Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben in der Probezeit keinen Anspruch auf den besonderen Schutz des § 84 Abs. 1 SGB IX. Daran hält das BAG fest. Obwohl die Gesetzessystematik dagegen spricht, erklärt Robert Hotstegs.
Damit schloss sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Ergebnis den Vorinstanzen an. Auch diese hatten die Klage abgewiesen, mit der eine Angestellte des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg ihre Diskriminierung wegen einer Schwerbehinderung geltend machte. (BAG, Urt. v. 21.04.2016, Az. 8 AZR 402/14).
Dabei hatte die mit einem Grad von 50 Schwerbehinderte eigentlich den Wortlaut - oder genauer gesagt: den fehlenden Wortlaut - des Gesetzes auf ihrer Seite. Das Sozialrecht sieht in § 84 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IX ein sogenanntes Präventionsverfahren für alle Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse vor. Eine zeitliche Begrenzung der Norm gibt es nicht.
Der Arbeitgeber ist danach verpflichtet, bei auftretenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis frühzeitig Schwerbehindertenvertretung, Betriebs- oder Personalrat und das Integrationsamt einzuschalten. Gemeinsam sollen sie darüber beraten und Unterstützung suchen, um das Arbeitsverhältnis langfristig fortzusetzen.
BAG: kein Präventionsverfahren in der Probezeit
Genau dies geschah seinerzeit bei der Klägerin nicht. Das Land Baden-Württemberg hatte mit ihr eine sechsmonatige Probezeit vertraglich vereinbart und ihr knapp sieben Wochen vor Ablauf der Frist mitgeteilt, man wolle zum Ende des halben Jahres kündigen. Eine Kündigungsschutzklage direkt gegen diese Kündigung erhob die Klägerin nicht.
Sie machte aber eine Diskriminierung wegen ihrer Schwerbehinderung geltend. Das Land habe es versäumt, das Präventionsverfahren durchzuführen und damit keine "angemessene Vorkehrung" im Sinne des Art. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und des Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ergriffen. Darin liege immer eine Diskriminierung und dies führe jedenfalls zu einem Entschädigungsanspruch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Dem folgte nun das BAG endgültig nicht. Die höchsten deutschen Arbeitsrichter schrieben stattdessen ihre bisherige Rechtsprechung aus den Jahren 2006 und 2007 fort. Damals hatte das Gericht bereits ausgeführt, dass das fehlende Präventionsverfahren grundsätzlich nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung führen solle, zumal dessen Durchführung innerhalb einer Probezeit nahezu unmöglich sei. Und Unmögliches solle auch von einem Arbeitgeber nicht verlangt werden.
2/2: Entgegen der Systematik des Gesetzes
Dabei sprach für die Ansicht der Klägerin die Systematik des Sozialrechts. Denn der Gesetzgeber hat das Präventionsverfahren in Teil 2, Kapitel 3 des SGB IX unter der Überschrift "Sonstige Pflichten der Arbeitgeber; Rechte der schwerbehinderten Menschen" platziert. Es handelt sich also quasi um einen kleinen allgemeinen Teil, der sowohl Arbeitgeber als auch schwerbehinderte Arbeitnehmer adressiert. Eine Begrenzung auf Arbeitsverhältnisse, die länger als sechs Monate dauern, sieht das Kapitel nicht vor.
Anders verhält es sich aber im folgenden Kapitel 4 unter der Überschrift "Kündigungsschutz" – und nur dort. § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX regelt, dass die Vorschriften dieses (also des vierten) Kapitels nicht für schwerbehinderte Menschen gelten, deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht länger als sechs Monate besteht. Eine Anwendung auch auf das vorangegangene Kapitel 3, welches das Präventionsverfahren enthält, ist im Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen.
Dies erklärt das scheinbar widersprüchliche Klageverhalten der Betroffenen, die einerseits keine Kündigungsschutzklage erhob, weil weder das Kündigungsschutzgesetz noch das besondere Schutzrecht des Kapitels 4 gegriffen hätten. Stattdessen zog sie den vermeintlichen Joker des Präventionsverfahrens aus Kapitel 3.
Spaltet das BAG den Schwerbehindertenschutz auf?
Auch wenn das BAG mit seiner Entscheidung an bestehende Urteile anknüpft, bleibt die schriftliche Urteilsbegründung abzuwarten. Aus diesen könnte sich ergeben, ob auch andere Schutzvorschriften während der Probezeit mit dieser Anleihe aus dem Kündigungsschutzgesetz suspendiert werden sollen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass zukünftig das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX ebenfalls erst nach Ablauf der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses greifen soll.
Die Begründung ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil das BAG mit seiner Entscheidung nun offenbar den Schwerbehindertenschutz gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes aufspaltet – und zwar völlig ohne Not.
Da die Frist des Kündigungsschutzgesetzes ebenso wie die Frist für den besonderen Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertenrecht ausschließlich für Arbeitnehmer gilt, das Präventionsverfahren aber ausdrücklich daneben auch alle sonstigen Beschäftigungsverhältnisse umfasst, könnte die Entscheidung aus Erfurt nun dazu führen, dass nebeneinander arbeitende Schwerbehinderte völlig unterschiedlich behandelt werden. Ein Arbeitnehmer könnte ohne Präventionsverfahren entlassen werden, ihm stünde auch kein Entschädigungsanspruch zu. Auch ein Beamtenanwärter oder ein Auszubildender in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis könnte aus diesem Dienstverhältnis entlassen werden. Die Entlassung selbst wäre wohl ebenfalls rechtmäßig, aber das Präventionsverfahren bliebe anwendbar. Ob dies zu einer Entschädigung führen kann, ist bislang in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Richtersenats beim Bundesgerichtshof nicht geklärt.
Der Autor Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf. Die Kanzlei ist auf das öffentliche Dienstrecht, insbesondere Beamten- und Disziplinarrecht spezialisiert.
Robert Hotstegs, BAG verneint Schutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer: Kein Präventionsverfahren in der Probezeit . In: Legal Tribune Online, 22.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19180/ (abgerufen am: 28.09.2023 )
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