Generationen von Studenten und Praktikern war und ist das Reichsgericht ein Begriff. Die dahinter stehenden Köpfe sind dagegen vielfach vergessen. Mit den letzten Jahren des höchsten Gerichts im Deutschen Reich ist vor allem ein Name verbunden: Erwin Bumke. André Niedostadek über den letzten Präsidenten, der vor 140 Jahren geboren wurde.
Berlin 1933. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten liegt wenige Wochen zurück, als der Präsident des Reichsgerichts, Erwin Bumke, pflichtgemäß beim Führer zum Antrittsbesuch erscheint. Erbaut davon, dem seiner Ansicht nach politischen Emporkömmling die Hand zu geben, ist Bumke nicht, wie er einem Kollegen anvertraut.
Doch Hitlers magnetischem Bann kann sich auch der höchste Richter des Landes nicht entziehen. Der Sohn eines befreundeten Richters, der Schriftsteller Erich Ebermayer, hält dazu in seinem Tagebuch vom 9. Mai 1933 fest: "Vor ein paar Tagen ist Bumke von der Audienz bei Hitler zurückgekommen. Er kam als Bekehrter, oder doch fast Bekehrter. Von dem Charme, der Wärme, der Kraft dieser Führer-Persönlichkeit könne man sich keine Vorstellung machen, wenn man ihm nicht selbst gegenübergestanden, erklärte er meinem Vater. Zum Schluss der Audienz habe Hitler seine beiden Hände festgehalten, ihm lang und tief in die Augen geblickt und mit seiner brunnentiefen Stimme gesagt: 'Bumke – helfen Sie mir!' Damit war der Seelenfang perfekt."
Stationen einer Bilderbuchkarriere
Erwin Konrad Eduard Bumke wird am 7. Juli 1874 in Stolp geboren. Die Kleinstadt in Hinterpommern nahe der Ostseeküste gilt als eine liberale Hochburg. Sein Vater praktiziert als Arzt, die Mutter ist die Tochter eines bekannten Unternehmers. Trotz des frühen Todes des Vaters kann die Mutter mit ihren Kindern den großbürgerlichen Lebensstandard halten. Erwin ist intelligent, fleißig, musikalisch und hat obendrein ein Faible für Fremdsprachen. Nach dem Abitur studiert er Rechtswissenschaften, zunächst in Freiburg später in Leipzig, München, Berlin und schließlich Greifswald. Dort wird er 1896 an der Königlichen Universität mit einer zivilrechtlichen Arbeit promoviert.
Nach der erfolgreich absolvierten Großen Juristischen Staatsprüfung 1902 übernimmt er zunächst eine unbesoldete Stelle als Hilfsarbeiter, eine Art Richter auf Probe, am Landgericht Stettin. Aber schon bald lässt er sich beurlauben. Während man vielen Richtern ihre Weltfremdheit vorwirft, zieht es ihn fort: Er reist nach Genf, Paris und London. Ein Jahr später kehrt er zurück und tritt dann 1905 eine Stelle als Landrichter in Essen an. Dort bleibt er zwei Jahre. Dann der nächste Karrieresprung: Man beordert Bumke ins Reichsjustizamt. Im gleichen Jahr heiratet er Eva von Merkatz. Das Paar wird zwei Kinder bekommen.
1914 dann der Erste Weltkrieg. Bumke dient zunächst als Leutnant der Landwehr bei der Feldartillerie, wird schließlich zum Hauptmann befördert und mit Stabsaufgaben betraut. Nach Kriegsende 1918, kehrt er in die Justizverwaltung zurück. Inzwischen zum Ministerialdirektor aufgestiegen leitet er im Reichsjustizministerium die Abteilung II in Strafsachen. Er macht sich daran, eine Novellierung des Strafprozessrechts auszuarbeiten, den Strafvollzug zu überarbeiten und das Jugendstrafrecht anzupassen, etwa durch das Anheben der Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre. Bumke macht sich durchaus einen Namen als Reformer.
Ernennung zum Präsidenten des Reichsgerichts
1929 dann schließlich die Krönung seiner Karriere. Als sich der amtierende Reichsgerichtspräsident Walter Simons Anfang des Jahres durch das Einmischen der Reichsregierung in ein schwebendes Verfahren brüskiert sieht und das Handtuch wirft, ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den von Statur eher kleinen, fast schmächtigen Bumke zum ranghöchsten Richter. Eine Entscheidung, die auf breite Zustimmung stößt. Der hohe Beamte aus preußischer Schule mit geschliffenen, kultivierten Umgangsformen gilt als fachlich überaus profilierter Jurist.
Bumkes Arbeitsbereich ist beachtlich. Ihm obliegt nicht nur die Leitung des in erster Linie für Revisionen in Zivil- und Strafsachen zuständigen Gerichts. Er führt auch den Dritten Strafsenat und hat in Personalunion obendrein den Vorsitz des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich beim Reichsgericht inne, dem Verfassungsgericht der Weimarer Republik.
Aus den Entscheidungen des Staatsgerichtshofs ragt vor allem diejenige zum "Preußenschlag" heraus: Im Juli 1932 bestellt Reichspräsident von Hindenburg den Reichskanzler Franz von Papen kurzerhand zum Reichskommissar für das Land Preußen, der daraufhin den preußischen Ministerpräsidenten und weitere Minister ihrer Ämter enthebt. Nicht nur der Freistaat sieht darin einen schwerwiegenden verfassungswidrigen Eingriff. Die Angelegenheit "Preußen contra Reich" landet vor dem Staatsgerichtshof unter Bumkes Vorsitz. Dort ist man um einen Brückenschlag bemüht. Zwar billigt man das Vorgehen mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung, rehabilitiert auf der anderen Seite aber auch die bisherige preußische Regierung. Dass man damit indirekt Hitlers weiteren Aufstieg zur Diktatur ebnet, ist noch nicht abzusehen.
2/2: Kein typischer Musternazi
Mit Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 dringt die nationalsozialistische Gewaltherrschaft tief in die Justiz ein. Nicht zuletzt die richterliche Unabhängigkeit steht auf dem Spiel. Sie wird für den gestanden Juristen Bumke zum Prüfstein, wenn auch nur kurzzeitig. Bemüht, die Richterschaft hinter sich zu bringen und die Autorität des Reichsgerichts zu demonstrieren, muss er einsehen, dass ein gemeinsamer Entschluss nicht zu realisieren ist. Einige Kollegen sind inzwischen selbst der NSDAP beigetreten. Als der Führer auf einem Juristentag 1933 in Leipzig klarmacht, dass eine Justiz nur im Rahmen seiner gegenwärtigen Weltanschauung unabhängig sein kann und muss, fehlt Bumke, der sich, wie sein Bruder schreibt "seelisch ziemlich am Ende fühlte".
Inwieweit der zunehmende Nazi-Terror Bumke tatsächlich "aufs Schwerste bedrückt" hat, lässt sich kaum mehr ausmachen. Politisch selbst wenig aktiv kann er sich anders als sein Vorgänger Simons jedoch nicht dazu durchringen, aus dem Amt zu scheiden, mag er auch mehrfach darüber nachgedacht haben. Schon im Januar 1932 hatte er in einem Schreiben an die Reichskanzlei formuliert: "Es ist für mich ein kaum erträglicher Gedanke, dass mein Name mit einer Periode der Geschichte des Reichsgerichts verbunden sein soll, die seinen Niedergang bedeutet." Dabei war der Anlass des Schreibens vergleichsweise banal. Es ging um gekürzte Richterpensionen. Jetzt, wo es um die rückwirkende Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe geht oder auch um die Entlassung jüdischer Richterkollegen vernimmt man vom höchsten Richter nur ein Schweigen. So wie auch später, etwa bei dem als "Aktion Gnadentod" bekannten Euthanasieprogramm des Dritten Reiches.
Zwar ist man sich bei Gesprächen im Kreis der Familie Bumke offenbar einig, dass es im Grunde besser sei, das Amt aufzugeben. Dennoch kann oder will Bumke kein solches Zeichen setzen. Darin mag ihn auch der Reichsjustizminister Franz Gürtner bestärkt haben: "Herr Präsident, Sie wissen doch, was nach Ihnen käme, Sie dürfen nicht gehen. Was noch zu retten ist, müssen wir retten." Und Bumke bleibt. Manches spricht dafür, dass er wirklich nur bleibt, um Schlimmeres zu verhindern, womöglich, dass das Amt an "irgendeinen wilden Nationalsozialisten" fallen könnte. Augenscheinlich ist er der Ansicht, dass man sich mit den Gegebenheiten arrangieren muss. Dabei verstrickt er sich zusehends.
Nach dem Antrittsbesuch bei Hitler lässt er das Ölgemälde des ersten Reichsgerichtspräsidenten und ersten deutschen Verfassungsvaters Eduard von Simson, einem getauften Juden, aus dem großen Festsaal des Reichsgerichts fortschaffen. Später wird er Mitglied der NSDAP und tritt als Präsident beim Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongress mit Heil-Hitler-Rufen auf. Sein Senat prägt maßgeblich die "Blutschutzrechtsprechung" und er besiegelt mit seiner Unterschrift zahlreiche Todesurteile. So etwa im Fall "Ewald Schlitt". Der hatte seine Ehefrau schwer misshandelt. Auf Initiative Hitlers wandelt der Senat eine ursprünglich fünfjährige Zuchthausstrafe pflichtschuldigst in eine Todesstrafe um. Und dennoch ist er kein typischer Musternazi, niemand der wie ein Roland Freisler das Klischee eines NS-Juristen bedient.
Selbstmord am Geburtstag des Führers
Als Erwin Bumke 1939 sein 65. Lebensjahr vollendet, lässt er sich seine Amtszeit verlängern, muss aber einsehen, dass er kaum mehr etwas erreichen kann. Auch wenn er einmal rückblickend geäußert haben soll: "Meine Herren, Sie wissen ja gar nicht, was ich alles schon vom Reichsgericht abgewendet habe!"
Schließlich fällt er auch bei Hitler in Ungnade. Den Vorschlag, Bumke zu seinem 70. Geburtstag das Adlerschild des Deutschen Reiches zu verleihen, kommentiert der Führer lakonisch: Eine solche Auszeichnung gebühre nur Personen, "deren Schaffen und Wirken weit über den Rahmen ihres eigentlichen Arbeitsgebietes hinausgeht und Gemeingut des Deutschen Volkes geworden ist".
Als die Amerikaner im April 1945 in Leipzig einmarschieren, nimmt sich Erwin Bumke in seiner Dienstwohnung im Reichsgericht das Leben. In einem Abschiedsbrief soll es geheißen haben: "Möge mein Schicksal denen zur Warnung dienen, die da glauben, politischen Notwendigkeiten den Vorrang vor der Majestät des Rechts einräumen zu sollen."
Es ist der 20. April, der Geburtstag des Führers.
André Niedostadek, Der letzte Präsident des Reichsgerichts: Der stumme Richter . In: Legal Tribune Online, 05.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12451/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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