Während heute die staatlich angeordnete Tötung missliebiger Personen kaum eine Chance zu haben scheint, vor Gericht verhandelt zu werden, brachte es eine Mordaktion des sowjetischen Geheimdienstes in Deutschland immerhin zum "Lehrbuchfall". Vom dogmatischen Detail abgesehen, ist der Rest des "Falls Staschynskij" inzwischen etwas in Vergessenheit geraten. Ein Rückblick von Martin Rath.
Zwischen dem Sitz eines großen juristischen Verlagshauses in München und einem der beiden Tatorte liegt nur ein Fußweg von rund einer halben Stunde. Das mag erklären, warum die Umstände des Mordes an den ukrainischen Exil-Aktivisten Lew Rebet und Stepan Bandera ungekürzt und vergleichsweise reißerisch in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" wiedergegeben wurden. Dramatisch und streckenweise auch sehr befremdlich war jedenfalls das, was die Richter des 3. BGH-Strafsenats im "Fall Staschynskij" zu Papier bringen ließen – in der "NJW" wie auch in der halbamtlichen Sammlung "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen".
Aber zur Sache. Am 12. Oktober 1957 tötete der KGB-Agent Bogdan Staschynskij den ukrainischen Exilanten Lew Rebet mit Hilfe einer sehr speziellen Giftpistole. Das von den Bundesrichtern detailliert beschriebene Gerät erinnerte an die technischen Utensilien aus James-Bond-Filmen: Das Mordopfer wurde über eine Distanz von rund 50 Zentimetern mit einem Sprühnebel getroffen, der aus einer unmittelbar tödlichen Blausäureverbindung bestand.
Der sowjetische Geheimdienst setzte diese Tötungsmethode ein, wenn die amtliche Feststellung eines gewaltsamen Todes möglichst erschwert werden sollte. Ein zweites Mal kam Staschynskij am 15. Oktober 1959 zum Einsatz. Nachdem er den ukrainischen Exil-Politiker Stepan Bandera bereits im Frühjahr 1959 ausgekundschaftet hatte, tötete er ihn nun unter Einsatz der Blausäure-Pistole.
Als Vertreter der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" war Bandera Zeit seines politischen Lebens in ein obskures Netzwerk eingebunden. Während des Zweiten Weltkriegs waren ukrainische Nationalisten am Terror gegen Polen und Juden beteiligt. In einer frühen Phase des Kalten Krieges wurde von Seiten westlicher Geheimdienste – insgesamt nicht sehr erfolgreich – versucht, vor allem in der Ukraine und im Baltikum Guerilla-Operationen gegen die sowjetische Staatsgewalt zu organisieren. Zur Zeit seiner Ermordung arbeitete Bandera wohl nur noch propagandistisch. Es heißt, er sei für seine "antisowjetischen Tätigkeiten" in der UdSSR in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Heue werden ihm, umstritten, in der Ukraine Denkmäler errichtet. Ein Beispiel dafür, wie die Einstufung als Terrorist von den Orts- und Zeitumständen abhängt.
Nach seiner Rückkehr auf DDR-Gebiet erfuhr Staschynskij, dass ihm für seinen Agenteneinsatz der "Kampforden des Roten Banners" verliehen werde. Dieses Lob kam von höchster Stelle, wie auch die Mordbefehle – das sollte der 3. Strafsenat des BGH später festhalten – auf sowjetischer Regierungsebene erteilt worden waren. Was für den damaligen KGB-Chef, Alexander Schelepin, später noch zu politischen Verwicklungen führen sollte.
Bundesgerichtshof hält das "Plädoyer eines Verteidigers"
Zwei Jahre nach dem Attentat auf Bandera, floh Staschynskij in den Westen – 1961, im Jahr des Mauerbaus in Berlin. Als Fluchtmotiv wird – in bester James-Bond-Manier – von einer Liebesbeziehung berichtet. Von westlichen Geheimdiensten wurde der interessante Überläufer aufmerksam betreut. Auch der Bundesgerichtshof sollte in dem Aufsehen erregenden Strafprozess fast schon zu freundliche Worte für den ihn finden. Angeklagt wurde Staschynskij wegen der Tötung der beiden ukrainischen Exilanten – ein klarer Fall von Mord, sollte man denken. Kein ganz klarer Fall von Mord, wie Jurastudenten spätestens im zweiten Semester erfahren.
In der "NJW-Variante" des Urteils vom 19. Oktober 1962 (Aktenzeichen 9 StE 4/62, NJW 1963, Seiten 355-358) wird die emotionale Verfassung und biografische Vorgeschichte Staschynskijs wesentlich ausführlicher wiedergegeben, als sie sich in der halbamtlichen Sammlung "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen" (BGHSt 18, Seiten 87-96) findet.
Nach dieser fast empathischen Darstellung habe der Angeklagte bei der Ermordung Lew Rebets im Jahr 1957 "fast automatisch" gehandelt, wobei die Bundesrichter die selbstkritische Haltung Staschynskijs anerkennend einfließen lassen: "(W)as er, wie er sofort hinzufügt, nicht als Entschuldigungsgrund verstanden wissen will."
Wem der oft harsch-autoritäre Tonfall im Umgang mit Angeklagten vertraut ist, der sich in den 1950er- bis 1960er-Jahren selbst noch in Revisionsurteilen des BGH entdecken lässt, nimmt auch verwundert die sensible Dokumentation der Vorgeschichte zur Kenntnis: Als 19-Jähriger war Staschynskij wegen Schwarzfahrens mit der Eisenbahn vom "sowjetrussischen Staatssicherheitsdienst" aufgegriffen und aufgrund der regimefeindlichen Haltung seiner Familie zu geheimdienstlicher Tätigkeit genötigt worden.
Überraschend milde fiel das Urteil aus: acht Jahre Zuchthaus. Wegen der beiden zweifellos heimtückischen Morde wäre Anfang der 1960er-Jahre die Verurteilung zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe obligatorisch gewesen. Dass die alternativlose Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in der Mordvorschrift des § 211 Strafgesetzbuch gegen die Menschenwürde verstoße, urteilte das Bundesverfassungsgericht ja erst 1977. Zum Lehrbuchfall für deutsche Juristen wurde "Staschynskij" bekanntlich, weil der Bundesgerichtshof 1962 einen anderen Weg fand, den Angeklagten nicht "lebenslang" aburteilen zu müssen.
Obwohl Staschynskij die beiden Tötungshandlungen "von eigener Hand" begangen hatte und er auch nicht als psychisch völlig fremdgesteuert galt (wie die arme "Totschlägerin von eigener Hand" im "Sirius"-Fall), mochten die Bundesrichter ihm keinen eigenen "Täterwillen" zuschreiben. Damit konnte ihm nach der so genannten "subjektiven Lehre" unterstellt werden, nur Beihilfe zu einer fremden Tat geleistet zu haben – den eigentlichen "Täterwillen" habe die sowjetische Geheimdienstführung gehabt. Beihilfe konnte milder bestraft werden als eigene Täterschaft.
In der immer noch grandiose Justizkomödie "Rosen für den Staatsanwalt" aus dem Jahr 1959 kommt der von Martin Held gespielte Staatsanwalt Wilhelm Schramm in die ebenso peinliche wie komische Situation, den Angeklagten Rudi Kleinschmidt, gespielt von Walter Giller, in der Hauptverhandlung mit aus der Luft gegriffenen Argumenten zu verteidigen – hat er doch geheime Gründe, dass der Angeklagte wegen eines vermeintlichen Schokoladen-Diebstahls keine allzu harte Strafe empfängt. Held hält das "Plädoyer eines Verteidigers", komisch für einen Staatsanwalt.
Morde an Exilpolitikern – und aus sowjetischer Sicht: mindestens intellektuellen Helfern antikommunistischer Partisanen, heute spräche man von Terrorismus – sind kein Schokoladendiebstahl. Und damit ist es zwar nicht komisch, aber immerhin noch befremdlich zu lesen, in welchem Ausmaß die Bundesrichter dem Angeklagten Staschynskij persönliche Reue und moralische Distanz zur eigenen Tat attestierten. Man wünschte sich, "BGHSt 18, 87-96" einmal von Martin Held vorgetragen zu hören.
Nachgeschichten – persönlich und politisch
Ob der – wegen guter Führung vorzeitig entlassene – Bogdan Staschynskij in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiern kann, ist nicht bekannt. Er erhielt zusammen mit seiner Frau eine neue Identität. Not tat die nachträgliche Geheimniskrämerei, weil Staschynskij als Überläufer und Verräter natürlich von Racheaktionen der östlichen Geheimdienste bedroht war.
Der KGB soll im Zuge der Entspannungspolitik ab den späten 1960er-Jahren auf eigene Mordaktionen, jedenfalls im westlichen Ausland, verzichtet haben. Berüchtigt blieben bis zum Zusammenbruch des Ostblocks vor allem die bulgarischen und rumänischen Geheimdienste.
Um den KGB-Chef der Jahre 1958 bis 1961, der nach dem BGH-Urteil zumindest für den Mord an Bandera als "eigentlicher Täter" in Frage kam, rankte sich in den 1970er-Jahren noch eine für westdeutsche Politiker und Gewerkschafter eher peinliche Geschichte: Alexander Schelepin besuchte im Januar 1975 in seiner Funktion als Vorsitzender der sowjetischen Zwangsgewerkschaften die Zentrale des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf. Möglich wurde die Visite, weil Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) den Haftbefehl gegen den Chef des tödlichen Bogdan Staschynskij außer Vollstreckung gesetzt hatte.
Die Freundlichkeit der westdeutschen Politik gegenüber dem mutmaßlichen Mörderchef sollte sich aber als Danaergeschenk erweisen. Die unkritische Aufnahme in Deutschland verführte ihn dazu, im April 1975 auch nach Großbritannien zu reisen. Dort hielt ihm der Vorsitzende der britischen Elektrikergewerkschaft vor, seine einzige Erfahrung mit dem Proletariat bestehe darin "Arbeiter ins Gefängnis zu stecken" und ein Labour-Abgeordneter erklärte den Schreibtischtäter des KGB zum "unwillkommensten Besucher Englands seit Rudolf Heß".
Dieses negative Echo im Westen trug zum politischen Ende des "eigentlichen Täters" im "Fall Staschynskij" bei – er schied mit vergleichsweise jungen 56 Jahren aus dem Führungsgremium der Diktatur, dem Politbüro der KPdSU, aus.
Dass damit ein englischer Elektriker und ein Unterhausabgeordneter in einem politisch brisanten Fall der deutschen Strafjustiz mehr Respekt erwiesen als die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Gewerkschaftsbund, mag zu denken geben.
Mit Respektsproblemen hat die deutsche Justiz ja nicht nur in Strafsachen zu kämpfen.
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Lehrbuchfall Staschynskij: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3218 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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