Muss der bayerische Verfassungsschutz besser kontrolliert werden, darf die EU Schulden machen und was sagt Karlsruhe zur Impfpflicht? Auch 2022 gab es wichtige Fragen zu klären – eine interessante Entscheidung fiel allerdings aus.
Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), die jeder gerne gesehen hätte, fiel aus: Jan Böhmermann scheiterte mit seiner Verfassungsbeschwerde, die 2. Kammer des Ersten Senats nahm sie ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Böhmermanns Schmähgedicht gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist zwar schon fast sieben Jahre her, aber der Fall hätte immer noch eine spannende Frage aufgeworfen: Sind die darin gesammelten Beleidigungen als solche zu verstehen oder als Satire zulässig, weil der Texteben darauf abzielt, Erdogan die tatsächlichen Grenzen der Meinungsfreiheit aufzuzeigen? Man weiß es nicht. Dass Karlsruhe kein Wort dazu verlor, war aber schon ungewöhnlich, zumal das Gericht vorab Stellungnahmen eingeholt hatte. Möglich, dass man sich in dieser Frage schlicht auch in Karlsruhe nicht einigen konnte.
Zu der Frage, wer über wen was sagen darf, hatte das BVerfG aber ansonsten 2022 einiges mitzuteilen – so ging es um Merkels Äußerungen zur Kemmerich-Wahl in Thüringen und um Hasskommentare gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast. Neben anderen wichtigen Entscheidungen wie etwa zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz, dem Corona-Aufbaufonds der EU und Fragerechten des Bundestags.
Wer mit wem worüber redet, sorgte dagegen für Ärger, genau genommen: Ein Abendessen der Bundesverfassungsrichter mit den Mitgliedern der Bundesregierung im Sommer 2021. Abendessen an sich sind nicht unüblich, dass Gerichtspräsident Stephan Harbarth mitten in der Corona-Pandemie das Thema "Entscheidung unter Unsicherheiten" auf die Agenda setzte, war aber mindestens ungeschickt. Eine BILD-Journalistin wollte darüber genaueres wissen und wurde von der Pressestelle abgebügelt – bekam dann aber vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe Recht. Das BVerfG hätte ihre Fragen beantworten müssen (VG Karlsruhe, Beschl. V. 14.06.2022, Az. 4 K 233/22). Besonders blamabel: Das BVerfG gab für die Rechtsberatung 33.528 Euro aus – eine Summe, die schwer zu erklären ist.
Einen neuen Kollegen bekam das BVerfG im vergangenen Jahr dazu: Der Bayreuther Professor Heinrich Amadeus Wolff wurde Nachfolger von Andreas Paulus. Das war der Anfang von einem großen Umbruch: Gerade erst hat der Bundestag drei weitere künftige Verfassungsrichter gewählt: Rhona Fetzer und Thomas Offenloch rücken im Zweiten Senat für Monika Hermanns und Peter Huber nach, Martin Eifert soll auf Susanne Baer folgen, deren Amtszeit im Februar 2023 endet. Gegen Ende des kommenden Jahres enden außerdem die Amtszeiten von Peter Müller und Sibylle Kessal-Wulf.
Wenn der Bundestag mehr wissen will
Was macht eigentlich der Verfassungsschutz, eigentlich als "Inlandsgeheimdienst" vorgesehen, im Ausland? Das wollte der Jurist und FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle wissen – eigentlich schon 2020. Damals war die FDP im Bundestag in der Opposition und Kuhle stellte eine schriftliche Anfrage, bekam aber keine Antwort. Die Bundesregierung berief sich auf die sogenannte "Mosaiktheorie": Auch kleinste Informationsschnipsel über die Arbeit Verfassungsschutzes könnten interessierten ausländischen Nachrichtendiensten behilflich sein.
Das sei zwar schon möglich, meinte der Zweite Senat, dürfe aber nicht dazu führen, dass Abgeordnete keine Informationen erhielten (Urt. v. 14.12.2022, Az. 2 BvE 8/21). In diesem Fall sei nämlich nicht ersichtlich, inwiefern die begehrte Auskunft die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes beeinträchtige. Die Bundesregierung müsse zumindest begründen, warum sie bestimmte Fragen nicht beantworte. Es reiche auch nicht aus, Fragen nur im Parlamentarischen Kontrollgremium zu beantworten. Denn die Mitglieder dieses Gremiums erfahren zwar mehr als andere Abgeordnete, müssen die Informationen aber eben auch geheim halten.
Und falls das noch nicht deutlich genug war, schob der Zweite Senat im Oktober in einem Urteil zur EU-Sicherheitspolitik noch ein paar unmissverständliche Sätze zu diesem Punkt hinterher: Die Verpflichtung der Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG gegenüber dem Bundestag werde nur erfüllt, wenn die Informationen allen Abgeordneten und damit auch der Öffentlichkeit frei zugänglich sind (Urt. v. 26.10.2022, Az. 2 BvE 3715 und BvE 7/15). Der Bundestag sei gerade dazu da, öffentlich zu diskutieren.
Die EU darf Schulden machen
"Next Generation EU" heißt das Programm, mit dem die EU die Wirtschaft nach der Corona-Pandemie wieder aufbauen will. 750 Milliarden Euro sollen insbesondere in Digitalisierung und Klimaschutz investiert werden. Dazu will die EU jedoch erstmals in großem Umfang Kredite aufnehmen – darf sie das?
Der Bundestag hatte mit dem sogenannten Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz einer deutschen Beteiligung an dem Aufbaufonds zugestimmt. Karlsruhe verzichtete diesmal auf einen neuerlichen Clash mit den europäischen Institutionen und entschied mit 6:1 Stimmen: Ja, das geht, obwohl es nicht ausdrücklich in den Verträgen steht (Az. Urt. v. 6. 12.2022, 2 BvR 547/21, 2 BvR 798/21). Eine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms sei darin nicht zu erkennen, die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages nicht beeinträchtigt.
Allerdings betonte der Zweite Senat auch, dass es sich um eine Ausnahme handele und zeichnete schon mal vor, dass ein dauerhaftes Schuldenmachen dann eben doch offensichtlich unzulässig sein könnte. Die ganz strenge bisherige Karlsruher Linie vertrat jedoch nur noch Verfassungsrichter Peter Müller. Er schrieb in seinem Sondervotum, die Senatsmehrheit verweigere den Dialog der europäischen Verfassungsgerichte, nehme eine Verletzung der Integrationsverantwortung in Kauf und deute einen Rückzug des Senats aus der materiellen Ultra-vires-Kontrolle an. In Brüssel und Luxemburg dürfte man die Entscheidung eher als dialogförderlich ansehen.
Was Bundeskanzlerin Merkel nicht hätte sagen dürfen
Dass sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich im Februar 2020 mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen ließ, sei "unverzeihlich", ein "schlechter Tag für die Demokratie" und müsse "rückgängig gemacht werden". Das sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Pressekonferenz in Pretoria mit Blick auf die innenpolitische Lage – immerhin stand die große Koalition in Berlin auf der Kippe, falls die CDU sich an dieser Kemmerich-Regierung mit Unterstützung der AfD beteiligen sollte. Zwei Tage später trat Kemmerich zurück.
Die AfD warf Merkel allerdings vor, sie habe mit diesen Aussagen ihre Amtsautorität für parteipolitische Äußerungen missbraucht und die Chancengleichheit der AfD im politischen Wettbewerb verletzt. Zweieinhalb Jahre später, Merkel ist längst nicht mehr im Amt, entschied der Zweite Senat über das Organstreitverfahren – und gab der AfD Recht (Urt. v. 15.06.2022, Az. 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20).
Merkel hätte explizit deutlich machen müssen, dass sie sich nicht als Kanzlerin, sondern als "Parteipolitikerin oder Privatperson" äußere. Der bloße Hinweis auf eine Äußerung aus "innenpolitischen Gründen" genüge dafür nicht. Sie habe damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt und das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
Die Entscheidung lag zwar auf der bisherigen Linie der Karlsruher Rechtsprechung, aber sie fiel mit 5:3 Stimmen knapp aus. Ein Sondervotum verfasste die Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein. Ihrer Ansicht nach liegt der Zweite Senat mit seiner Neutralitätserwartung schlicht falsch: Regierungsarbeit sei in einer Demokratie stets politisch und in einer Parteiendemokratie eben parteipolitisch geprägt.
Die Impfpflicht, die Omikron-Welle und die Masern
Monatelang wurde über eine allgemeine Impfpflicht gegen COVID-19 diskutiert – natürlich stets mit dem Hinweis, was denn Karlsruhe dazu sagen würde. Dann hatte sich das Thema politisch erledigt, nur eine einrichtungsbezogene Impfpflicht verabschiedete die Ampel-Koalition im Dezember 2021. Beschäftige in Pflegeheimen, Krankenhäusern und andere medizinischen Einrichtungen müssen nachweisen, dass sie geimpft sind, sonst droht ein Beschäftigungsverbot bzw. ein Bußgeld.
Eine Verfassungsbeschwerde dagegen wies das BVerfG zurück (Beschl. v. 27.04.2022, Az. 1 BvR 2649/21). Es handele sich um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und in die Berufsfreiheit, der sei aber zum Schutz älterer, kranker und pflegebedürftiger Menschen gerechtfertigt. Angesichts der Omikron-Welle und weiterer Varianten blieb zwar unklar, ob die Impfung auch das Ansteckungsrisiko wesentlich senkt oder letztlich nur vor schweren Krankheitsverläufen schützt. Der Erste Senat verwies jedoch auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.
Kurz darauf beschäftigte dann die Impfpflicht-Frage erneut den Ersten Senat, allerdings ging es um eine geradezu altmodische Viruserkrankung: Auch die Masern-Impfpflicht für alle Kindergarten- und Schulkinder und alle Beschäftigten an Schulen und Kitas ist verfassungsgemäß (Beschl. v. 21.07.2022 Az. 1 BvR 469/20 u.a.). Diese Impfpflicht ist zwar so weitgehend, dass sie praktisch schon als allgemeine Impfpflicht gelten kann – allerdings auch dogmatisch leichter zu begründen. Denn bei den Masern ist zumindest klar, dass die Impfung effektiv vor Ansteckung schützt, die Nebenwirkungen des Impfstoffs gering sind und der Gesetzgeber also davon ausgehen darf, auf diese Weise Kinder und Erwachsene zu schützen, die aus medizinischen Gründen keine Impfung bekommen können, während die Interessen lediglich impfunwilliger Eltern dahinter zurücktreten müssen.
Aufräumen in den Verfassungsschutzgesetzen
Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchung, Observationen, Handyortung, der Einsatz von verdeckten Mitarbeitern und Informanten – im April verkündete das BVerfG sein Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz. Schon vorher war aber klar, dass sich das auch auf dem Verfassungsschutzgesetz des Bundes und aller anderen Länder auswirken wird.
Karlsruhe blieb bei seiner Linie: Genau hinschauen, nichts grundsätzlich ausschließen, aber Begrenzungen und Kontrollen einziehen (Urt. v. 26.04.2022, Az. 1 BvR 1619/17). Damit konnte der Erste Senat alle Seiten zufrieden stellen. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Verfassungsbeschwerden koordiniert hatte, bejubelte das Karlsruher Einschreiten, der bayerische CSU-Innenminister Joachim Herrmann, sah den Verfassungsschutz trotzdem insgesamt gestärkt.
Es ging dabei auch um das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten – schon lange wird in liberalen Kreisen kritisiert, dass beide sich zu sehr annähern. Der Erste Senat verlieh dem Trennungsgebot weitere Konturen, machte deutlich, dass für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes spezifische Maßgaben gelten und betonte erneut, dass die Datenübermittlung zwischen Verfassungsschutz und Polizei besonders kritisch zu sehen ist. Wenn es um besonders einschneidende Maßnahmen geht, setzen die Karlsruher Richterinnen und Richter zudem auf externe Kontrollgremien, die die Voraussetzungen für den Einsatz vorab überprüfen.
Bund und Länder haben damit nun zahlreiche Hinweise an der Hand – und müssen ihre Verfassungsschutzgesetze entsprechend überarbeiten.
Ungehorsame Pressekammern
Es gibt Dinge, die muss das BVerfG immer und immer wieder sagen: Etwa, dass die prozessuale Waffengleichheit auch in presserechtlichen Verfahren zu beachten ist. Schon 2018 stellte Karlsruhe klar, dass die Pressekammern beiden Seiten Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss, bevor sie eine einstweilige Verfügung erlassen – also auch der Redaktion bzw. dem Verlag und nicht nur dem Antragsteller, der sich in Persönlichkeitsrechten verletzt sieht und auch, wenn es schnell gehen muss.
Seitdem wiederholen die Karlsruher Richterinnen und Richter das regelmäßig in Kammerbeschlüssen. So hätte das OLG Hamburg den Spiegel anhören müssen, auch wenn dieser von einem Kreuzfahrtunternehmen zuvor abgemahnt worden war (Beschl. v. 11.01.2022, Az. 1 BvR 123/21, veröffentlicht im Februar 2022). Kurz darauf bekam das LG Berlin einen Rüffel, es habe den Anspruch auf prozessuale Waffengleichheit offenkundig verletzt und die Rechtsprechung des BVerfG missachtet (Beschl. v. 11.01.2022, Az. 1 BvR 123/21). Nun gedenkt das BVerfG das offenbar so oft zu wiederholen, bis es bei den Pressekammern angekommen ist. Mit "formelhaften" Ausführungen will man sich nicht zufrieden geben, das legt ein weiterer Beschluss, der ebenfalls das LG Berlin betraf, nahe (Beschl. v. 10.11.2022. Az. 1 BvR 194/22).
Rückendeckung für Renate Künast im Kampf gegen Hasskommentare
Für die Grünen-Politikerin Renate Künast gab es einen Sieg in Karlsruhe im Streit um Hasskommentare im Netz: Das BVerfG hob Beschlüsse des Berliner Kammergerichts (KG) und des LG Berlin auf (Beschl. v. 19.12.2021 Az. 1 BvR 1073/20, veröffentlicht im Februar 2022). Die 2. Kammer des Ersten Senats rügte mit klaren Worten einen falschen Prüfungsmaßstab und fehlende Abwägung. Zunächst hatte das LG Berlin außergewöhnlich beleidigende und sexistische Äußerungen durchgehen lassen, das KG Berlin stufte zwar einige davon als unzulässig ein, ließ aber Kommentare wie "Pädophilen-Trulla" zu.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter stellten klar, dass es bei der Abwägung auch darauf ankommt, ob tatsächlich ein Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geleistet wird oder Stimmung gegen einzelne Personen gemacht wird. Auch Politikerinnen und Politiker müssten vor öffentlicher Hetze in Schutz genommen werden und eine schriftliche und breitenwirksame Äußerung in sozialen Netzwerken könne mehr Gewicht haben, als ein spontaner Ausruf. Das KG musste erneut entscheiden und gab Künast nun vollumfänglich Recht: Die Kommentare waren nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Sollte man kennen: Sieben wichtige BVerfG-Entscheidungen 2022 . In: Legal Tribune Online, 27.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50581/ (abgerufen am: 30.05.2023 )
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