Am 7. Oktober wurde von allen Fraktionen eine Vorlage beim Bundestag eingebracht, um die Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht neu zu regeln. Danach soll in Zukunft das Bundestagsplenum neue Richter für Karlsruhe wählen und nicht mehr wie bisher ein parlamentarischer Ausschuss. Damit wird eine verfassungswidrige Praxis abgeschafft, ohne in der Sache viel zu ändern, meint Sebastian Roßner.
Seit Beginn seines Bestehens war das Bundesverfassungsgericht nicht verfassungsgemäß besetzt, denn der Bundestag hat über sechzig Jahre hinweg eine Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts nach einer Vorschrift gewählt, die mit dem Grundgesetz nicht übereinstimmt. Art. 94 Grundgesetz (GG) sieht nämlich vor, dass Bundestag und Bundesrat je acht der insgesamt 16 Verfassungsrichter wählen.
Während der Bundesrat dieser Aufgabe schon immer nachgekommen ist, hat sie der Bundestag gemäß § 6 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auf einen zwölf Köpfe starken Ausschuss übertragen, der nicht nur geeignete Kandidaten sucht und das Verfahren vorbereitet, sondern auch selbst die Wahl vornimmt. In der juristischen Literatur, auch vom gegenwärtigen Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, ist diese Vorschrift kritisiert worden mit dem Argument, "Bundestag" meine im Sprachgebrauch des Grundgesetzes das Plenum des Parlaments. Eine solche, unmittelbar durch die Verfassung übertragene Aufgabe könne der Bundestag zwar ausgestalten, etwa indem er eine Kommission einsetzt, die die möglichen Bewerber sichtet. Die eigentliche Wahl aber könne das Parlament auch durch Gesetz nicht an einen Ausschuss delegieren.
Senate des BVerfG bisher zur Hälfte falsch besetzt
Daneben entspricht die Wahl der Verfassungsrichter durch einen Ausschuss verfassungspolitisch einfach nicht der großen Bedeutung, die dieses Richteramt hat, wie auch der Vergleich zur Wahl auf andere hohe Posten bestätigt, etwa jener des Wehrbeauftragten oder des Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofs, die gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 Wehrbeauftragtengesetz, § 5 Abs. 1 Bundesrechnungshofgesetz jeweils durch den Bundestag erfolgt.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich allerdings noch 2012 in einem Verfahren, in dem die Besetzung des Gerichts gerügt wurde, geweigert festzustellen, dass § 6 BVerfGG verfassungswidrig sei (Beschl. v. 19.06.2012, Az. 2 BvC 2/10). Das war inhaltlich fragwürdig, von den Folgen der Entscheidung her gedacht aber nachvollziehbar. Wie hätte man praktisch mit der Situation umgehen sollen, dass beide Senate des Verfassungsgerichts je zur Hälfte falsch besetzt sind? Zudem hätte eine solche Entscheidung die Senate gespalten in die verfassungsgemäß gewählten "Bundesratsrichter" und die verfassungswidrig in ihr Amt gelangten "Bundestagsrichter".
Immerhin brachte der Beschluss den gesetzgeberischen Stein zu einem Zeitpunkt ins Rollen, als eigentlich schon niemand mehr damit rechnete. Der Bundestag begann, sich darüber Gedanken zu machen, wie er dem Gericht und sich selbst aus der verfassungsrechtlichen und -politischen Klemme helfen könnte. Die Rolle des Eisbrechers übernahm Parlamentspräsident Lammert, der in einem Beitrag in der FAZ skizzierte, wie eine angemessene Regelung aussehen könnte.
Reform wird fast mit Sicherheit Gesetz werden
Das Projekt "Verfassungsgemäße Verfassungsrichterwahlen" überdauerte sogar die Bundestagswahlen 2013 und steht jetzt kurz vor seiner Vollendung. Wenn der Entwurf, den die in seltener Eintracht vereinten Bundestagsfraktionen vorgelegt haben, Gesetz wird - und daran besteht kaum Zweifel -, dann werden die Richter in Karlsruhe demnächst direkt vom Bundestagsplenum gewählt.
Für eine Wahl wird die Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Mehrheit aller Mitglieder des Bundestages erforderlich sein. Dies korrespondiert mit der noch geltenden Fassung von § 6 Abs. 5 BVerfGG, wonach die Wahl im Ausschuss mit einer Mehrheit von mindestens acht Stimmen erfolgt. Durch die hohe Hürde soll sichergestellt werden, dass jeder Richter von einer breiten Mehrheit legitimiert ist. Praktische Folge ist, dass Kandidaturen von Personen mit knapp mehrheitsfähigen, aber heftig umstrittenen Ansichten auch in Zukunft wenig Aussicht auf Erfolg haben.
Um die späteren Richter davor zu bewahren, dass sie zu stark mit bestimmten politischen Kräften und Inhalten identifiziert werden und ihre Autorität Schaden nimmt, erfolgt die Wahl geheim und ohne vorherige Aussprache. Auch wenn geheime Wahlen durch die Vertreter des Volkes in demokratischer Hinsicht eigentlich ein bedenklicher Vorgang sind, scheint dies für die Richter am Bundesverfassungsgericht ein angemessener Modus zu sein.
In der Sache entscheidet weiter der Ausschuss
Obwohl das Plenum zukünftig die eigentliche Wahl übernehmen wird, soll der zwölfköpfige Wahlausschuss erhalten bleiben. Faktisch bleibt er für die Zusammensetzung des Karlsruher Gerichts fast so bedeutend, wie vor der Reform. Er wird zwar die Richter nicht mehr durch Wahl legitimieren, sie aber weiterhin aussuchen, denn das Plenum wird ausschließlich auf Vorschlag des Ausschusses wählen. Ein Wahlvorschlag erfordert dabei eine Zweidrittelmehrheit im Ausschuss. Da dieser die politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundestagsplenum abbildet, spricht viel dafür, dass die vom Ausschuss präsentierten Kandidaten auch das Plazet des Plenums erhalten.
Wie bisher bleiben alle Vorgänge innerhalb des Wahlausschusses vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, da die Mitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, § 6 Abs. 4 BVerfGG. Das ist konsequent, denn andernfalls würde der Schutz der Kandidaten durch das geheime Wahlprozedere im Plenum entwertet. Damit verbunden ist aber auch, dass die Öffentlichkeit mangels öffentlicher Personaldiskussion zum Zeitpunkt der Wahl mit dem ein oder anderen der Vorgeschlagenen wie bisher nicht allzu viel verbinden kann.
Insgesamt wird durch die geplante Neuregelung der Legitimationsspender ausgetauscht: Während früher der Wahlausschuss wählte, wird dies zukünftig der gesamte Bundestag tun, so wie es das Grundgesetz schon lange fordert. Die Leitlinien der Personalauswahl für das höchste deutsche Gericht werden sich aber nicht ändern, was angesichts der insgesamt guten Erfahrungen eine positive Nachricht ist.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Reform des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13497 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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