Nach den Anschlägen in Paris hat Deutschland die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Bayern will die Grenze zu Österreich kontrollieren, die Polizei mehr Vorratsdatenspeicherung. Staatliche Schutzpflicht oder Gefahr für den Rechtsstaat?
Als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris werden in Deutschland die Sicherheitsmaßnahmen massiv erhöht. Die Polizei des Bundes und der Länder ist in Alarmbereitschaft, insbesondere Rheinland-Pfalz und das Saarland halten ihre Beamten entlang der Grenze zu Luxemburg und Frankreich dazu an, Maschinenpistolen und Schutzwesten mit sich zu führen.
Gemeinsam mit den Nachrichtendiensten werde die Beobachtung islamistischer Gefährder intensiviert, kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am Samstagabend in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner Spezial" an. Bayerns Ministerpräsident will die bayerische Schleierfahndung hinter der Grenze "maximieren", die Kontrollen an der österreichischen Grenze durch die Bundespolizei verschärfen und den Zuzug weiterer Flüchtlinge begrenzen. Unterstützung erhält Horst Seehofer (CSU) von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU).
Auch Florian Albrecht, Akademischer Rat auf Zeit an der Universität Passau und Wissenschaftler am dortigen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht*, hält zumindest schärfere Kontrollen an der Grenze zu Österreich für dringend notwendig und fordert weitergehende Vorkehrungen, die er mit der grundgesetzlichen Schutzpflicht begründet. Für Dr. Denis Basak, Akademischer Rat am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie in Frankfurt am Main, sind das nicht nur Überreaktionen, sondern auch Vermischungen von Dingen, die nichts miteinander zu tun hätten.
Mehr Polizei, mehr Waffen - mehr Sicherheit?
Denis Basak, der in Frankfurt deutsches und internationales Straf- und Strafprozessrecht sowie Rechtsdidaktik lehrt, kann nachvollziehen, dass Bundesjustizminister Heiko Maas auch eine quantitative und qualitative temporäre Aufrüstung ankündigte.
Derzeit werde immer noch nach Verdächtigen der Anschläge in Paris gefahndet und um sie zu fassen, seien auch verschärfte Methoden der Strafverfolgung angemessen, so der Strafrechtler. Zudem müssten die Bürger vor diesen hochgefährlichen Tätern geschützt werden.
Sicherheitsrechtler Albrecht hingegen hält solche präventivpolizeilichen Maßnahmen für nicht zielführend, denn auch in der Vergangenheit hätten sie sich – genau wie die Vorratsdatenspeicherung - wiederholt als unwirksam erwiesen. "Europäische Sicherheitsbehörden haben auf ganzer Linie versagt. Jetzt die Sicherheitsvorkehrungen zu intensivieren und die Polizei martialisch zu bewaffnen, nützt vielleicht dem Sicherheitsgefühl der Bürger, verhindert aber keine Anschläge", so Albrecht.
Bayern will Einlass von Flüchtlingen stoppen
Anstatt sich stark auf die Sicherung der Grenze nach Frankreich zu fokussieren, solle die Regierung besser die Grenze auf der anderen Seite des Landes stärker kontrollieren, fordert der Passauer Albrecht im Einklang mit der Regierung des Freistaats. "280.000 unregistrierte Personen befinden sich derzeit im Land, Tendenz steigend. Weiterhin unregistrierte illegale Einwanderer hineinzulassen, ist unverantwortlich. Wir müssen wissen, wer einreist, wer sich wo aufhält und mit welcher Intention."
Anlass für die Forderungen aus Bayern ist zum einen die Festnahme eines Waffenschmugglers aus Montenegro auf der A8 bei Rosenheim, der am 5. November auf dem Weg nach Frankreich gewesen sein soll. Sicherheitsbehörden prüfen derzeit, ob die bei ihm gefundenen Waffen für die Pariser Attentäter oder andere Terroristen bestimmt waren. Nach dem Bericht einer serbischen Zeitung soll außerdem mindestens einer der acht bislang bekannten Attentäter auf der Balkanroute der Flüchtlinge über Deutschland nach Frankreich gelangt sein.
Seehofer will zwar nach eigener Aussage die Flüchtlingspolitik von der Terrorismusbekämpfung trennen. Seine Forderung im Internet, man müsse sich "umgehend wieder Klarheit verschaffen, wer in unser Land kommt, wer durch unser Land fährt und wer sich hier aufhält", erhob der Ministerpräsident allerdings unmittelbar nach den Anschlägen von Paris.
Populistische Vermengung?
Denis Basak sieht trotz der gegenteiligen Beteuerung des bayerischen Landeschefs die Gefahr, dass Flüchtlinge mit möglichen Gefährdern gleichgesetzt werden. Das hält er für "eine populistische Vermengung ganz verschiedener Dinge, die nur der Stigmatisierung und Ausgrenzung derer dient, die schon alles verloren haben und Schutz und ein Leben ohne Fassbomben und wild gewordene Fanatiker suchen".
Stärkere Grenzkontrollen oder eine Begrenzung des Zustroms mögen politisch gewollt sein, so Basak. "Ob sie und auch der Versuch, die Identität von Einreisenden sofort zu erfassen, möglicherweise als Fahndungs- und Präventionsinstrumente beispielsweise gegen Waffenschmuggel einen Sinn haben, das müssen Fachleute beurteilen. Zur Terrorprävention ist dieses Mittel aber weder geeignet noch erforderlich", stellt der Strafrechtler klar.
Er hält es für "wenig plausibel, die Flüchtlinge fernhalten zu wollen, um den Terrorismus zu bekämpfen - angesichts der vielen Menschen mit EU-Pässen, die für den IS kämpfen, die zunächst einmal ein Recht auf Einreise haben und die sicher viel eher als "Gefährder" anzusehen sind als die Masse derer, die genau vor diesen Islamisten flieht. Es gibt bislang keinen festgestellten Zusammenhang zwischen den Flüchtlingsströmen nach Europa und den Anschlägen in Paris.
Nötig hätten die IS-Terroristen es nicht, den lebensgefährlichen Landweg hinter sich zu bringen – wenn sie nicht ohnehin die Staatsangehörigkeit eines europäischen Mitgliedstaats haben, hat die Organisation genügend Geld, um gefälschte Pässe zu besorgen.
2/2: Grenzkontrolle als Staatspflicht?
Das sieht Sicherheitsrechtler Albrecht anders: Man müsse auf die derzeitige Gefahrenlage, die durch die Unwissenheit der staatlichen Stellen entstehe, reagieren, anstatt sie zusätzlich zu fördern. Zwar wisse man nicht, ob eine Registrierung von Flüchtlingen und die Durchsetzung geltenden Rechts an den Grenzen einen Schaden verhindert hätte –"durch die Aushebelung des Rechtsstaats aber wurde die Gefahr für unsere Gesellschaft jedenfalls erhöht", meint Albrecht.
Geltende internationale und nationale Regelungen zur Einreisekontrolle würden auf die täglich eintreffenden Flüchtlinge aus Nahost nicht angewandt, so der Passauer Lehrbeauftragte. Dieser Rechtsbruch werde durch staatliche Stellen zumindest gefördert. "Unter dem Deckmantel der ‚Humanität‘" wolle die Regierung jedes Gegenargument totschlagen. "Der Rechtsstaat dient und schützt aber gerade den Menschen. Und ohne einen Rechtsstaat, der geltendes Recht beachtet, kann es auch keine 'Humanität' geben."
Die europäische und die deutsche Außengrenze zu sichern und sogar zu schließen, solange es unmöglich ist, die Menschen zu erfassen, hält er für "das Recht eines souveränen Staates und eine rechtsstaatliche Pflicht".
Aus den Grundrechten und den Staatszielbestimmungen des Staates ergäben sich dessen Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern. Weil diese sich seinem Gewaltmonopol unterwerfen, müsse der Staat sie als Gegenleistung vor Dritten schützen, welche sie vielleicht sogar töten wollen, so Albrecht.
Staatliche Schutzpflicht oder Unterminierung des Rechtsstaats?
Denis Basak hält diese Argumentation auf staatsrechtlicher Ebene für zweifelhaft. Er betont, dass die sog. Schutzpflichten unter Juristen seit Jahrzehnten stark umstritten sind: "Die Grundrechte sind als Freiheits- und Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat konzipiert. Eine Schutzpflicht des Staates würde sich ja gegen andere Bürger des Staates richten, denen gegenüber man die Freiheitsrechte quasi umdrehen und gegen sie richten würde."
Florian Albrecht will das nur für Menschen gelten lassen, die bereits Bürger dieses Landes sind. Er setzt nicht erst bei polizeilichen oder Überwachsungsmaßnahmen an: Die primäre Schutzpflicht des Staates sieht er darin, "mögliche Gefährder erst gar nicht ins Land zu lassen". Wenn wirksame Maßnahmen bereits an der Grenze getroffen würden, blieben die Bürger im Land von Eingriffen geschont. Das sei eine aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgende Pflicht zum Einsatz des mildesten Mittels "gegenüber unserer Bevölkerung und nicht Dritten gegenüber – denn Dritte sind nicht Teil des Gesellschaftsvertrages".
Basak hingegen weist darauf hin, dass zu Deutschlands völkerrechtliche Pflichten auch "oder vielleicht sogar an erster Stelle" die Achtung der Menschenrechte zähle, zu denen es auch gehört, Flüchtlinge aufzunehmen, zu beschützen und zu versorgen. Auch seien die Grundrechte - außer 8, 9, 11, 12, 16 GG - schon vom Wortlaut her ganz überwiegend keine "Deutschenrechte".
"Die Rechte von Nichtdeutschen per se für unbeachtlich erklären zu wollen, so lange wir sie draußen halten, erscheint mir gelinde gesagt zynisch"; so Basak. Mit dieser Argumentationsstruktur habe auch die Regierung unter George W. Bush versucht, die völlige Rechtlosigkeit der Gefangenen auf dem Stützpunkt Guantanamo auf Kuba zu begründen - "der Supreme Court der USA sah dies dann übrigens ganz anders". Einräumen muss Basak, dass ein pluralistischer, offener Rechtsstaat keine absolute Sicherheit garantieren könne: "Das Lebensrisiko allein rechtfertige es nicht, Rechte einzuschränken – das würde letztlich den Rechtsstaat, den wir verteidigen wollen, unterminieren".
"Die lange Vorratsdatenspeicherung hat auch in Frankreich nicht geholfen"
Einig ist er sich mit Sicherheitsrechtler Albrecht aber in der Beurteilung der bereits erhobenen Forderung nach einer Verschärfung der Vorratsdatenspeicherung. Kurz nachdem ihre Wiedereinführung vom Bundestag beschlossen wurde, forderte u.a. der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, am Wochenende in der Rheinischen Post eine längere Speicherung der Verbindungsdaten als die nun beschlossenen zehn Wochen. Basak und Albrecht halten das für nicht effektiv und daher nicht verfassungsgemäß.
Beide verweisen auf die in Frankreich schon länger geltende zweijährige Speicherfrist, die zukünftig – nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 - auf fünf Jahre ausgedehnt werden soll. "Selbst wenn man auf die nachträgliche Strafverfolgung abstellt, lässt sich aus der Erfahrung sagen, dass jegliche Spuren nach mehr als zehn Wochen ohnehin "kalt" sind," so Basak.
Mit Materialien von dpa
* die zunächst verwendete Personalbezeichnung "Wissenschaftlicher Mitarbeiter" wurde nachträglich durch die richtige Bezeichnung "Wissenschaftlicher Rat" ersetzt.
Anne-Christine Herr und Pia Lorenz, Nach dem Terror in Paris: Mehr Polizei, mehr Grenzkontrollen, mehr Vorratsdatenspeicherung? . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17554/ (abgerufen am: 06.12.2023 )
Infos zum Zitiervorschlag