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48551

Reform der Wiederaufnahme bei schwersten Straftaten: Ums­trit­tene StPO-Vor­schrift wird in Karls­ruhe geprüft

von Hasso Suliak

24.05.2022

Hände eines Häftlings

Ist der Freispruch unter Vorbehalt für Mordverdächtige von der Verfassung gedeckt? Das überprüft jetzt das BVerfG. Foto: kwanchaift - stock.adobe.de

Darf ein vom Mordverdacht rechtskräftig Freigesprochener wegen derselben Tat erneut angeklagt werden? Der neue § 362 Nr. 5 StPO sieht das vor. Ob die Vorschrift verfassungskonform ist, wird jetzt das BVerfG klären.

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Womit viele gerechnet hatten, ist jetzt amtlich: Der seit Ende Dezember geltende, äußerst umstrittene § 362 Ziff. 5 Strafprozessordnung (StPO), der die Wiederaufnahmemöglichkeiten von Strafverfahren gegen Freigesprochene ausweitet, wird vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) überprüft. Möglich macht dies eine Verfassungsbeschwerde, die die Hamburger Kanzlei Schwenn & Kruse für den des Mordes an der 17-jährigen Frederike von Möhlmann verdächtigten Ismet H. eingelegt hat. Diese ist vergangenen Donnerstag in Karlsruhe eingegangen.  

Gegenüber LTO bestätigte das BVerfG am Dienstag den Eingang der Beschwerde (Az. 2 BvR 900/22). Da H. seit Ende Februar nach einem Beschluss des Landgerichts (LG) Verden in U-Haft sitzt, haben seine Anwälte die Verfassungsbeschwerde zudem mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Der Haftbefehl gegen H. soll außer Kraft gesetzt werden, bis über die Hauptsache – und damit über die Verfassungsgemäßheit von 362 Ziff. 5 StPO – entschieden wurde.

OLG Celle hatte nichts zu beanstanden

Die von dem bekannten Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn und seinen Kollegen Dr. Yves Georg und Leon Kruse eingereichte Verfassungsbeschwerde richtet sich formal gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle (OLG) vom 20. April 2022 (Az. 2 Ws 62/22). Das OLG wiederum hatte die Beschwerde des früheren Angeklagten gegen eine zuvor ergangene Entscheidung des LG Verden – mit der das Wideraufnahmeverfahren gegen ihn eingeleitet und zudem U-Haft verhängt wurde - zurückgewiesen und ausführlich bekräftigt, dass es § 362 Ziff. 5 StPO für verfassungskonform hält.  

Die neue Wiederaufnahme-Regelung sieht vor, dass u.a. in Fällen von Mord oder Völkermord eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten möglich ist – wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt. Davor konnte ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wieder aufgenommen werden. Nämlich dann, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt.  

Im Prozess um die Tötung der 17-jährigen Frederike von Möhlmann hatte das Landgericht (LG) Stade den Angeklagten nach Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof im Jahr 1983 rechtskräftig freigesprochen. § 362 Ziff. 5 StPO macht es nun möglich, dass er wegen desselben Tatvorwurfs doch verurteilt werden könnte.  

Vorrang für materielle Gerechtigkeit?

Nach dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft soll er 1981 Frederike von Möhlmann aus Hambühren (Landkreis Celle) vergewaltigt und getötet haben. Im Jahre 2012 gefundene Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip der Getöteten sollen ihn belasten. Neues Beweismittel ist also eine molekulargenetische Untersuchung (DNA-Probe), die viele Jahre nach Abschluss des Strafverfahrens durchgeführt wurde.

Ob § 362 Ziff. 5 StPO nunmehr verfassungskonform ist, gilt als äußerst umstritten. Nach Ansicht von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen, Anwaltsverbänden, des Bundesjustizministeriums (BMJ) und zuletzt sogar des Bundespräsidenten könnte die Vorschrift gegen den Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verbrieften Grundsatz "ne bis in idem" ("nicht zweimal in derselben Sache") verstoßen.  

Andere Juristen wiederum halten die Vorschrift wegen ihres Ausnahmecharakters für rechtmäßig. Sie hatten – wie auch das OLG Celle zuletzt – darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nur für Fälle denkbar schwerster Straftaten eine eng umrissene Ausnahmekonstellation geschaffen habe, der unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit eine herausragende Bedeutung zukomme und die sich im Rahmen der vom BVerfG dem Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit der Weiterentwicklung des Art. 103 Abs. 3 GG bewege.

Wartet die Politik jetzt auf die Entscheidung des BVerfG?  

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte im Januar eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Vorschrift angekündigt. Ein Antrag Hamburgs, § 362 Ziff. 5 StPO aus dem Gesetz zu streichen, findet sich auch auf der Tagesordnung der für Anfang Juni anstehenden Justizministerkonferenz in Bayern.

Möglich ist aber nun, dass die Politik erst den Ausgang des in Karlsruhe anhängigen Verfahrens abwarten wird.

Beteiligte Kanzleien

Schwenn & Kru­se

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Reform der Wiederaufnahme bei schwersten Straftaten: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48551 (abgerufen am: 13.06.2025 )

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