Der Klimaschutz-Beschluss schlug ein wie eine Atombombe, der Mietendeckel war keine Überraschung, auf die Corona-Bundesnotbremse hatten zwar alle gewartet, konnten aber nachher wenig damit anfangen. Und es gab noch mehr aus Karlsruhe.
Das Jahr ist noch nicht vorbei und die Karlsruher Richterinnen und Richter sind auch nicht in den Weihnachtsferien: Für den 28. Dezember ist eine Entscheidung zur sogenannten Triage in der Corona-Pandemie angekündigt. Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen wollen erreichen, dass der Gesetzgeber regelt, wer welche Behandlung erhält, falls in der kommenden Corona-Welle die medizinischen Ressourcen nicht mehr für alle ausreichen sollten.
2021 war das zweite Pandemiejahr und viele hatten erwartet, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine Nebenrolle aufgibt und grundsätzliche Aussagen zur Coronapolitik trifft. Ende November kam dann auch die Entscheidung zur Bundesnotbremse – aus der sich allerdings kaum klare Hinweise an den Gesetzgeber ablesen lassen.
Stattdessen sorgte die Entscheidung, die mündliche Verhandlung zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz im Dezember mit strikten Zugangsregeln (2G++, also geimpft oder genesen und PCR-Test) durchzuführen, für Kritik.
Noch im November hatte man immerhin (auch mit entsprechenden Hygieneregeln) den Festakt zum Präsidentschaftswechsel nachgeholt. Zudem feierte das Gericht seinen 70. Geburtstag – zwar nicht mit Torten, aber mit einer Ausstellung in gläsernen Cubes und einer Diskussionsreihe auf Youtube.
Wir blicken auf sechs wichtige Entscheidungen aus Karlsruhe. Wer wissen will, was die 270 Menschen machen, die neben den berühmten Richterinnen und Richtern am Schlossbezirk 3 arbeiten, dem sei ein Blick in den "Maschinenraum" des BVerfG empfohlen.
1/6: Kaum Leitlinien für eine neue Bundesnotbremse
Eigentlich hatte man das ganze Jahr über darauf gewartet, dass das BVerfG etwas Grundsätzliches zu den Corona-Maßnahmen des Bundes sagt. Am 30. November war es dann so weit: Der 1. Senat verkündete seine Entscheidung zur sogenannten Bundesnotbremse – und erklärte die Schulschließungen und die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen "in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie" für mit dem Grundgesetz vereinbar (Beschlüsse v. 30.11.2021, Az. 1 BvR 781/21, 1 BvR 971/21 u.a.).
Die Karlsruher Richterinnen und Richter bewerteten allerdings die Lage im April. Nun, am Ende des zweiten Pandemiejahres sieht es – mit höheren Impfquoten, aber auch Rekordinzidenzen und einer neuen Virusvariante – schon wieder ganz anders aus. Wer sich klare Grenzen für die Pandemiepolitik oder zumindest deutliche Hinweise an den Gesetzgeber erhofft hatte, wurde enttäuscht.
Die Entscheidungen enthielten aber dennoch viel Stoff für Diskussionen. Die Schulschließungen hatte das BVerfG zwar im Ergebnis für verfassungsgemäß erachtet, dabei aber auch zum ersten Mal ein "Recht auf schulische Bildung" entwickelt. Das wird nicht nur für die weitere Pandemiebekämpfung eine Rolle spielen, sondern auch darüber hinaus wirken.
Scharf kritisiert wurde vor allem, dass die Karlsruher Richterinnen und Richter sogar die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen abgesegnet hatten – als Teil eines Gesamtmaßnahmenpaketes. Ebenfalls umstritten: Dass es keine durchgreifenden Bedenken gegen die Ausgestaltung der Bundesnotbremse als selbstvollziehendes Gesetz gab. Der Staatsrechtler Oliver Lepsius sah darin gar "zerstörerisches Potential für den Verfassungsstaat".
2/6: Es geht um die Zukunft beim Klimaschutz
Die spektakulärste Entscheidung des Jahres war wohl der Beschluss des Erste Senats zum Klimaschutz im April (Beschl. v. 24.03.2021, Az. 1 BvR 2656/18 u.a.).
In Art. 20a GG heißt es, der Staat schütze "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere". Die Karlsruher Richterinnen und Richter erklärten, die zögerliche Klimapolitik bedrohe die Freiheitsrechte künftiger Generationen, der Bund müsse schon bis Ende 2022 näher regeln, wie der Klimaschutz nach 2030 aussehen soll.
Was der Erste Senat in einstimmiger Entscheidung "intertemporale Freiheitssicherung" nannte, brachte der Umweltverfassungsrechtler Rolf-Christian Calliess im Interview mit LTO so auf den Punkt "Wir müssen jetzt handeln, sonst droht später eine Ökodiktatur".
Für die Klimaschutz-Bewegung war die Entscheidung ein großer Erfolg, möglich gemacht hatten sie unter anderem Jugendliche von der Nordseeinsel Pellworm und eine Anwältin aus Bangladesch. Der Beschluss hat auch international Bedeutung: Weltweit sind Klimaklagen vor verschiedenen nationalen Gerichten, aber auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängig.
3/6: 86 Cent mehr für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Dass das BVerfG ein großer Freund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, ist schon lange bekannt. Im Streit zwischen ARD, ZDF sowie Deutschlandradio und dem Land Sachsen-Anhalt sorgte der Erste Senat dann auch relativ schnell für Klarheit und ordnete die umstrittene Erhöhung des Rundfunkbeitrags einfach selbst an (Beschl. vom 20. 7. 2021, Az.: 1 BvR 2756/20).
Die Länder hatten sich eigentlich schon 2020 darauf geeinigt, den Rundfunkbeitrag um 86 Cent auf 18,36 Euro pro Monat zu erhöhen. Dem entsprechenden Staatsvertrag stimmten 15 Landtage zu, nur in Sachsen-Anhalt gab es keine Mehrheit, sodass Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) kurzerhand den Gesetzentwurf zurückzog.
ARD, ZDF und Deutschlandradio legten sofort drei Verfassungsbeschwerden ein. Sie stützen sich darauf, dass das BVerfG im Grundgesetz eine "Garantie funktionsgerechter Finanzierung" verankert sieht. Die Eilanträge wurden zwar kurz vor Weihnachten 2020 abgelehnt, die Entscheidung in der Hauptsache fiel aber - für Karlsruher Verhältnisse mit sehr hoher Geschwindigkeit – schon im August 2021. Und die stärkte den Sendern den Rücken: Ihr Anspruch auf funktionsgerechte Finanzierung sei verletzt, Sachsen-Anhalt habe die Beitragserhöhung "ohne tragfähige Begründung" blockiert.
4/6: Gewählt wird nach dem neuen Wahlrecht, entschieden wird später
Etwas hektisch wurde es kurz vor der Bundestagswahl: Der Zweite Senat hatte über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung von 216 Bundestagsabgeordneten zu entscheiden. Grüne, Linke und FDP wollten verhindern, dass die von der großen Koalition im Oktober 2020 beschlossene Wahlrechtsreform bei der Bundestagswahl angewendet würde. Damit scheiterten sie allerdings.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter hielten es zwar für möglich, dass die vorgesehenen Neuregelungen gegen das Bestimmtheitsgebot sowie das Gebot der Normenklarheit verstoßen könnten und möglicherweise die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien verletzten – für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sahen sie aber keine überwiegenden Gründe (Beschl. v. 20.07.2021, Az. 2 BvF 1/21).
Nun steht zwar noch die Entscheidung in der Hauptsache aus. Faktisch hat die Eilentscheidung jedoch Auswirkungen bis zum Ende dieser Legislaturperiode – denn die Wahl fand nun nach diesen Vorgaben statt. Für 2022 hat die Ampel-Koalition angekündigt, nun selbst eine Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen.
5/6: Keine Chance für den Berliner Mietendeckel
Die Entscheidung zum Mietendeckel war keine wirkliche Überraschung. Schon vorher gab es Zweifel, ob das Land Berlin überhaupt die Kompetenz hatte, das umstrittene Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln) zu erlassen. Der Zweite Senat stellte klar: Hatte es nicht (BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021, Az: 2BvF 1/20, 2BvL 4/20 u. 2 BvL 5/20).
Dabei betonte der Senat, dass die Gesetzgebungskompetenzen abschließend zwischen Bund und Ländern verteilt werden: "Doppelzuständigkeiten sind den Kompetenznormen fremd und wären mit ihrer Abgrenzungsfunktion unvereinbar." Der Bund habe mit der Mietpreisbremse abschließende Regelungen getroffen.
Der Berliner Mietendeckel ging deutlich weiter - er sah einen Mietenstopp vor, mit dem Mieten für rund 1,5 Millionen Wohnungen in Berlin eingefroren werden sollten, legte außerdem bestimmte Mietobergrenzen fest und ermöglichte es, Mieten abzusenken. Die Karlsruher Richterinnen und Richter erklärten das Gesetz für verfassungswidrig und nichtig – dass hieß auch, dass die eingesparten Mieten grundsätzlich nachbezahlt werden mussten.
6/6: EU-Corona-Hilfen – Kein neuer Showdown mit dem EuGH
Ein anderes Verfahren hatte man nicht nur in Berlin, sondern wohl in allen europäischen Hauptstädten gespannt beobachtet. Immerhin war es schon sehr ungewöhnlich, dass das BVerfG im März dem Bundespräsidenten per Hängebeschluss verboten hatte, das deutsche Gesetz zum EU-Wiederaufbaufonds zu unterzeichnen.
Damit stand die deutsche Beteiligung an dem schuldenfinanzierten 750-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket "Next Generation EU" auf der Kippe, mit dem die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie eingedämmt werden sollten. Das erinnerte viele an das dramatische Urteil des BVerfG zum Anleihenkauf der Europäischen Zentralbank (EZB), mit dem der Zweite Senat im Mai 2020 (noch mit dem damaligen BVerfG-Präsidenten Andreas Voßkuhle) nicht nur der EZB, sondern auch dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgeworfen hatte, seine Kompetenz zu überschreiten.
Diesmal ging es jedoch anders aus: Der Zweite Senat (nun mit Vizepräsidentin Doris König als Vorsitzender) lehnte den Eilantrag des Volkswirtschaftsprofessors und AfD-Gründers Bernd Lucke (inzwischen bei der Kleinpartei "Konservativ-liberale Reformer") in vollem Umfang ab (Beschl. v. 15.04.2021, Az.: 2 BvR 547/21). Die Verfassungsidentität Deutschlands sei nicht ernsthaft gefährdet. Selbst im denkbar schlechtesten Fall, wenn Deutschland die EU-Schulden ganz allein zurückzahlen müsste, wäre dies eine verkraftbare jährliche Summe von "rund 21 Milliarden Euro", so der Zweite Senat.
Für die EU und den Bund ging es also glimpflich aus und im noch ausstehenden Hauptsacheverfahren dürften keine großen Überraschungen zu erwarten sein.
Nebenbei hat sich auch der große EZB-Streit erledigt: Zwei Vollstreckungsanträge zum Urteil des Zweiten Senats blieben ohne Erfolg, die Vorgaben des Urteils seien umgesetzt, befand Karlsruhe. Die EU-Kommission stellte mittlerweile auch das Vertragsverletzungsverfahren ein, dass sie wegen des EZB-Urteils im Juni dieses Jahres eingeleitet hatte.
Sollte man kennen: Sechs wichtige BVerfG-Entscheidungen 2021 . In: Legal Tribune Online, 22.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47019/ (abgerufen am: 27.03.2024 )
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