beispiel die deutsche und die türkische – Relevanz besitzen.

LTO: Was erwarten Sie, wird der Vorsitzende des OLG München nun tun?

Gostomzyk: Ich erwarte, dass das Gericht die "kleine Lösung" wählen wird: Also ein Zusatzkontingent von mindestens drei Sitzplätzen für ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern vergeben. Nur so dürfte sich der kommende Mittwoch als geplanter Termin für den Prozessbeginn halten lassen. Die "große Lösung" würde dagegen bedeuten, das gesamte Akkreditierungsverfahren neu durchzuführen. Das ginge nicht von heute auf morgen - zumal sich das OLG München als "gebranntes Kind" die Maßstäbe für die Platzvergabe genau überlegen würde.*

*Update d. Red. v. 15.04.2013: Das OLG München hat zwischenzeitlich entschieden, dass der Beginn des Prozesses vom 17. April auf den 5. Mai verschoben wird, um das Akkreditierungsverfahren erneut durchführen zu können.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Tobias Gostomzyk, BVerfG ordnet Zusatzplätze für ausländische Presse an: "Türkische Medien im NSU-Prozess sonst benachteiligt" . In: Legal Tribune Online, 15.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8523/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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