Am 19. Februar 1957 wies das BVerfG die Beschwerde eines Ex-Gestapo-Beamten ab, der sich zu Unrecht von der Wiederbeschäftigungspraxis der jungen BRD ausgeschlossen sah. So legten sich die Verfassungsrichter auch mit BGH und Literatur an.
Dass Marion Freisler (1910–1997), die Witwe des 1945 bei einem US-Luftangriff auf Berlin getöteten Präsidenten des Volksgerichtshofs, zu Zeiten der Bundesrepublik nicht nur eine Witwenrente bezog, dürfte inzwischen fast zum Allgemeinwissen zählen. Ebenso, dass diese noch 1974 mit Blick auf jene juristische Karriere erhöht wurde, die ihr Mann Roland Freisler im Überlebensfall noch zu vergegenwärtigen gehabt hätte.
Während im Freistaat Bayern die Versorgung der Witwe Freisler eher diskret geregelt wurde, gerieten die Ansprüche von Lina Heydrich (1911–1985), Witwe des 1942 bei einem Attentat in Prag getöteten Reinhard Heydrich, früh zum öffentlichen Streitgegenstand. Mit Urteil vom 27. Juni 1958 (Az. L4 W 1014, 1015/54) bestätigte das Landessozialgericht Schleswig ihren Anspruch auf Kriegsopferversorgung. Ihr Mann, Organisator der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, war Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und General der Polizei gewesen. Die Rentenansprüche orientierten sich am Rang, seine Tötung im Rahmen der "Operation Anthropoid" galt als kriegsbedingt versor-gungspflichtig.
Beide Fälle zeigen: Anders als es man es moralisch sehen mag, kannte das Recht der Kriegsopferversorgung keinen Ausschluss aufgrund von Unwürdigkeit eines NS-Beamten.
Das änderte sich erst mit dem "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" ("131er-Gesetz"), das unter anderem einen Teil der vormaligen Beamten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) von Versorgungs- und Wiedereinstellungsansprüchen ausschloss – jedenfalls auf den ersten Blick.
Das "131er"-Gesetz zur Eingliederung abgelegter Beamter
Artikel 131 Grundgesetz (GG) gab dem Bundesgesetzgeber auf, die Rechtsverhältnisse von Beamten sowie Arbeitern und Angestellten zu regeln, die am Tag des Kriegsendes "im öffentlichen Dienste standen" und "aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen" ausgeschieden waren, soweit sie bisher noch nicht wieder in einem Dienstverhältnis untergebracht waren, das ihrer früheren Position entsprach.
Angesichts von Millionen Flüchtlingen und dem einschneidenden Wandel der Staatstätigkeit mit Ende des NS-Regimes fanden sich naturgemäß zahllose Beamte außer Dienst gestellt. Während viele Beamte kraft Anordnung der Besatzungsmächte weiterhin am Platz blieben, wurden namentlich Gestapo-Beamte und solche anderer "Sicherheitsbehörden" freigesetzt – sofern die Geheimdienste der Siegermächte sie nicht im Einzelfall zu eigenen Bedürfnissen rekrutierten.
Ex-Gestapo-Mann provoziert juristischen Streit
Mit Beschluss vom 19. Februar 1957 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Sache eines früheren Kriminalassistenten bei der Gestapo Stuttgart, Außenstelle Sigmaringen (Az. 1 BvR 357/52), der noch keine Anstellung gefunden hatte, die seinem alten Dienstrang entsprochen hätte.
Er sah sich daher verfassungswidrig in seinem Gleichstellungsanspruch verletzt, weil § 3 Nr. 4 des 131er-Gesetzes vormalige Gestapo-Beamte von den Leistungen ausschloss, die das erste Kapitel des Gesetzes für die übrige Beamtenschaft vorsah, die infolge des Kriegsendes vorübergehend nicht beschäftigt werden konnte.
Zu den gesetzlichen Wohltaten zählte es etwa, die Bezeichnung eines "Beamten zur Wiederverwendung" führen zu dürfen, ein Versorgungsanspruch sowie das Recht, von der Unterbringungspflicht der westdeutschen Dienststellen zu profitieren. Diese waren verpflichtet, die freigesetzten Beamte im Gegenwert von mindestens 20 Prozent ihres jeweiligen Besoldungsaufwands in Dienst zu nehmen oder einen Ausgleich zu zahlen.
Der vormalige Gestapo-Beamte war zwar nach einigen Jahren Arbeit in der Landwirtschaft wieder in ein öffentliches Dienstverhältnis gekommen, nämlich als Beamter auf Widerruf bei der Post – aber das war nun keine privilegierte "Wiederverwendung" nach dem 131er-Gesetz.
2/2: Ausschluss von NS-Beamten eine "Kollektivstrafe"?
Die Spruchkammer im sogenannten Entnazifizierungsverfahren hatte dem später zum Postbeamten avancierten Ex-Gestapo-Mann attestiert, ein "Mitläufer" gewesen zu sein. Damit griff aber kein Ausschluss von den Vorzügen des 131er-Gesetzes aus Gründen persönlicher Belastung, sondern allein der generelle Vorbehalt gegen Gestapo-Beamte.
Die Verfassungsbeschwerde des Mannes argumentierte, dass der Ausschluss aller früheren Gestapo-Angehörigen von den Leistungen des 131er-Gesetzes "eine verfassungswidrige Kollektivstrafe" sei, die ihn in seinen Gleichheitsrechten verletze: Da er nur eine untergeordnete Tätigkeit bei der Gestapo ausgeübt und eine ordnungsmäßige Laufbahnausbildung als Beamter genossen habe, könne er weder den "Polizeipotentaten" des "Dritten Reiches" noch jenen "zahlreichen nicht vorgebildeten Elementen" gleichgestellt werden, die nach 1945 in den Staatsdienst aufgenommen worden seien, fasst das BVerfG den Vortrag des Ex-Gestapo-Beamten in seinem Beschluss zusammen.
Dass sich der Beschwerdeführer auf den Gleichheitssatz des GG berief, wurde vom BVerfG nachgerade dankbar aufgegriffen, bot es den Richtern doch Gelegenheit, nochmals Aussagen zur Stellung des Beamten im Wechsel vom NS-Staat zur Ordnung der Bundesrepublik Deutschland treffen zu können – um sich damit gegenüber dem Bundesgerichtshof (BGH) und der rechtswissenschaftlichen Literatur in Stellung zu bringen.
BVerfG gegen BGH und Literatur
Vereinfacht formuliert bestand der Konflikt unter den hohen Gerichten der deutschen Jurisprudenz in Folgendem: Der BGH und namhafte Professoren des öffentlichen Rechts gingen davon aus, dass eine Art festes Wesen des Berufsbeamtentum trotz der Umbrüche während der NS-Zeit fortbestanden habe. Ein Ausschluss aus diesem heiligmäßigen Kreis der deutschen Beamtenschaft wäre dann nur bei Nachweis persönlicher Schuld möglich gewesen oder allenfalls dann, wenn die NSDAP einem ihrer Leute zusätzlich zu seiner Parteifunktion noch ein damit verbundenes Beamtenverhältnis geschenkt hätte.
Dagegen argumentierte das BVerfG: "Nicht die parteipolitisch 'neut-ralen' vornationalsozialistischen Beamtenverhältnisse haben bis zum 8. Mai 1945 bestanden und sind zu diesem Zeitpunkt erloschen, sondern die durch die nationalsozialistische Gesetzgebung umgestalteten Beamtenverhältnisse nationalsozialistischer Prägung. Die ursprünglich in parteipolitischer Neutralität allein zum Staate bestehenden Beamtenverhältnisse waren in der Tat zu einem weit vor dem 8. Mai 1945 liegenden Zeitpunkt beseitigt, d.h. zu Beamtenverhältnissen nationalsozialistischer Prägung umgestaltet worden."
Gegen die Konstruktion eines überzeitlichen Beamtentums erklärten die Verfassungsrichter: "Es ist ein begriffsjuristischer Irrweg, von einem gewissermaßen über- oder vorstaatlichen Begriff des Berufsbeamtentums auszugehen und von dieser Grundlage aus die rechtliche Unmöglichkeit einer inhaltlichen Umgestaltung oder die Unmöglichkeit grundsätzlich verschiedenartiger rechtlicher Gehalte von Beamtenverhältnissen eines konkreten Staates zu folgern." Kurzum: Staatliche Systeme könnten sehr wohl die Regeln und Voraussetzungen für das Beamte ändern, so das BVerfG – was in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft eben passiert ist.
Ausschluss nur Symbolpolitik
Diese Annahme eines an seiner Substanz von rechtsstaatlichen Regeln losgelösten, an sich schadhaften NS-Beamtenverhältnisses erlaubte dem Bundesverfassungsgericht, frühere Gestapo-Beamte von Gleichheitserwägungen nach Art. 3 GG grundsätzlich auszunehmen.
Mit seiner Auffassung zum Beamtenstatus zwischen 1933 und 1949 öffnete das BVerfG dem Gesetzgeber damit freilich Spielräume, die den politischen Zielen der Bundesregierung zuwiderliefern – gutes Personal war eben auch damals schwer zu finden.
Darüber hinaus war etwa der Ausschluss der vormaligen Gestapo-Beamten von den Vorzügen des 131er-Gesetzes bereits gar nicht so weitgehend, wie der Streitfall nahelegte: § 67 des 131er-Gesetzes schrieb vor, dass für Beamte, die aus einer anderen Dienststelle zur Gestapo, der Waffen-SS oder dem Abhördienst versetzt worden waren, zu fingieren sei, in ihrer ursprünglichen "sauberen" Behörde geblieben zu sein. Nach § 72 waren auch Gestapo-Leute bei der Rentenversicherung nachzuversichern.
Da die 1933 gegründete Geheime Staatspolizei vielfach Personal aus anderen, vermeintlich "unbefleckten" Polizeibehörden rekrutiert hatte, negierten die §§ 67, 72 des 131er-Gesetzes einen Gutteil dessen, was der Gestapo-Ausschluss in seinem § 3 zu versprechen schien – klassische Symbolpolitik.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freischaffender Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Das "131er-Gesetz": Die Inklusion von NS-Beamten . In: Legal Tribune Online, 19.02.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22140/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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