Die Weihnachtsbotschaft drückt den Wunsch aus, es möge Friede auf Erden einziehen. Das deutsche Recht kennt das Verbot von Bestrebungen gegen den "Gedanken der Völkerverständigung". Was das heißen soll, ist nicht sehr klar.
Juristische Klarheit will nicht dogmatisch definiert, sondern ins Bild gesetzt werden: Eine Erstgebärende, die mit Befähigung zum Richteramt im Kreißsaal liegt; ein Rechtsanwalt, der zu betrunken ist, um bei der Verkehrskontrolle einzusehen, dass er sich in eigener Sache nicht verteidigen sollte; eine Kandidatin auf dem Weg zum Staatsexamen, die mit der U-Bahn im Tunnel stecken bleibt – ein wirklich guter Rechtsbegriff sollte sich dadurch auszeichnen, dass Juristinnen und Juristen ihn in jeder denkbaren Stresssituation makellos definieren können.
"Völkerverständigung" zählt mit einiger Sicherheit nicht zu diesen Begriffen.
Und das, obwohl ein Blick ins Grundgesetz (GG) zeigt, wie wichtig die "Völkerverständigung" zu nehmen ist. Art. 9 Abs. 2 GG nennt neben strafrechtswidrigen Zwecken oder Tätigkeiten, also einem klassischen liberalen Grund, eine Vereinigung zu verbieten, ihre Ausrichtung gegen die Verfassung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung, um die Organisation in rechtlicher Hinsicht zu vernichten.
Bremen beschwört die Völkerverständigung gleich drei Mal
Die knapp zwei Jahre vor dem Grundgesetz in Kraft getretene Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen (LV HB) erwähnt die Völkerverständigung nicht weniger als drei Mal.
Mehr dekorativ wirkt es noch, wenn Art. 55 Abs. 1 LV HB harmlos den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag und zum "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung" erklärt – selbst wenn man gern wissen wollte, ob in Bremen nur die Gerechtigkeit oder auch die Freiheit "sozial" zu sein hat.
Art. 65 Abs. 1 LV HB sollte noch etwas mehr den kritischen Geist wecken: "Die Freie Hansestadt Bremen bekennt sich zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung." – Ist es handwerklich gut gemacht, fundamentale Wesensmerkmale des Verfassungsstaats wie die Demokratie neben bloße Staats- oder Ziele zu stellen, die zwingend im parlamentarischen Prozess oder im Streit der Tarifparteien ausgehandelt werden müssen, wie es etwa für die "soziale Gerechtigkeit" gilt? Und was ist dann "Völkerverständigung" – Staatsfundamentalprinzip oder Ziel praktischer Tagespolitik? Warum schließlich "bekennt" man sich zu all dem wie schon beim Feiertag?
"Durch Gesetz sind Vereinigungen zu verbieten, die die Demokratie oder die Völkerverständigung gefährden", verlangt Art. 17 Abs. 2 LV HB. Womöglich hatte man hier 1947 die Vorstellung vor Augen, die Bremische Bürgerschaft würde "durch" Einzelgesetz derartige Vereinigungen verbieten, statt "aufgrund" eines Gesetzes durch eine Verbotsbehörde – eine demokratietheoretisch zwar interessante Methode, die aber natürlich noch nicht verrät, was sich hinter der "Völkerverständigung" verbirgt.
Bayern versteht "Völkerfreundschaft" eher als Aufgabe der Ausländerpädagogik
Die dreifache Anrufung der Völkerverständigung in der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen ist beileibe nicht die heikelste Übung zur Vokabel.
Was wollte etwa der bayerische Gesetzgeber dem Volk und der Lehrerschaft des Freistaats mitteilen, als er unter die Aufgaben der Schulen "insbesondere" neben der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten sowie "selbstverständigem Urteil und eigenverantwortlichem Handeln" auch zählte, "im Geist der Völkerverständigung zu erziehen und die Integrationsbemühungen von Migrantinnen und Migranten sowie die interkulturelle Kompetenz aller Schülerinnen und Schüler zu unterstützen" (Art. 2 Abs. 1 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen)? – Ist hier "Völkerverständigung" etwas anderes denn ein verkappter Oberbegriff für die "Integrationsbemühungen" von wohl ausländischen "Migranten"?
Abgesehen davon, dass auch Deutsche, die ihren Wohnort wechseln, nach zulässigem Wortverständnis "Migranten", hier aber wohl nicht gemeint sind, wird "Völkerverständigung" zum integrationspädagogischen Anliegen – die Schnittmenge mit dem, was nach Art. 9 Abs. 2 GG für das Verbot einer Vereinigung genügen muss, dürfte hier nicht allzu groß sein. Dass auch größere und gewichtigere Länder wie Nordrhein-Westfalen in ihrem Schulrecht pädagogische Wünsche in einer Weise katalogisieren, die jede deontische Logik aufgegeben hat – § 2 Schulgesetz NRW will viel und regelt wenig – wird kaum eine Entschuldigung bieten.
Völkerverständigung – "the proof of the pudding is the eating"
In solchen Referenzen drückt sich augenscheinlich keine Vorstellung von "Völkerverständigung" aus, die zu einer normativen Formel mit Subsumtionsqualität führen könnte.
Auch die Rechtsprechung äußert sich nicht sonderlich klar, selbst dort, wo sie im Rahmen eines Vereinsverbots auf die "Völkerverständigung" nicht als Hilfsargument oder in einer bloß rhetorischen Girlande zurückgreift. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erklärte beispielsweise im Leitsatz seines Urteils vom 3. Dezember 2004 (Az. 6 A 10/02):
"Ein Verein richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG i. V. m. Art. 9 Abs. 2 GG, wenn er durch finanzielle Zuwendungen über einen langen Zeitraum und in beträchtlichem Umfang eine Gruppierung unterstützt, die Gewalt in das Verhältnis von Völkern hineinträgt, und wenn die dadurch eintretende Beeinträchtigung des friedlichen Miteinanders der Völker von einem entsprechenden Willen des Vereins getragen ist."
Das Verbot traf hier einen Verein, dessen Mittel von der Hamas, der 1987 gegründeten sunnitischen Partei und Terrororganisation, unter anderem dazu verwendet worden sein sollen, sogenannte "Märtyrerfamilien" zu unterstützen – also die Angehörigen von Menschen zu versorgen, die sich und andere bei Selbstmordattentaten mit dem Ziel töteten, den Staat Israel zu vernichten und einen islamischen Gottesstaat zu errichten.
Das BVerwG erklärte mit Blick auf die rechtswissenschaftliche Literatur zum Begriff "Völkerverständigung", es richte sich ein "Verein (auch) dann gegen den Gedanken der Völkerverständigung, wenn sein Zweck oder seine Tätigkeit der friedlichen Überwindung der Interessengegensätze von Völkern zuwiderläuft. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Gewalt in das Verhältnis von Völkern hineingetragen wird."
Diese Interpretationsleistung, dass es dem "Gedanken der Völkerverständigung" nicht zuträglich ist, wenn der verbotene Verein zwar nicht "selbst Gewalt ausübt", aber "eine Gruppierung unterstützt, die ihrerseits durch Ausübung von Gewalt das friedliche Miteinander der Völker beeinträchtigt", bewegt sich nah an der berühmten Definitionsverweigerung von US-Richter Potter Stewart (1915–1985) aus dem Jahr 1963, er wisse "hard-core pornography" nicht in verständlicher Weise zu erklären, erkenne sie aber, wenn er sie sehe.
Wenn bei der Feststellung von Sachverhalten, in denen Vereine einen rechtswidrigen Mangel an Völkerverständigung an den Tag legen, mit nahezu nackter Selbstevidenz – "the proof of the pudding is the eating" – geprüft wird, ist das Publikum zwar vermutlich solange nicht gestört, als es – wie in diesem Fall die "Hamas"-Helfer – die "Richtigen" trifft. Problematisch ist das aber insofern, als der Staat hier privaten Vereinigungen verbietet, was er sich im europäischen Staatenverbund möglicherweise selbst viel Geld kosten oder mangels hinreichender Korruptionskontrolle jedenfalls geschehen lässt: Dass eine politische Partei mit konfessioneller Ideologie und (staats-) terroristischer Praxis von Europa aus finanziert wird.
Indem die Gerichte und die Staatsrechtslehre den Begriff der "Völkerverständigung" so leblos handhaben, ihn vor allem nicht positiv, sondern nur negativ am Fallbeispiel des evident von "Märtyrer"-Terroristen gestörten Friedens verhandeln, tragen sie zu dem Wahrnehmungsdefizit bei: Die politische Öffentlichkeit hat es über Jahrzehnte nicht gelernt, die Vorgänge im Nahen Osten ökonomisch, soziologisch, ethnologisch und eben auch juristisch zutreffend zu bezeichnen, es allein auf die wilden konfessionellen Verhältnisse zu schieben.
Sättigender Begriff von der "Völkerverständigung"
Um etwas an Sättigungsgrad zu gewinnen und um den Begriff der "Völkerverständigung" auch positiv gewendet definieren zu können, müsste wohl auf die Gedankenwelt rund ums Jahr 1900 zurückgegriffen werden – eine Zeit, die etwa dem Bremischen Verfassungsgeber 1947 noch präsent war.
"Völkerverständigung" hieß damals beispielsweise nicht, gesetzlich eine gesonderte Integrationsobliegenheit für ethnische bzw. soziale Minderheiten an bayerischen Schulen zu formulieren – man spreche Deutsch, auf dass sich die Völker des Freistaats verständigen können –, sondern es schlossen sich Menschen zusammen, die die Kunstsprache Esperanto lernten. Diese Bewegung der Völkerverständigung war so mitgliederstark, dass sie unter Hitler wie Stalin verfolgt wurde, die Kommunisten aber auch von der Popularität zu profitieren versuchten, indem sie den fünfzackigen grünen Stern der Esperantisten in roter Fassung kopierten.
Auch in der Weise, in der über "Völkerverständigung" noch von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle gedacht wurde, lag noch eine lebendige Kraft: Hunderttausende von Teenagern sollten, so eine erste Idee der beiden Alten zum deutsch-französischen Jugendaustausch vor dem dann deutlich bescheideneren Élysée-Vertrag von 1963, jährlich über die Sommerwochen im jeweils anderen Land zubringen. Wäre daraus etwas geworden, es würden heute nicht nur die "Umvolkungs"-Theoretiker in den Schlaf- und Kinderzimmern zwischen Bordeaux und Berlin (West) zweisprachig ausgelacht, auch das Wort "Völkerverständigung" hätte deutlich mehr semantische Substanz.
Als bloße vereins- und strafrechtliche Auffangvokabel wird "Völkerverständigung" jedenfalls unter Wert gehandelt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.
"Und Frieden auf Erden": . In: Legal Tribune Online, 25.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43823 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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