Das OLG München muss eine angemessene Zahl von Plätzen im Sitzungssaal an Vertreter der türkischen Presse vergeben. Das entschied das BVerfG am Freitag auf den Eilantrag der Sabah. Im LTO-Interview erklärt der Medienrechtler Tobias Gostomzyk, warum die türkische Tageszeitung damit noch keinen Platz garantiert hat und welche Rechtsfragen in der Hauptsache noch zu klären sind.
LTO: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dem Oberlandesgericht (OLG) München aufgegeben, eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern zu vergeben. Wie er dabei vorgeht, überließ das Gericht dem Vorsitzenden des 6. Strafsenats. Möglich sei, ein Zusatzkontingent von mindestens drei Plätzen zu schaffen, die nach dem Prioritätsprinzip oder etwa nach dem Losverfahren vergeben werden (Beschl. v. 12.04.2013, Az. 1 BvR 990/13). Hatten Sie mit dieser Entscheidung gerechnet?
Gostomzyk: Die einstweilige Anordnung des BVerfG war insoweit zu erwarten, als die Karlsruher Richter meist konsensorientiert entscheiden – also auf einen Interessenausgleich bedacht sind: Nun erhalten also einerseits mindestens drei Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern – also insbesondere die türkische Presse – einen Sitzplatz im Gerichtssaal. Andererseits besteht für das OLG München die Chance, den NSU-Prozess planmäßig nächste Woche zu beginnen. Gewissermaßen durch Nachbesserung der bisherigen Platzvergabe.
LTO: Halten Sie den Beschluss für richtig?
Gostomzyk: Ja. Gerade in seiner Folgenabwägung: Bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde keinen Zutritt zur mündlichen Verhandlung zu haben, hätte für türkische Medien einen schweren Nachteil im publizistischen Wettbewerb bedeutet. Ihnen wäre es nicht möglich gewesen, gleich zum Prozessbeginn Eindrücke unmittelbar aus dem Verhandlungssaal zu schildern. Also dann, wenn - neben der Entscheidungsverkündung - das öffentliche Interesse regelmäßig am größten ist.
Das heißt umgekehrt auch: Vorrangig geht es bei der einstweiligen Anordnung um die Abwehr nicht rückholbarer Nachteile. Eine grundlegende verfassungsrechtliche Prüfung steht noch aus, zumal das BVerfG die Beantwortung dieser Rechtsfragen selbst ausdrücklich als "schwierig" bezeichnet. Das ging im ersten Applaus zur Entscheidung – meine ich – ein wenig unter.
"Prioritätsprinzip ist grundsätzlich denkbar"
LTO: Wer wird von der Entscheidung profitieren? Hat die Sabah nun einen Platz garantiert?
Gostomzyk: Nein, eine Platzgarantie hat die Sabah nicht. Es heißt lediglich, dass mindestens drei ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern einen Sitzplatz bekommen müssen. Damit ist nicht abschließend geklärt, ob eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Medienvertretern zulässig oder sogar geboten sein kann. Es bleibt der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde vorbehalten, dies zu beantworten.
LTO: Welche Rechte sieht das BVerfG möglicherweise durch das Vergabeverfahren verletzt?
Gostomzyk: Die Karlsruher Richter halten eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) für denkbar. Daraus ergibt sich das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Berichterstattungschancen in gerichtlichen Verfahren, die einer "realitätsnahen Gewährleistung" bedürften. Das heißt, eine Vergabe von Akkreditierungen nach dem Prioritätsprinzip ist zwar grundsätzlich denkbar. Doch im NSU-Verfahren ist fraglich, ob das besondere Berichterstattungsinteresse ausländischer Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern ausreichend berücksichtigt worden ist.
"Hauptsache könnte verlässlichen Maßstab für Pressearbeit der Gerichte liefern"
LTO: War für die Entscheidung relevant, dass die E-Mail, mit der das OLG die Akkreditierung eröffnet hatte, zeitversetzt bei den Journalisten angekommen war, und die Pressestelle einzelnen Medienvertretern bereits vorab Informationen über das Vergabeverfahren mitgeteilt hatte?
Gostomzyk: Beide Fragen stellt das BVerfG in seiner Begründung, ohne sie abschließend zu beantworten. Aus der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde könnte sich ein verlässlicherer Maßstab für die Pressearbeit von Gerichten ergeben. Gerade für Verfahren, die bereits vorab absehbar für unterschiedliche Öffentlichkeiten – hier zum Beispiel die deutsche und die türkische – Relevanz besitzen.
LTO: Was erwarten Sie, wird der Vorsitzende des OLG München nun tun?
Gostomzyk: Ich erwarte, dass das Gericht die "kleine Lösung" wählen wird: Also ein Zusatzkontingent von mindestens drei Sitzplätzen für ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den NSU-Opfern vergeben. Nur so dürfte sich der kommende Mittwoch als geplanter Termin für den Prozessbeginn halten lassen. Die "große Lösung" würde dagegen bedeuten, das gesamte Akkreditierungsverfahren neu durchzuführen. Das ginge nicht von heute auf morgen - zumal sich das OLG München als "gebranntes Kind" die Maßstäbe für die Platzvergabe genau überlegen würde.*
*Update d. Red. v. 15.04.2013: Das OLG München hat zwischenzeitlich entschieden, dass der Beginn des Prozesses vom 17. April auf den 5. Mai verschoben wird, um das Akkreditierungsverfahren erneut durchführen zu können.
2/2: "Risiken einer Videoübertragung aus dem Saal kalkulierbar"
LTO: Zu der von Journalisten geforderten Übertragung der Verhandlung per Video in einen weiteren Presseraum hat das BVerfG sich nicht geäußert. Hatten Sie ein obiter dictum zu dieser Frage erwartet?
Gostomzyk: Nein, erwartet habe ich das nicht. Auch das BVerfG beschränkt sich regelmäßig darauf, nur das zu entscheiden, was entschieden werden muss. Es musste aber nicht zwingend beantwortet werden, ob § 169 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) einer solchen Erweiterung des Verhandlungssaals per Videoübertragung entgegensteht oder eine solche sogar einen Revisionsgrund liefert.
Dahinter steht letztlich die viel grundsätzlichere Frage, inwiefern Saalöffentlichkeit auch Medienöffentlichkeit bedeuten soll. Dazu formulierten die Karlsruher Richter in ihrer n-tv-Entscheidung: "Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt." Dazu gehört auch, dass Medienvertreter im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen ein Recht auf Zugang zur Gerichtsöffentlichkeit besitzen, aber eben kein grenzenloses.
LTO: Anders als etwa die Justizpressekonferenz hält der Präsident des Bundesgerichtshofs, Klaus Tolksdorf, der derzeit einem Strafsenat angehört, die Videoübertragung nicht für zweifellos zulässig. Schon gar nicht sei diese geboten. Wie sehen Sie das?
Gostomzyk: Ich halte selbst die Videoübertragung in engen Grenzen für vertretbar, sehe aber auch die Risiken: Hält man die Übertragung für eine Verletzung von § 169 S. 2 GVG, könnte tatsächlich ein Revisionsgrund – ein Verstoß gegen die Öffentlichkeit des Verfahrens – vorliegen. Dies ausschließen zu wollen, ist ein verständliches Anliegen des zuständigen Strafgerichts.
LTO: Tolksdorf äußerte Bedenken, dass die Videoübertragung Zeugen verunsichern könnte, da diese keinen Überblick mehr darüber hätten, wer sie bei ihrer Aussage beobachtet. Sind das berechtigte Bedenken?
Gostomzyk: Aus dem Stegreif kann ich dazu keinen psychologischen Befund liefern. Lebenspraktisch halte ich die Risiken aber für kalkulier- und letztlich vertretbar. Ich denke, erst die unmittelbare Reaktion auf Äußerungen birgt die Gefahr der Verunsicherung. Etwa das Lachen von Zuschauern im Sitzungssaal. Dieser Rückkanal fehlt aber. Demgegenüber sprechen die Zeugen ohnehin in Mikrofone. Und wenn irgendwo im Gerichtssaal zusätzlich dezent eine Kamera angebracht ist, dürfte das wenige stören.
"Politik, Medien und Justiz funktionieren nach jeweils eigenen Regeln"
LTO: Nicht zur Entscheidung angenommen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Karlsruher Journalisten Ulf Stuberger (Az. 1 BvR 1010/13). Er hatte gerügt, dass das Münchner Gericht nicht zulasse, dass er seine Akkreditierung an eine Kollegin abgebe, nachdem er selbst wegen einer Erkrankung nicht am Prozess werde teilnehmen können. Halten Sie auch diese Entscheidung im Ergebnis für richtig?
Gostomzyk: Ja, dafür sprechen gute Gründe: Kern der teilweise erfolgreichen Anträge ist eine mögliche Verletzung des Grundsatzes auf Gleichbehandlung durch die Nichtberücksichtigung ausländischer Medien. In Stubergers Fall stellt sich dagegen die Frage, ob das Prioritätsprinzip, nach dem die Sitzplätze ja verteilt worden waren, nicht durch eine Platzweitergabe gefährdet werden könnte. Demnach scheidet eine Verletzung in eigenen Grundrechten aus.
LTO: Im Vorfeld hatten Bundestagsabgeordnete das Vergabeverfahren kritisiert. Auch Außenminister Westerwelle hatte sich eingeschaltet und eine akzeptable Lösung angemahnt. Verletzt die Kritik von dieser Seite die richterliche Unabhängigkeit?
Gostomzyk: Richterliche Unabhängigkeit bedeutet, dass Gerichte allein dem Gesetz unterworfen sind, wie es Art. 97 Abs. 1 GG formuliert. Also nicht allgemein der öffentlichen oder speziell einer politischen Meinung. Dass diese Bindung an das Gesetz ernsthaft beeinträchtigt wurde, sehe ich nicht; auch wenn ich mir hier und dort mehr Zurückhaltung gewünscht hätte. Wichtiger aber ist, sich zu vergegenwärtigen: Politik, Medien und Justiz funktionieren nach jeweils eigenen Regeln, die nicht immer kompatibel sind, selbst wenn sie aus sich selbst heraus Sinn ergeben. Dafür bietet die Platzvergabe im NSU-Prozess geradezu ein Lehrstück.
Prof. Dr. Tobias Gostomzyk lehrt und forscht am Institut für Journalistik der TU Dortmund insbesondere zu Fragen des Medien- und Internetrechts sowie der Rechtskommunikation.
Die Fragen stellte Claudia Kornmeier.
Prof. Dr. Tobias Gostomzyk, BVerfG ordnet Zusatzplätze für ausländische Presse an: "Türkische Medien im NSU-Prozess sonst benachteiligt" . In: Legal Tribune Online, 15.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8523/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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