Die strafrechtlichen Angriffe auf die Redaktion des Spiegel vor 50 Jahren geben Zeitzeugen und Nachgeborenen wieder einmal Anlass, die moralische Geburtsstunde des "Sturmgeschützes der Demokratie" zu feiern. Martin Rath erinnert stattdessen an das weniger glückliche Schicksal von Journalisten, die in der Weimarer Zeit wegen "publizistischen Landesverrats" verfolgt wurden.
Hätte die Ministerin ihre heikle Aussage vom "Tiefen Staat" doch nur im gepflegten Präteritum gemacht, wäre das Blut der Opposition weit weniger in Wallung geraten. Der Integrationsministerin von Baden-Württemberg, Bilkay Öney, wurde im Juni 2012 von Seiten der CDU-Landtagsfraktion vorgehalten (Landtagsdrucksache 15/1809), sie habe im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten des Nationalsozialistischen Untergrunds gesagt: "Den 'Tiefen Staat' gibt es auch in Deutschland."
Damit untergrabe die Ministerin das Vertrauen insbesondere der türkischstämmigen Bevölkerung in den deutschen Staat und diffamiere "die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei und Verfassungsschutz in inakzeptabler Weise", da der "Begriff des 'Tiefen Staats' … in der Türkei bzw. in Bezug auf diese im Sinne einer Verflechtung von Sicherheitskräften, Politik, Justiz, Verwaltung und Organisierter Kriminalität gebraucht" werde.
"Tiefer Staat" unter höchstrichterlichem Schutz
Es wird zwar ein Rätsel bleiben, worin wohl eine "akzeptable Diffamierung" von Staatsbediensteten bestehen könnte. Schon lange kein Geheimnis mehr ist es aber, welche Folgen es für Journalisten, Publizisten und Politiker haben konnte, das Wirken des Militärs und anderer "Sicherheitskräfte" zur Zeit der ersten deutschen Republik zwischen 1918/19 und 1933 zu äußern – dem "Tiefen Staat" avant la lettre.
Die Rechtsgeschichte des damals noch nicht so genannten "Tiefen Staats" der Weimarer Republik gehört zum Vorspiel der berühmten Spiegel-Affäre von 1962 wie auch zu den weit weniger bekannten justiziellen Auseinandersetzungen und Verquickungen des Nachrichtenmagazins mit den Geheimdiensten zwischen 1947 und 1962 (dazu in Teil 2 und 3 dieser kleinen Serie).
Mehr als ein einziges Urteil aus der Weimarer Zeit zum "Tiefen Staat" findet man zwar nicht in der halbamtlichen Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Strafsachen, aber die Entscheidung vom 14. März 1928 (Az. 7 J 63/25 – RGSt ) zum publizistischen Landesverrat durch Journalisten hat es in sich – und es ist zudem repräsentativ für zahlreiche nicht veröffentlichte, teils selbst zur Geheimsache erklärte Urteile dieser Jahre.
Angeklagt waren vor dem 5. Strafsenat die Journalisten Bertolt Jacob (1898-1944) und Fritz Küster (1889-1966). Den Sachverhalt gibt der bekannte Staatsrechtslehrer Christoph Gusy wie folgt wieder: "Sie hatten nach einem Unfall bei einer militärischen Übung die öffentlich erschienenen Todesanzeigen für dabei umgekommene Beteiligte ausgewertet. Das Ergebnis hatten sie in einer Zeitschrift dahin zusammengefaßt, daß nahezu ausnahmslos zivile Berufsbezeichnungen angegeben waren. Diese Tatsache war deshalb auffällig, weil im Versailler Vertrag die Reichswehr auf Berufssoldaten begrenzt war."
Der Friedensvertrag von 1919 hatte das deutsche Militär auf 100.000 Mann beschränkt, deren Aufgabe zudem auf Grenzschutz und Wahrung der inneren Ruhe festgelegt war. Weitere Rüstungsbeschränkungen betrafen das Verbot der Luftkriegsrüstung sowie die Größe der Flotte. Diese Regelungen waren der geltenden Rechtsordnung inkorporiert. Anders als das – von der politischen Rechten bis in Teile der Linken – als "Diktatfrieden" diffamierte Völkerrecht des Versailler Vertrages galt als zweifelslos freiwillig gesetztes inländisches Recht das "Gesetz über die Entwaffnung der Bevölkerung" vom 7. August 1920 (Reichsgesetzblatt I, S. 1553), das in § 13 Gefängnisstrafen nicht unter drei Monaten, in schweren Fällen Zuchthausstrafen bis fünf Jahren nicht erst für den Gewahrsam an Kriegswaffen, sondern allein schon für öffentlichen Widerspruch gegen die Entwaffnung des deutschen Paramilitärs vorsah.
Seite 2/2: Publikation illegaler Geheimnisse, die keine sind
Die Übungen der "Schwarzen Reichswehr" und andere illegale Rüstungsmaßnahmen waren regelmäßig "offene Geheimisse" – beispielsweise durch die Haushaltsberatungen des Reichstags jedermann zugänglich. Auf den Aspekt der bereits vorhandenen Öffentlichkeit der Todesanzeigen geht das Reichsgericht nicht weiter ein – es genügte für das Verdikt über die Journalisten offenbar, den "früheren Feindmächten" die Arbeit der Lektüre öffentlicher Texte erleichtert zu haben.
Eine Gleichsetzung von journalistischer Veröffentlichung und Landesverrat sowie die Konstruktion eines legitimen Staats neben dem Rechtsstaat der positiven, geschriebenen Normen, gibt das Reichsgericht mit den folgenden Worten:
"Dem eigenen Staate hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen, niemals aber durch Anzeige bei ausländischen Regierungen. Die uneingeschränkte Anerkennung des Gedankens, dass die Aufdeckung und Bekanntgabe gesetzwidriger Zustände dem Reichswohle niemals abträglich, nur förderlich sein könne, weil das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche, ist abzulehnen[.]"
"Windiges aus der deutschen Luftfahrt"
An der „Einheit der Rechtsordnung“ hatte das Reichsgericht kein verschärftes Interesse. Während Jacob und Küster "nur" zu mehrmonatiger Festungshaft, einer privilegierten Haftform, verurteilt wurden, traf es neben dem Autor des Artikels "Windiges aus der deutschen Luftfahrt", Walter Kreiser (1898-1958) den verantwortlichen Redakteur Carl von Ossietzky (1889-1938) ungleich härter. Nicht nur wegen versuchten Landesverrats, sondern nach einem 1914 in Kraft gesetzten Spionagetatbestand verhängte der 4. Strafsenat des Reichsgerichts 18 Monate Gefängnis.
Der pazifistische Luftfahrtexperte Walter Kreiser hatte die Wirtschaftspläne der seinerzeit staatlich subventionierten Lufthansa durchforstet, einige böse Worte über das Geschäftsgebaren des Vorstands der Luftfahrtgesellschaft verloren und war schließlich auf die militärische Kooperation zwischen Lufthansa und Reichswehr eingegangen. Sein Artikel in der linksliberalen Weltbühne (Nr. 11/1929) schloss eher unjournalistisch: "Aber nicht alle Flugzeuge sind immer in Deutschland …" Ohne Vorwissen – das bei den rund 16.000 Abonnenten der Weltbühne offenbar vorausgesetzt wurde –, dass Flugzeuge der Lufthansa zum militärischen Training in einem gemeinsamen Projekt von Reichswehr und Roter Armee in Russland unterwegs waren, ergab diese Andeutung keinen Sinn. Eindeutiger als mit den drei Auslassungspunkten lässt sich ein "offenes Geheimnis" eigentlich nicht formulieren (zum Ganzen: Ingo Müller und Gerhard Jungfer: "70 Jahre Weltbühnen-Urteil", in: Neue Juristische Wochenschrift 2001, 3.461-3.465).
Naturrechtliche Begründung des "Tiefen Staats"?
Christoph Gusy hat an einem für den Durchschnittsjuristen leider eher entlegenen Ort eine bemerkenswerte Analyse der reichsgerichtlichen Urteile zum publizistischen Landesverrat vorgelegt, in Goltdammer’s Archiv (1992, 195-213): "Der Schutz des Staates gegen seine Staatsform".
Grob skizziert lässt sich die Analyse des Staatsrechtlers in der exklusiven Strafrechtler-Zeitschrift so zusammenfassen: Das höchste Gericht des Landes billigt unter Bezug auf überpositive, "naturrechtliche" Erwägungen der Exekutive zu, das "Staatswohl" zu definieren und Parlament und Staatsvolk von diesem Prozess auszuschließen – was zur Aburteilung der journalistischen Elite des Landes führte.
Ob die journalistische Elite des Landes heute ernsthaft die Ohren spitzt, wenn Juristen die Pfade des positiven Rechts verlassen oder doch kräftig dehnen, darf bezweifelt werden – die Folgen sind im Allgemeinen weniger dramatisch.
Carl von Ossietzky, der Friedensnobelpreisträger für das Jahr 1935 starb bekanntlich 1938 an den Folgen der KZ-Haft, Berthold Jacob sollte zwei Mal von Gestapo-Agenten aus dem neutralen Ausland entführt werden – 1935 und 1941 – die zweite illegale Haft überlebte er nicht.
Auf diese Märtyrer des deutschen Journalismus haben sich in der so genannten Spiegel-Affäre Journalisten und auch ein leibhaftiger Senatspräsident des Bundesgerichtshofs positiv bezogen. Vor dieser moralischen Wende – in den Gründerjahren der Republik – bewegte sich das Nachrichtenmagazin in Geheimdienstkreisen, die dem "Tiefen Staat" näher waren als den Helden der eigenen Zunft.
Davon aber mehr in Folge 2.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Journalisten vor Gericht (1. Teil): Der "Tiefe Staat" in Deutschland . In: Legal Tribune Online, 14.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7304/ (abgerufen am: 01.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag