In jeder großen Justiz-Bibliothek findet sich dieses Werk. Es liest sich, als hätten sich der freundlich-biedere Humorist Loriot und der ängstliche Jurist Franz Kafka zusammengetan, um Geschichten zu schreiben, die den Horror-Experten Stephen King das Fürchten lehren: Die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft", 34. Band – Jahrgang 1913. Eine kleine Zeitreise von Martin Rath.
In seinem ziemlich gut verkauften Werk "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" erzählt der FAZ-Journalist Florian Illies von den mehr oder weniger ergreifenden Ereignissen in Kultur und Politik des letzten Jahrs vor dem Ersten Weltkrieg. Dass sich Franz Kafka schwertat, zu heiraten, und es bestenfalls auf eine unglückliche Verlobung brachte, wird da etwa ins Gedächtnis gerufen. Auch, dass Kaiser Wilhelm II. gerne mit Schiffen spielte, darf nicht vergessen werden – immerhin stolpern noch heute Bundespräsidenten darüber, dass sie sich zu freimütig über den Sinn der Streitkräfte äußern.
Die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (ZStW) ist heute eine hochgelehrte juristische Fachzeitschrift – kaum gelesen, dafür aber ein Medium, in dem junge Strafrechtswissenschaftler ihre ersten Publikationsträume wahr werden sehen. Vor 100 Jahren las sich diese Zeitschrift noch viel erfrischender: ein possierlicher Humor wie von Loriot, voll Angst-Themen wie aus Kafkas Träumen – zudem mit viel deutschem Amerika-Interesse gefüttert.
Irrsinnsfragen zwischen Richter und Psychiater
Man darf sich den Heidelberger Psychiatrie-Professor Karl Wilmanns (1873-1945) als vorwitzigen Kopf vorstellen, immerhin wurde er 1933 entlassen, wohl weil er Hitler als Hysteriker und Hermann Göring als Morphium-Abhängigen bezeichnet hatte. Das war eine Ferndiagnose, die durchaus zutraf. In der ZStW des Jahres 1913 diskutierte der noch recht junge Klinikchef eine Frage, die zwischen Psychiatern und Juristen hoch umstritten war: Wie sollte mit medizinischen Gutachten im Strafprozess umgegangen werden?
In § 51 des Reichsstrafgesetzbuchs hieß es: "Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war."
Psychiatrische Gutachter verstanden diese Vorschrift zu Kaisers Zeiten so, dass es ihre Aufgabe nur sei, die "krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" als Tatsachenfrage zu beurteilen, während es im Strafprozess dem Richter überlassen bleibe, welche Schlüsse er daraus für die Rechtsfrage ziehen wollte, ob damit auch die "freie Willensbestimmung ausgeschlossen war".
Wilmanns dokumentierte dazu neun gerichtspsychiatrische Fallbeispiele, die verraten, warum das Thema vor 100 Jahren so drängte: Nicht wenige Angeklagte waren freizusprechen, weil bei ihnen "Gehirnerweichung" festgestellt wurde, ein vornehmer Ausdruck für die Folgen meist sexuell übertragenen Syphilis, damals kaum zu heilen und weit verbreitet. Der Psychiater zeigte, dass zwar Straftaten, die klar in einem solchen Wahn begangen wurden, von Juristen erkannt würden, es den nur rechtskundigen Richtern aber schwerfalle, bei weniger augenscheinlichen Geistesstörungen ohne gutachterliche Bewertung zu einem Urteil zu kommen.
Horror am Hochofen, Paranoia im Fachmagazin
Nachdem das Bundesarbeitsgericht im Herbst 2009 unkonventionelle Methoden einer Gewerkschaft im Arbeitskampf abgesegnet hatte, gab es in Juristenkreisen nicht wenige Stimmen, die im sogenannten Flashmob-Urteil (v. 22.09.2009, Az. 1 AZR 972/08) einen dramatischen Wechsel, ja eine Gefahr für den zivilisierten Umgang zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in Kampfstimmung sahen.
Wäre da nicht der Dortmunder Stahlarbeiter Wyskowic, könnte man sich darüber amüsieren, dass Dr. Schmidt-Ernsthausen, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Düsseldorf, schon 1913 unter dem Titel "Moderne Streikmethoden" einen ähnlichen Tonfall zum Untergang des Abendlands im kollektiven Arbeitsrecht fand. Schmidt-Ernsthausen machte seine juristischen Leser zunächst mit der großartigen Technik der modernen Stahlerzeugung vertraut. Eine wirklich anschauliche Darstellung einer komplexen technischen Anlage in einem juristischen Magazin – das liest man heute nicht oft. Im März 1911 war eine solche Anlage – partiell – bestreikt worden: Arbeiter im Bereich der hydraulischen und der Gebläse-Maschinen hatten die Arbeit niedergelegt, was in nicht bestreikten Betriebsteilen Folgen hatte: "Der Arbeiter Wyskowic wurde von der hohen Flamme des ausfließenden Eisens am ganzen Körper verbrannt und starb am nämlichen Tage."
Ein Strafprozess wegen fahrlässiger Tötung endete mit Freisprüchen. Schmidt-Ernsthausen kritisiert vor allem, dass die Delikte der Nötigung- und Erpressung – des Unternehmers wie der arbeitswilligen Arbeiter – nicht hinreichend geprüft worden seien. Das sei wichtig, weil die – von ihm zuvor so liebevoll geschilderte arbeitsteilige Fabrikation – so anfällig gegen partielle Arbeitsniederlegungen geworden sei: Hier legt ein Arbeiter die Elektrik lahm, dort werden 22 Tonnen Eisen wertlos.
Nur nebenbei verliert ein Arbeiter sein Leben. Die Nebensächlichkeit dieser Folge "moderner Streikmethoden" unterstreicht Schmidt-Ernsthausen, indem er ein weiteres Beispiel für die Verletzlichkeit arbeitsteiliger Fertigung gibt: 1912 hatten gewerkschaftsangehörige "Goldschnittmacher einer Gladbacher Gebetbücherfabrik bei einem Streik den arbeitswilligen Schnittmachern die zum Abreiben der Bücher nötigen Späne heimlich mit Seifenpulver vermengt" und ihnen damit "eine Woche lang jegliche Arbeit verdorben".
Die arbeitsteilige Industriegesellschaft, die in Deutschland so friedlich reguliert wurde – das scheint bei Schmidt-Ernsthausen allenthalben durch – sei von den wild-brutalen "französischen" Methoden bedroht.
2/2: Hochverrat als sozialdarwinistische Selektions-Leistung
Einen Vorgeschmack darauf, wie er sich als politischer und akademischer Wirbelwind betätigen würde, liefert in der ZStW 1913 Hans von Hentig (1887-1974) – zuvor durchs Staatsexamen gefallen, gleichwohl 1912 mit einer urheberrechtlichen Arbeit promovierter Jurist, nach dem Ersten Weltkrieg "Nationalbolschewist" und Hochverräter, Exilant in der Sowjetunion und in den USA.
Neben der Psychiatrie und der arbeitsteiligen Industriegesellschaft beschäftigt die Strafjuristen des Jahres 1913 ein Thema verschärft: Eugenik, damals auch synonym "Rassenhygiene" genannt. Von Hentig entfaltet ein Programm, wie die Einrichtungen der Strafrechtspraxis nach sozialdarwinistischen Kriterien als solche der Eugenik bewertet werden könnten: Er beklagt beispielsweise, dass das "Selektivmittel der Strafe" in "ziemlich beschränkter Weise am äußeren kriminellen Akt haften geblieben" sei, was keinen hinreichenden Druck auf das "gewohnheitsmäßige Verbrechertum" ausübe. Unfruchtbarmachung komme für geisteskranke Straftäter in Betracht. Damals hochmoderne Reformvorschläge wie die Strafaussetzung zur Bewährung begrüßt von Hentig nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie zur "Verfeinerung des grob-mechanischen Ausleseprozesses" dienen könnten. Bei der Todesstrafe ist von Hentig kritisch: Hochverräter beispielsweise könnten durchaus zu einer wünschenswerten "Regenerationsfähigkeit unseres politischen Lebens beitragen".
Da stockt noch 100 Jahre später der Atem. Ein junger Kriminologe in spe hält Hochverrat für eine womöglich gute Sache, natürlich rein sozialdarwinistisch betrachtet. Die renommierte Strafrechtszeitschrift druckt es unzensiert. Hochverrat, das muss man wissen, war damals definiert als "Mord und der Versuch des Mordes, welche an dem Kaiser, an dem eigenen Landesherrn" verübt werden.
Näher an der Rechtspraxis bewegte sich derweil Géza von Hoffmann, österreichisch-ungarischer Vizekonsul in Chicago, der von der "Rechtsgiltigkeit der Sterilisierungsgesetze" in den USA zu berichten wusste, die in Sachen "Rassenhygiene" in deutschen Gelehrtenkreisen als vorbildlich wahrgenommen wurden. Eine ganze Reihe von US-Bundesstaaten, darunter auch bevölkerungsreiche wie New York und Kalifornien, kannten nicht nur Gesetze, die eine Heirat zwischen "Negern" und "Weißen" verboten, sondern traten auch mit der strafrechtlichen Innovation hervor, Kriminelle zu sterilisieren. Von Hoffmann lobt die juristische Arbeit der "American Breeders Association" ("breeder", dt. "Züchter"), die gutachterlich und in Musterprozessen entsprechende Sterilisationen gegen das Argument geschützt habe, eine "grausame und ungewöhnliche Strafe" zu sein.
Todesstrafe ist besser als lebenslanges Zuchthaus
Ein Dr. Ernst Schulze aus Hamburg-Großborstel hat sich in der Strafrechtswissenschaft des Jahres 1913 gleich mehrfach verewigt. Zum einen mit einem unfreiwillig komischen Beitrag, ebenfalls zur neumodischen Strafpraxis in den USA, in dem der deutsche Jurist Sterilisationen und Kastrationen rechtshistorisch munter verwechselt, um zu dem für die spätere Rechtsgegenwart leider zu optimistischen Schluss zu kommen, deutsche Mediziner würden sich lieber selbst töten, als an der zwangsweisen Sterilisation/Kastration fremder Menschen schuldig zu werden.
In einem weiteren Artikel führt Dr. Schulze die ungeheure Korruption der New Yorker Polizei vor, die sich an den strengen Alkohol-, Bordell- und Glücksspielvorschriften bereichere, und sich damit das 30-fache eines deutschen Facharbeiterlohns beschere. Allein die dummen New Yorkerinnen, die den Anblick strammer Soldaten nicht gewöhnt seien, ließen sich vom Anblick der "jungen und geschmeidigen" Beamten der berittenen Polizei enthusiasmieren.
Der erste Polizeibeamte, der in den USA hingerichtet wurde, stammte immerhin auch aus New York, Charles Becker (1870-1915). Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dies ein Fehlurteil war. Vom deutschen Professor Wilhelm Höpfner, Göttingen, hätte der NYPD-Beamte allerdings wenig Tröstliches lesen können, in der ZStW 1913. Nachdem es beim Deutschen Juristentag 1912 eine Auseinandersetzung um die Todesstrafe gegeben hatte, merkte der Gelehrte an: Fehlurteile könne es bei der lebenslangen Freiheitsstrafe auch geben und wer ihre seelische Grausamkeit kenne, zöge die Todesstrafe vor.
Martin Rath, Aus der ZStW 1913: Über Kastration und Korruption . In: Legal Tribune Online, 23.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8987/ (abgerufen am: 19.05.2024 )
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